zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Zwei von Millionen von Sternen

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

1

Mit einem lauten Krachen landete Mike auf der Judomatte. Vonwegen sanfter Weg, schoss es ihm durch den Kopf, als ihm kurz die Luft weg blieb. Im nächsten Moment fand er sich auch schon in einem Haltegriff wieder. Der Schweiß brach ihm noch heftiger aus. Die Sommerhitze allein machte ihm schon sehr zu schaffen, aber jetzt kam auch noch Wut dazu. Wut über sich selbst.

"Osae-Komi", rief der Kampfrichter.

Sven lag fast mit seinem ganzen Gewicht auf Mike, hatte seinen rechten Arm um Mikes Hals geschlungen und seine Hand in dessen Judogi gekrallt. Mike bekam kaum Luft, Svens Ausdünstungen raubten ihm den Atem.

"Das war wohl wieder nichts, du Pfeife", raunte ihm Sven gehässig ins Ohr.

Mike liebte den Bodenkampf, aber auf Sven konnte er dabei gut verzichten.

Mit der linken Hand hatte Sven Mikes rechten Arm gepackt, so dass Mike nur noch der linke Arm und die Beine für Befreiungsversuche blieben. Aber eng an ihn geduckt bot Sven keinen Angriffspunkt. Nirgendwo konnte sich Mike einhaken, um sich Luft zu verschaffen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Mikes Konzentration war heute nicht sehr ausgeprägt. Es war zwar nur ein Übungskampf, aber er hatte sich auch schon geschickter angestellt. Klar, gegen Sven hatte er noch nie gewonnen und nur wenige Male Punkte holen können, aber so schnell war er selten zu Boden gegangen. Er hatte den Hüftwurf kommen sehen, aber viel zu spät zum Kontern angesetzt.

Mit aller Kraft und Geschicklichkeit versuchte er aus dem Haltegriff zu entkommen, aber sein Gegner hatte ordentlich zugepackt und ließ ihm keinen unnötigen Spielraum. Svens Krafttraining zahlte sich aus, wie Mike neidvoll zugeben musste.

Im Nu waren die 30 Sekunden Haltezeit vorbei.

"Matte", hörte er den Kampfrichter rufen. Das war's also. Wieder mal gegen Sven verloren.

Sie lösten sich voneinander, standen auf und ordneten ihre Kleidung, wie es vorgeschrieben war.

"Soremade", beendete ihr Trainer und Kampfrichter den Kampf.

Während Mike versuchte, seine Enttäuschung unter Kontrolle zu bringen, zeigte Sven sein überhebliches Siegerlächeln, was ihm einen scharfen Blick des Kampfrichters einbrachte. Wie üblich störte Sven das wenig. Er hielt sich für etwas Besseres. Daraus machte er keinen Hehl. Und da er auf Wettkämpfen Punkte für den Verein holte, ließ man ihm einiges durchgehen.

"Rei", wurden sie zur rituellen Verbeugung aufgefordert. Auch hier bemühte sich Mike um die Ehrerbietung, die der Kodex der Judoka vorschrieb, was ihm bei Svens herablassender Art mit jedem Mal schwerer fiel.

Sven und Mike gingen zu ihren Plätzen am Rande der Kampffläche zurück.

Fast vierzig Judokas kamen regelmäßig zu diesem Training in den Klub. In nach Gürtelfarben absteigender Reihenfolge knieten sie in einer Reihe um die vierzehn mal vierzehn Meter umfassende Kampffläche, die die Hälfte der Trainingsfläche ausmachte. Vom Schankraum, der durch eine breite Fensterfront von der Trainingshalle getrennt war, schauten Besucher und Eltern jüngerer Judoka dem Treiben in der Halle zu.

Da Mike bereits den zweiten Kyu-Grad erreicht hatte und damit einen blauen Gürtel tragen durfte, war sein Platz schon ziemlich weit vorne. Aufmunternde Blicke begleiteten Mike auf dem kurzen Weg dorthin. Er hatte deutlich mehr Sympathien im Verein als Sven, der nicht nur Judo, sondern auch Karate und andere Kampfsportarten wie ein Besessener trainierte. Er kannte Sven schon seit dem Kindergarten als Rüpel. Sie hatten sich nie etwas zu sagen gehabt. Aber was Sven über ihn dachte, war Mike auch ziemlich gleichgültig. Ihn interessierte im Moment nur, was der Neue von ihm hielt. Er wagte es jedoch nicht, ihn zu beobachten. Der Neue war der Grund für die Konzentrationsprobleme.

Erschöpft ließ sich Mike nieder. Völlig verschwitzt freute er sich schon auf die Dusche nach dem Training. Es war heute schon verdammt anstrengend gewesen. Als Vorbereitung auf die kommenden Wettkämpfe hatte ihr Trainer an diesem Tag mit verstärkten Konditions- und Kraftübungen begonnen. Die Übungskämpfe würden den heutigen Abschluss bilden.

Für den nächsten Kampf machten sich Udo und der Neue kampfbereit. Alle waren gespannt, wie er sich schlagen würde. Der Trainer hatte zwar seinen Namen zu Beginn des Trainings genannt, aber Mike war nicht in der Lage gewesen, sich auf die Worte des Trainers zu konzentrieren. Mike hatte den Jungen gesehen und sich, ohne zu wissen, wie ihm geschah, in dessen strahlenden Augen verloren. Ein noch nie gekanntes Gefühl hatte sich in ihm breitgemacht. Sein Herz hatte angefangen heftig zu pochen. Erst als ihn sein bester Freund Robby mit spitzem Ellbogen angestoßen hatte, war er soweit zu sich gekommen, den offen stehenden Mund zu schließen. Von Robby kam nur ein "Oh, oh". Ein Teil seines Gehirns registrierte es. Beim obligatorischen Bier nach dem Training würde Robby sicherlich darauf herumreiten. Trotzdem konnte Mike seinen Blick nicht von dem Neuen abwenden.

Während des Trainings hatte sich für Mike keine Gelegenheit ergeben, mit dem Neuen zu reden. Da sie in unterschiedlichen Gewichtsklassen waren, machte es auch wenig Sinn, gemeinsam an Wettkampfwürfen zu arbeiten. Mike war etwas über einsachtzig groß und mit seinen siebzig Kilogramm Gewicht sehr zufrieden. Der Neue war etwa einen Kopf kleiner und wog entsprechend weniger. Aber es gab da ja noch die Technikübungen und die Bodenarbeit. Mike grinste innerlich.

"Ha-Jime", eröffnete ihr Trainer den Übungskampf.

Udo stürzte sich, wie immer, sofort voll in den Kampf, wartete erst gar nicht auf den Gegner und erlebte eine Überraschung. Geschickt nutzte der Neue den Schwung seines Angreifers und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre der Kampf vorüber gewesen, bevor er richtig angefangen hatte. Udo konnte dem Konter gerade noch entgehen. Dabei war Udo bereits Dan-Träger und war somit ein Meister, während der Neue genauso wie Mike zu den Schülern gehörte. Der Neue war sogar zwei Grade unter Mike.

"Matte." Der Kampf wurde kurz unterbrochen, damit die beiden neu Stellung beziehen und ihre Kleidung ordnen konnten. Dem Neuen war die Jacke fast völlig ausgezogen worden. Leider trug der Neue ein T-Shirt unter der Kimonojacke, das ihm aber ein Stück weit aus der Hose gerutscht war und einen schönen durchtrainierten Bauch freigab. Unauffällig schaute Mike sich um, aber alle waren auf das Geschehen auf der Kampffläche konzentriert und niemand achtete auf ihn. Bis auf Robby natürlich. Was grinste er ihn so unverschämt an? Mike wurde es noch ein wenig heißer in seinem Judoanzug.

"Ha-Jime". Weiter ging es mit der nächsten Runde. Konzentriert packten sich Udo und der Neue jeweils am gegenüberliegenden Revers und Ärmel. Udo versuchte sich in verschiedenen Fußtechniken, aber der Neue war zu flink für seine Angriffe. Mike fieberte mit. Schon lange hatte er innerlich nicht mehr so Partei für eine Seite ergriffen. Hoffentlich gewann der Neue.

Udo öffnete eine Angriffsposition für den Neuen, die dieser bemerken musste. Er bot ihm die Möglichkeit für einen Schulterwurf, die der Neue prompt annahm. Udo bewahrten nur sein langjähriges Training und die Tatsache, dass er den Neuen zu diesem Wurf verführt hatte, davor, den Kampf zu verlieren. Mit unglaublicher Geschwindigkeit hatte sich der Neue eingedreht und fast schon den Wurf ausgeführt, als Udo den vorbereiteten Konter einsetzte und den Neuen sauber zu Fall brachte.

"Ippon." Ein voller Punkt, und damit der Sieg, war die Belohnung.

Mike hatte nur Augen für den Neuen, der verblüfft am Boden lag.

Udo half ihm auf die Beine und schlug ihm anerkennend auf die Schulter, was der Neue mit einem Lächeln quittierte. Mike schien erneut zu sehr geschwärmt zu haben, denn wieder erhielt er einen schmerzhaften Stoß in die Seite. Allmählich fürchtete Mike, blaue Flecken davonzutragen. Er gab Robby einen ebenso heftigen Stoß zurück, was dieser nur mit einem hämischen Grinsen quittierte.

Nachdem auch dieser Kampf beendet worden war, beschloss der Trainer die Übungsstunde und der Großteil der Judoka machte sich auf den Weg in die Umkleideräume und zu den Duschen.

"Ich glaube, wir haben da gleich ein interessantes Thema beim Bier", raunte Robby Mike im Vorbeigehen zu.

Sieht ganz danach aus, dachte Mike. Sieht ganz danach aus.

2

Unter der Dusche fühlte sich Mike am wohlsten. Um ihn herum herrschte geschäftiges Treiben. Er grinste über seine eigenen Gedanken.

"Was gibt's zu grinsen?" wollte Robby wissen.

"Nichts Besonderes."

Seit Mike vierzehn geworden war, war ihm klar, dass er auf Jungen stand und mit Mädchen wohl nie etwas anfangen würde. Sein Judotraining hatte seitdem viel mehr Spaß gemacht. Der Gedanke an engen Körperkontakt, den diese Sportart nun einmal forderte, ließ ihn erschaudern. Er freute sich auf jede Übungsstunde. Die schwitzenden Körper erregten ihn.

Natürlich wusste niemand von seiner Neigung. Mike hatte keine Ahnung, was die anderen dazu sagen würden, wenn er sich outen würde. Nur Robby wusste davon. Ihm hatte er es erzählt. In Weinlaune hatten sie über ihre Gefühle gesprochen, nicht über ihre Gefühle zueinander – da war nichts als Freundschaft – über Gefühle an sich. Und da war es Mike herausgerutscht.

Mike seifte sich ein, während er die nackten Körper um ihn herum verstohlen betrachtete. Der Neue war leider nicht dabei. Vielleicht wohnte er in der Nähe und hatte keine Lust auf die Massendusche. Es gab einige, die lieber verschwitzt nach Hause gingen und sich dort duschten. Zumindest hoffte Mike, dass sie sich duschten.

Robby war kein bisschen erstaunt gewesen, als Mike ihm von seiner Neigung erzählt hatte. Er habe es geahnt, hatte er gemeint.

"Woher?" hatte ihn Mike verblüfft gefragt.

"War ja nicht zu übersehen. Wenn wir beide in 'ner Kneipe waren, hast du nie nach den Mädchen geschaut, sondern nur nach anderen Jungs. Und sobald noch jemand dabei war, den du kanntest, hast du versucht, entweder gar niemandem hinterherzuschaun oder du hast krampfhaft irgendwelche Kommentare über Mädchen von dir gegeben." Robby hatte anzüglich gegrinst. "War also ganz offensichtlich."

Mike war froh über ihre Freundschaft und dass sie nicht daran zerbrochen war. Ihre Freundschaft war sogar noch tiefer geworden. Robby hatte ihm seitdem einiges mehr anvertraut. Auch Dinge über seine Freundinnen und den Sex mit ihnen, die er lieber nicht gewusst hätte.

"Kommst du?" riss Robby ihn aus seinen Gedanken. Er stand schon an der Tür des Duschraums.

"Ja, bin gleich fertig."

Während er sich den Schaum vom Körper spülte, dachte Mike erneut an den Neuen, dessen Namen Robby hoffentlich noch wusste. Ein Anflug von Ärger durchzog seine Gedanken. Wie kann man so dämlich sein und den Namen nicht mitbekommen. Aber der Ärger verflog im selben Augenblick, als er sich die Augen des Neuen in Erinnerung rief.

Es wurde Zeit, dass er die Dusche verließ, bevor sich sein Blut in der falschen Körperregion sammelte. Diese Peinlichkeit wollte sich Mike doch gerne ersparen. Nie war das bisher passiert. Immer hatte er sich unter Kontrolle gehabt. Es war auch noch nie eine interessante Partie dabei gewesen, wie seine Mutter es gerne ausdrückte, wenn sie ihn mal wieder verkuppeln wollte.

Schnell verließ Mike die Dusche und zog sich an. Robby war bereits vorgegangen.

3

"Zwei Radler, bitte."

Robby bestellte ihr Lieblingsgetränk an der Theke und nahm die vollen Gläser mit zu ihrem Stammplatz. Nur wenige waren an diesem Abend noch im Schankraum. Im Fernseher hinter der Theke lief MTV und sorgte für ein wenig Geräuschkulisse. Das, was Robby mit Mike bereden wollte, war, wie so oft, nicht für andere Ohren bestimmt.

In der Trainingshalle begann gerade das Erwachsenentraining. Mit ihren siebzehn Jahren mussten sich Robby und Mike allmählich überlegen, ob sie nicht in diese Trainingsgruppe wechseln wollten. Bisher hatten sie die Entscheidung aufgeschoben. Die heutige Entwicklung würde die Entscheidung nicht gerade beschleunigen, befürchtete Robby. Ihm waren Mikes Blicke nicht entgangen. Mikes Blick schien sich regelrecht an Timo festgefressen zu haben. Bei ihren Kneipentouren hatte Mike sich immer nur umgeschaut, aber kein echtes Interesse gezeigt. Und solange Mike sich nicht outete, würde er – nach Robbys Meinung – auch niemanden finden. Aber das schien nun obsolet zu sein.

Robby grinste, als er Mike hereinkommen sah. Ordentlich gekämmt und gefönt - mit akkuratem Seitenscheitel – wie ein Kommunionkind, dachte Robby wohl zum hundertsten Mal. Vom weißen Polohemd lugte nur der obere Teil des Kragens unter dem dunkelblauen Sweater hervor. Brave Bundfaltenjeans und dunkle Schuhe vervollkommneten das Bild. Robby trug einfach nur T-Shirt und Bermuda-Shorts. Es war ja schließlich Sommer.

Alle Versuche Robbys, an Mikes Kleidungsstil etwas zu ändern, waren bisher gescheitert. Nicht einmal Mikes Mutter, die im Grunde dafür verantwortlich war, hatte nichts daran rütteln können. Mike liebte es, ordentlich auszusehen, wie er das ausdrückte. Und, wenn Robby ehrlich war, Mike sah wirklich gut in seinen Klamotten aus.

"Grinst du mich ab jetzt nur noch anzüglich an?" Mike ließ sich auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches nieder und trank einen großen Schluck aus seinem Glas. "Das tat gut."

Robby grinste ihn weiter an.

"Nun sag schon, was du unbedingt sagen musst", forderte Mike ihn schließlich auf, wobei ihm abwechselnd heiß und kalt wurde.

"Dich hat es ganz schön erwischt, richtig?"

Mike schaute eine Weile in die Trainingshalle, spürte Robbys Blick unverwandt auf sich ruhen. Er wurde ernst.

"Ich glaub' schon." Mikes Antwort war leise. Er schaute Robby an, der mittlerweile zu grinsen aufgehört hatte. "So etwas habe ich noch nie gespürt." Er fuhr sich mit der Hand gedankenverloren über Brust und Bauch.

Sie schwiegen gemeinsam und beobachteten das Training in der Halle.

"Weißt du noch den Namen von dem Neuen?" brach Mike das Schweigen. Verlegenheit schwang in seiner Stimme mit. "Irgendwie habe ich das vorhin nicht mitbekommen." Ein zartes Rot legte sich über Mikes Gesicht.

Robby musste wieder grinsen. Verschwörerisch beugte er sich etwas näher

"Dein Angebeteter heißt Timo Arndt, ist sechzehn Jahre alt und ist erst kürzlich mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester hier in die Gegend gezogen. Er wohnt nur ein paar Straßen von hier entfernt. Er geht leider nicht auf unsere Schule, ist aber in derselben Klassenstufe wie wir. Seine Hobbys, außer Judo, sind Inlineskaten, Musik hören und lesen. Er war wohl ein ziemlich guter Wettkampfsportler in seiner Heimatstadt. Ach ja, Timo will bald die Prüfung für den grünen Gürtel machen, muss aber noch einiges an Techniken lernen."

"Wow. Das habe ich alles bei der Vorstellung vorhin verpasst?"

Robby amüsierte sich königlich über Mikes verdatterten Gesichtsausdruck.

"Nein, natürlich nicht." Eigentlich wollte Robby seinen Wissensvorsprung schon ein wenig mehr ausnutzen. Normalerweise war Mike derjenige, der Robby auf die Sprünge helfen musste. Aber der unglückliche Gesichtsausdruck seines Freundes rührte ihn an und er beschloss, ihn nicht auf die Folter zu spannen. "Ich habe Timo gefragt."

Als Mike ihn nur fragend ansah, fuhr Robby fort: "Wenn du Timo nicht andauernd angestarrt hättest – was, wie ich finde, ziemlich auffällig war – hättest du bemerkt, dass ich mit ihm einige Zeit trainiert habe. Und dabei habe ich ihn für dich ein wenig ausgefragt."

"Oh", war der klägliche Kommentar.

"Ganz deiner Meinung."

"Bin ich ihm aufgefallen?"

Robby hatte mit dieser Frage gerechnet und beschloss, Mike ein wenig zu erschrecken.

"Ich habe ihm erzählt, dass du mein bester Freund bist und dass du noch zu haben bist."

Mike wurde blass. Er sank regelrecht auf seinem Stuhl zusammen.

"Das hast du doch nicht wirklich gesagt, oder?" Mike sah Robby geradezu flehend an.

Robby senkte den Blick.

"Na ja." Das war wohl doch ein wenig zu viel für Mike gewesen. Für den Armen war das schließlich ein ziemlich heikles Thema. "Ich habe ihm eigentlich nur gesagt, dass wir die besten Freunde sind. Und dass wir viel miteinander herumhängen und so. Und dass du dich ziemlich gut mit den Judotechniken auskennst und beim Kindertraining hilfst." Robby kam tatsächlich ins Stottern.

Als er wieder aufblickte, sah er, dass sich Mikes Gesichtsfarbe wieder normalisiert hatte.

"Sorry. Wollte dich nicht so sehr erschrecken."

"Schon okay." Mike schien beruhigt. "Danke."

"Nichts zu danken." Robby war sehr zufrieden mit sich. Endlich hatte er sich einmal bei Mike revanchieren können. Wenn auch auf gänzlich anderem Gebiet als mit Schulwissen.

Lediglich eine Beobachtung bereitete ihm Unbehagen. Es war Robby so erschienen, als hätte Sven Mikes Starren ebenfalls bemerkt. Svens seltsamen Gesichtsaudruck ließ er Mike gegenüber unerwähnt. Er war sich im Nachhinein auch gar nicht mehr sicher, ob es tatsächlich so gewesen war.

4

Voller Spannung hatte Mike das nächste Training herbeigesehnt. Da er dreimal in der Woche zum Training ging, lagen also immer nur wenige Tage dazwischen. Aber diese zwei Tage waren quälend langsam verstrichen. Mike konnte nicht einmal sicher sein, dass Timo überhaupt da sein würde. Vielleicht trainierte er nur zweimal pro Woche oder probierte das Training bei einem anderen Verein aus. Oder... Er unterbrach seine Gedanken. Mach dich nicht verrückt, schalt er sich. Du wirst es gleich sehen.

Was ihm außerdem zu schaffen machte, war die Frage, ob Timo seine Gefühle erwidern würde. Ob er sie erwidern konnte. Mike hatte keinerlei Erfahrung mit – wie sagte seine Mutter so gerne - mit dem ,Abenteuer Liebe‘. In den letzten beiden Tagen kam ihm der Ausdruck lange nicht mehr so kitschig vor.

Im Umkleideraum war Timo nicht. Vielleicht kam er direkt zum Training. Mike hatte feuchte Hände. Sein Bauch kribbelte. Vergeblich versuchte Mike sich zu entspannen. Selbst Robbys dumme Sprüche, die ihn im Allgemeinen immer ablenken konnten, halfen kaum. Robby ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Wie immer war Robby in Nullkommanichts fertig und eilte schon voraus in die Trainingshalle.

Mike hatte seinen Judogi angezogen und packte gerade seine Straßenklamotten in die Sporttasche, als er Timos Stimme hinter sich hörte.

"Hallo Mike."

Mit flatterndem Herzen drehte sich Mike um, sein Herz schien kurzzeitig auszusetzen. Mit strahlenden Augen schaute ihn Timo offen an. Sein Blick schien Mikes Seele zu berühren. Seine Knie wurden weich.

Timo hatte die Hand ausgestreckt und wartete offensichtlich darauf, dass Mike sie ergriff, aber in dessen Hirn schien sich die Leere des Alls aufzutun. Stunden schienen zu vergehen, bis Mike seine guten Manieren wiederfand und die Hand ergriff. Die Berührung ließ ihn erschauern. Alle Härchen an seinem Körper schienen sich aufzurichten. Wohlige Schauer liefen durch seinen Körper.

"Äh, hallo Timo", brachte Mike schließlich zustande.

Noch immer schauten sie sich in die Augen. Mike konnte und wollte den Blick nicht abwenden.

"Robby hat mir im letzten Training eine ganze Menge über dich erzählt." Ein schiefes Grinsen begleitete seine Worte. "Ist ja ein ganz schönes Plappermaul, wie mir scheint. Aber seitdem habe ich das Gefühl, dass wir uns bereits eine Ewigkeit kennen."

Das Blut rauschte in Mikes Ohren. Sein Kopf musste glühen. Timos Worte kamen aus weiter Ferne. Er begriff kaum ihren Sinn. Er lauschte auf den Klang der Stimme.

"Oh." Klasse Antwort, Mike. Du übertriffst dich in deiner Eloquenz heute wieder selbst.

"Wollen wir nicht ins Training gehen?"

"Äh, doch, klar." Allmählich kam Mike wieder zu sich, regte sich aber nicht.

"Gibst du mir meine Hand wieder?"

Siedendheiß durchfuhr es Mike. Verlegen ließ er die Hand los. Aber noch immer schienen ihre Blicke ineinander verhakt.

"Los, los, los. Nicht trödeln", beendete der Trainer diesen besonderen Augenblick mit seiner üblichen Aufforderung an alle im Umkleideraum. Er tat dies vor jedem Training, ohne bestimmten Adressaten und ohne nachzuschauen, ob überhaupt noch jemand im Umkleideraum war.

Zum Glück, schoss es Mike durch den Kopf.

Verlegen senkten beide den Blick.

"Schön, dich kennen zu lernen", fügte Timo noch leise hinzu, während er seine Sporttasche nahm und zur Tür ging.

"Finde ich auch", antwortete Mike verblüfft und etwas stotternd. Er nahm seine Sachen und nutzte die Gelegenheit, sich kurz zu sammeln. Was war da eben passiert? fragte er sich selbst. Ohne Antwort darauf folgte er Timo in die Trainingshalle.

5

Das Training war unspektakulär, aber effektiv, fand Timo. Es war nichts dabei, was er nicht schon kannte. Die Leute schienen nur um einiges freundlicher hier als in der Stadt, aus der er kam. Das hatte er gleich feststellen dürfen. Mal abgesehen von Sven, der mit ihm in dieselbe Klasse ging. Sven hatte ihm gleich klar gemacht, wer in der Klasse das Sagen hatte. Damit keine Missverständnisse aufkämen, hatte er gemeint. Wie es schien, kuschten die meisten seiner neuen Klassenkameraden oder hatten sich anderweitig mit der Situation arrangiert. Timo hatte sich vorgenommen, Sven einfach zu ignorieren. Dass Sven ausgerechnet in diesen Judo-Verein ging, war natürlich weniger schön. Aber zum einen hatte dieser Verein den besten Ruf und war sehr erfolgreich und zum anderen war da jetzt Mike.

Damit wandte er sich eindeutig erfreulicheren Gedanken zu. Mike war hinreißend. Er seufzte innerlich. Durfte er sich Hoffnungen machen? Die Begegnung im Umkleideraum war vielversprechend gewesen. Er lächelte innerlich, als er daran dachte, wie lange Mike seine Hand gehalten hatte. Die paar Sekunden, versuchte er seinen Eindruck zu relativieren. Aber immerhin, erwiderte seine innere Stimme, ein paar Sekunden zu viel.

Vielleicht sollte er Robby noch ein wenig aushorchen. Er hatte es ihm beim letzten Training ganz schön leicht gemacht, etwas über Mike zu erfahren.

Als Timo den anderen Judokas vorgestellt worden war, war ihm Mike gleich ins Auge gefallen. Er schmunzelte innerlich. So, wie der ihn angestarrt hatte, war das kaum zu übersehen gewesen. Nur hatte sich Timo aus offensichtlichen Gründen nicht getraut, Mikes Blick gleich zu begegnen. Ebenfalls aufgefallen war ihm, dass Robby Mike angerempelt hatte, um diesen aus der Erstarrung zu reißen. Daher war ihm Robby als der richtige erschienen, um etwas über Mike zu erfahren. Er war goldrichtig damit gelegen. Robby hatte ganz schön aus dem Nähkästchen geplaudert, doch auf eine ganz liebe Art. Timo beneidete Mike ein wenig um diese Freundschaft.

Nach den Aufwärmübungen und einem leichten Konditionstraining ließ der Trainer Pärchen bilden. Jeweils ein höherer Grad sollte einen niedrigeren Grad unter seine Fittiche nehmen, um grundlegende Wurftechniken für die Prüfungen einzuüben, die in zwei Wochen stattfinden sollten. Diesmal standen Fußtechniken auf dem Übungsplan. Auch Timo wollte sich prüfen lassen, hatte aber noch einiges aufzuholen.

Timo sorgte dafür, dass sich Robby seiner annahm. Da ihn noch keiner kannte, war das nicht weiter schwierig. Mike war schon von mehreren anderen umringt, die unbedingt von ihm unterrichtet werden wollten. Timo hatte den gespielt verzweifelten Blick durchaus gesehen, den Mike Robby zuwarf.

Sie begannen, Schrittfolgen zu üben.

"Na, hast du schon mit Mike gesprochen?" wollte Robby unvermittelt wissen. Er korrigierte währenddessen bei Timo falsche Bewegungsabläufe.

"Ja, ich habe ihn vorhin in der Umkleide getroffen."

"Und?" Auf was wollte Robby hinaus?

"Was ,und‘? Was meinst du?"

"Ach nichts", lenkte Robby ab. Bevor sich Timo versah und weiter bohren konnte, hatte Robby den Wurf durchgezogen und ihn auf die Matte geschickt.

"Hey ihr zwei", rief der Trainer. "Von Ausführen war nicht die Rede gewesen. Übt gefälligst die Bewegungsabläufe trocken." Und an alle gewandt: "Wenn ich das noch einmal sehe, egal bei wem, dürfen alle ein paar Extrarunden laufen. Damit das klar ist."

Robby hatte inzwischen Timo wieder auf die Beine geholfen.

"Dafür revanchiere ich mich", raunte Timo Robby zu und grinste. Aber ab jetzt wollte er die Fragen stellen. Und da Robby bisher direkt war, wollte er diese Methode ebenfalls an ihm ausprobieren.

"Hat Mike eigentlich eine Freundin?" Na toll. Mit einer riesengroßen Tür ins Haus gefallen.

Robby hielt mitten in der Bewegung inne und starrte Timo an. Sein Blick zuckte zu Mike, der auf der anderen Seite der Trainingsfläche ins Erklären vertieft war, und wieder zu Timo zurück. Timo schien es, als überlege Robby, welche Antwort er geben solle oder, besser gesagt, dürfe. War das nun gut oder schlecht?

"Ich glaube, das fragst du ihn besser selbst", rang sich Robby zu einer Antwort durch.

Das konnte alles oder nichts bedeuten. Aber im Lichte der kurzen Begegnung im Umkleideraum... Timo schüttelte den Gedanken ab.

Schweigend übten sie eine Weile. Immer wieder führte Timo die einzelnen Bewegungen vor, aber irgendwie klappte es bei Timo nicht so richtig und Timo hatte den Verdacht, dass Robby seine Lernversuche sabotierte.

"So wird das bis zum Prüfungstermin nichts werden", beklagte sich Timo schließlich und Robby stimmte ihm sofort zu. Timo war sich sicher, dass Robby etwas ausheckte. Er brauchte nicht lange zu warten.

"Ich habe ein Idee", begann er. "Vielleicht sollte Mike dir das beibringen."

Also daher wehte der Wind. Er musste sich ein Grinsen verbeißen. Robby war in etwa so subtil wie ein Gebrauchtwagenhändler.

"Er hat mir vor der letzten Prüfung auch noch einiges beigebracht." Er hielt kurz inne, als er Timos fragendem Blick begegnete, dem er sogleich wieder auswich. "Na ja, eigentlich so ziemlich alles." Er ließ Timo los. "Warte mal 'ne Sekunde." Robby ging zu Mike, sprach kurz mit ihm. Statt Robby kam Mike zu Timo zurück.

"Du hast Probleme mit dem Wurf?" Mikes Stimme strafte seinen betont normalen Gesichtsausdruck Lügen. Sie schwankte leicht und Mike musste sich räuspern.

"Robby schwärmt von deinen Lehrkünsten", erklärte Timo leichthin. Auch er versuchte, sich gelassen zu geben.

Mike griff nach Timos Revers und Ärmel, forderte Timo damit auf, es ihm gleich zu tun und die Grundhaltung einzunehmen. Schritt für Schritt führte er die Wurftechnik vor und ließ sie Timo Schritt für Schritt wiederholen. Timo erinnerte sich an die Worte, die er im Umkleideraum gesagt hatte. Er hatte auch jetzt das Gefühl, Mike schon ewig zu kennen. Ihre Bewegungen waren in perfektem Gleichklang. Im Nu hatte Timo die Bewegungsabläufe gelernt.

"Ich weiß gar nicht, was Robby will", gab sich Mike erstaunt als das Training beendet war. "Du hast das doch wunderbar hingekriegt."

"Mit dir als Lehrer war das auch nicht schwer zu lernen", bedankte sich Timo. Sie gingen zu ihren Sporttaschen. Timo setzte sich neben seine Tasche auf eine Bank am Rand der Trainingsfläche, um seine Schuhe anzuziehen. Er hatte auch heute nicht vor, sich mit den anderen umzuziehen.

Mike stand vor ihm und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

"Hast du am Wochenende eigentlich schon etwas vor?" sprudelte es aus Mike heraus.

Timo sah überrascht auf. Leichte Röte überzog Mikes Gesicht, als ihm anscheinend klar wurde, wie man seine Worte auffassen konnte. Timos Herzschlag beschleunigte sich. Hoffentlich war es so gemeint, wie er hoffte, dass es gemeint war. Er stolperte über die eigenen Gedanken.

"Ich meine...", stotterte Mike. "Robby meinte, du hättest gerne ein paar Tipps von mir. Weil die Prüfung doch so bald ist..." Seine Stimme verklang.

Timo wagte nicht, seine Freude allzu offen zu zeigen. Angelegentlich beschäftigte er sich mit seinen Schuhen und zog sie umständlicher als nötig an.

"Das wäre echt lieb von dir."

"Wie wäre es morgen am Samstag? Oh Mist", unterbrach sich Mike sogleich. "Bei mir zuhause geht es aber nicht. Meine Mutter bekommt Besuch und damit ist das Wohnzimmer belegt. Das wäre das einzige Zimmer mit genügend Platz."

"Kein Problem. Komm einfach zu mir. Meine Eltern und meine kleine Schwester wollten morgen in den Zoo. Da hatte ich eh keine Lust, mitzugehen."

Timo holte einen Zettel und einen Stift aus der Tasche und schrieb seine Adresse samt Telefonnummer auf. Er gab den Zettel Mike, der ihn sofort in seiner Sporttasche verstaute.

Gemeinsam gingen sie aus der Trainingshalle und verabschiedeten sich vor der Ausgangstür, da Timo wieder direkt nach Hause gehen würde.

"Bis morgen dann."

"Bis morgen", erwiderte Mike.

Glücklich machte sich Timo auf den kurzen Heimweg. Das Schicksal schien es endlich gut mit ihm zu meinen. Bei Mike hatte er ein gutes Gefühl.

Lesemodus deaktivieren (?)