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Anders

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Langsam bewegte sich der Mauszeiger auf den 'Mail senden' Button zu. Mit der zitternden Rechten bewegte Anders die Maus, sie schien mit einem Male tausende von Tonnen zu wiegen.

Diese Email, wenn auch gerade mal zwei Zeilen lang, könnte sein Leben verändern. Könnte und würde es vermutlich auch. Er stand an einem Scheideweg. Entweder er blieb auf dem alten und sicheren Pfad der Selbstverleumdung oder er wagte einen Schritt nach vorne, einen Schritt, der ihm das 'soziale Genick' brechen könnte.

Nie war ihm etwas so schwer gefallen, wie dies hier:
Drei Wörter grinsten ihn höhnisch vom Bildschirm an.
Drei Wörter, die er mit zitternden Finger getippt hatte.
Drei Wörter, die sein Leben für immer und ewig ändern würden.
Drei Wörter: Ich liebe dich!

Ihm war schlecht, heiß und kalt zugleich und alles in ihm schien sich nach außen stülpen zu wollen, als der Mauszeiger sich auf den 'Mail senden' Button schob.
Anders atmete einmal tief durch, es war ein Seufzer zugleich, ein Abschied von dem 'normalen' Anders. Ab jetzt würde er immer 'der Schwule' heißen.
Er drückte die Maustaste herunter.
Die Email wurde versendet, noch blieb Zeit. Der rote 'Abbrechen' Knopf schien Anders mit einem Mal gar nicht so abschreckend. Noch konnte er das Ruder rumreißen, noch konnte er zurück zur Normalität. Er riss die Maus hoch, der Mauszeiger raste auf den 'Abbrechen' Button zu - doch zu spät.

- Email versand an Hendrik15@daffnet.de -

Die Buchstaben grinsten ihn böse an, sie schienen ihn verspotten zu wollen.
Tod und Hass, dachte Anders.
Jetzt war alles zu spät, es gab kein zurück mehr. Anders fühlte sich leer, ausgepumpt, völlig kraftlos.
Er stand auf, es schwindelte ihm und ein unangenehmes drückendes Gefühl kam vom Magen her hoch - er hastete zur Toilette und übergab sich.
Er hatte schlecht geschlafen - nein, eigentlich hatte er überhaupt nicht geschlafen. Lange hatte er wachgelegen und hatte sich alle möglichen Schreckensszenarien durch den Kopf gehen lassen.
Der Wecker schrillte laut und unharmonisch. Er stand auf, schlurfte die Treppe hinunter und ließ sich mit einem lauten Plumps auf einen Stuhl am Frühstückstisch fallen.
Seine Mutter sah ihn besorgt an. »Kind, du wirst doch nicht etwa krank.« Nein, er wurde nicht krank, er war es bereits. Er war ein Schwuler, ein Unnormaler, ein Unding, eine Spielerei der Evolution. Am liebsten hätte er das seiner Mutter ins Gesicht geschrien, doch ihm fehlte die Kraft. Er brachte nur ein kurzes und dafür um so aggressiveres 'Nein' heraus.

Seine Mutter schien sofort vor ihm zurückzuweichen. »Wir sind aber heute wohl gut gelaunt, wie?« - »WIR haben einfach keinen Bock auf deine Pseudo-Fröhlichkeit am frühen Morgen!«, fauchte Anders zurück. Seine Mutter zog sich nun vollkommen zurück, mit diesem jungen Mann war heute Morgen nicht gut Kirschen essen, man ging ihm besser aus dem Weg.
Die Schule war wie immer - jedenfalls tat sie so. Gruppen von jungen, fröhlich über das Wochenende quatschenden Teenagern standen hier und dort auf den Fluren verteilt. Alle taten wie immer, doch war es wie immer? Niemand schien zu bemerken, welcher innere Aufruhr in Anders herrschte.
Tanja und Steffie tuschelten hinter vorgehaltener Hand und warfen ihm verstohlene Blicke zu. Wussten sie etwa schon von der Email und machten sich jetzt über ihn lustig?
Und da war Hendrik, er nickte einmal kurz mit dem Kopf und verschwand eilig im Klassenraum. Anders folgte ihm. Er musste wissen, ob er die Email schon gelesen hatte, oder nicht. Doch Hendrik hatte keine Zeit mit ihm zu reden, als Anders ihn ansprach, schaute er nicht einmal auf und nuschelte nur etwas von: »Muss meine Hausaufgaben machen, stör mich nicht.«

Der Rest des Schultages war auch nicht besser. In Mathe versagte er selbst bei den einfachsten Aufgaben und wurde in Deutsch dazu verdammt, einen Aufsatz über den Sinn und Unsinn von Hausaufgaben zu schreiben, da er ein Gedicht nicht aufsagen konnte.
Und das Schlimmste war - in den Pausen schien Hendrik wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Toll, so sollte jeder Schultag sein, dachte sich Anders. Wenn er so weitermachen würde, würde er niemals den Abschluss schaffen.
Ein sichtlich entnervter Anders betrat die Wohnung. Schuhe und Jacke flogen in die Garderobenecke, gefolgt von einem Rucksack. Eiligst rannte er die Treppe hoch.
Von unten schallte ihm ein »Willst du nichts essen?« hinterher, das er mit einem kurzangebundenen »Nein« beantwortete. Dabei sprang seine Stimme gleich über drei Oktaven - oh, ist die Pubertät nicht schön? - Und zu allem Überfluss rutschte Anders auch noch auf der vorletzten Stufe aus und schlug sich den Ellenbogen an.
Ein lautes »Tod und Hass« lies die Wohnung erzittern.
»Verdammt, was ist der Scheißkasten heute wieder lahm ... nun mach schon ... schneller ... ohhh ...«
Der PC ließ sich von Anders wütenden Sprüchen und Schlägen keinesfalls dazu bewegen, schneller hochzufahren, stattdessen begrüßte er ihn mit einem fröhlich blauen Blue-Screen in Windows. Die ganze Welt schien sich gegen Anders verschworen zu haben und das tat er auch lauthals kund.
Seine Mutter hatte schon mehrfach um Ruhe gebeten, doch Anders war nicht in der Stimmung auf sie zu hören und so überhörte er sie einfach - etwas, das seine Mutter zumeist auf die Palme brachte aber sie kannte ihren Sohn gut genug um zu wissen, dass es jetzt keinen Sinn machte, mit ihm in irgend einer Weise ein Gespräch zu beginnen und so zog sie es vor, weitere ermahnende Worte zu unterlassen.

Der zweite Versuch den Rechner zu starten brachte einen kleinen Erfolg für Anders mit sich - Windows lief stabil.
Schnell ins Internet eingeloggt und Outlook geöffnet und ... »Sie haben 1 neue Mail« stand auf dem Bildschirm. War es die heiß erwartete Mail, die Anders Gewissheit bringen würde? Schnell klickte er sich durch das Menu.
Anders Herz schien sich selbständig gemacht zu haben und nun etwa auf halben Wege zwischen Schulter und Unterkiefer zu sein, jedenfalls fühlte es sich so an und außerdem hatte Anders wieder dieses seltsame flaue Gefühl im Magen.
Doch leider wurde Anders Hoffnung über eine Beendung der bangen Ungewissheit nicht erfüllt. Die Mail war von Steffie - betitelt mit dem Namen »Frage« und zu Anders großem Entsetzen eine Liebeserklärung!

Nein, nein, alles falsch. Wütend schlug Anders auf seine Tastatur ein: »Gott muss eine Frau sein!«, schoss es ihm durch den Kopf. Jetzt blieb nur noch eins, die ultimative Waffe eines 15jährigen gegen Kummer und Frust - Wichsen.
10 Minuten später musste Anders erkennen, dass es keine ultimative Waffe gibt.
Der nächste Schultag war noch schlimmer als der vorangegangene. Englisch, Deutsch, Physik und Mathe in einer Doppelstunde - schlimmer konnte es gar nicht werden. Außerdem war Hendrik nicht da und Anders kassierte einen Verweis, weil er die Deutsch-Strafarbeit nicht geschrieben hatte.
Steffie schielte ständig zu ihm rüber und versuchte dabei, möglichst unauffällig zu sein. Anders kam sich vor wie in einem schlechten Agentenfilm. Er hatte beschlossen, Steffie zu ignorieren - einfach nicht hinschauen und bloß nicht auf die Email eingehen, dann würde schon alles wieder besser werden - Anders hatte seine Rechnung nur nicht mit Tanja gemacht.

In der zweiten Pause kam sie auf ihn zu. Wutentbrannt starrte sie ihn mit flackernden Augen an und begann ihren Vortrag über seine Gefühllosigkeit Steffie gegenüber. Es wäre ja wohl einem Blinden mit Krückstock aufgefallen, dass er ihr aus dem Weg ginge und sie absichtlich übersehe. Ruhig hörte er es sich an. Inzwischen ging alles an ihm vorbei, zu sehr war er mit seinem Selbstmitleid beschäftig und den nagenden Zweifeln. »Und was sagst du nun dazu, Anders?«
Wollte sie nun auch noch eine Erklärung von ihm, wo er doch selbst nicht wusste, was er hier tat und wie er reagieren sollte? Nun, sie sollte ihre Erklärung haben:
»Steffie interessiert mich nicht.«

Tanjas Blick versteinerte sich. »Dafür macht dir ja auch keiner einen Vorwurf, wenn du nicht auf Steffie stehst, aber du könntest ihr das wenigstens ein bisschen freundlicher sagen, als sie einfach zu ignorieren. So geht man nicht mit Frauen um, aber das musst du wohl noch lernen.« Sie verstand nicht, was er sagen wollte.
Nach der Schule schlich Anders nach Hause. Er wollte einfach niemanden sehen und so nahm er einen großen Umweg in Kauf, um bloß niemanden zu begegnen, der ihn in ein Gespräch verwickeln könnte und so kam er mit großer Verspätung zu Hause an.
Seine Mutter sah ihn mit mütterlicher Sorge an. »Du bist aber spät, was ist los?«
Anders brummelte nur etwas vor sich hin, dass sie nicht verstand. »Übrigens, Hendrik hat gerade angerufen. Er hat wohl die Grippe und du sollst ihn zurückrufen, es wäre wichtig.« Anders blieb wie angewurzelt stehen ...


ENDE

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