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Löwenherz und Hasenpfote

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Inhaltsverzeichnis

1.

Die Regentropfen liefen langsam die Scheibe hinunter. Lucas beobachtete sie, wie sie vom Fahrtwind langsam nach hinten gedrückt wurden, beobachtete, wie sie lange Bahnen über die Scheibe zogen und wie sich diese Bahnen begegneten und ineinander aufgingen. Das gleichmäßige Rattern des Zuges nahm er längst nicht mehr wahr. Die Bahn der Regentropfen nahm sein ganzes Denken ein - alles andere lies er außen vor, nichts bedeutete ihm in diesem Moment etwas.

»Lucas, hörst du mir überhaupt zu?«

Die Stimme, die ihn in diesen Moment aus seinen Gedanken riss, gehörte Annika, seiner besten Freundin.

»Häh?«

Nur zu ungern löste sich Lucas aus seinem tranceartigen Zustand. An Tagen wie diesem genoss er den zeitlosen Zustand der Gedankenlosigkeit und entfloh dem grauen Allerlei.

»Du warst mal wieder ganz weggetreten.«

Annika lächelte ihn dabei an.
Viele Menschen hielten Lucas für seltsam, weil er von Zeit zu Zeit in vollkommene Apathie verfiel und es ihm scheinbar gefiel. Annika hatte diesen Wesenszug an ihm direkt akzeptiert. Sie war sehr verständnisvoll und das liebte Lucas so an ihr. Sie hatte ihren eigenen Kopf und den ließ sie sich nicht verbieten. Genauso wenig wie sie sich ihren eigenen Stil verbieten lies, genauso wenig versuchte sie andere Menschen zu ändern.

»Tut mir leid. Was hattest du gesagt?«

»Nur, dass der Dreschner mit meiner Abrechnung vom letzten Freitag nicht zufrieden war. Ihm fehlten die Ausdrücke der Schreiber von Kolonne A und C. Dabei sollte er doch eigentlich wissen, dass ich immer noch kein PW für das System habe.«

Annika und Lucas arbeiteten zusammen in der Verwaltung der Logistikabteilung eines mittelgroßen Textilversandes in der Nähe von Halle in Sachsen Anhalt. Und Phillip Dreschner war der gefürchtete und verhasste Abteilungsleiter. Ein ausgesprochener schwieriger Mensch, es war sehr schwer ihm etwas recht zu machen und er fand auch in der besten Arbeit noch einen Fehler. Obendrein war er ein extremer Frauenhasser.
Das Arbeitsklima war nicht sehr gut im Betrieb, man stritt regelmäßig, aber bei einer Sache waren sie sich alle einig: Dreschner war ein übler Sklaventreiber. Überall konnte man sie über ihn schimpfen und zetern hören, nur, wenn er den Raum betrat, waren alle still. Annika hatte es einmal gewagt ihn zu kritisieren und seit dem lies er kein gutes Haar mehr an ihr.

Lucas nickte, er hatte am Vormittag mit einem halben Ohr zugehört, als Dreschner Annika den Kopf gewaschen hatte. Er war dabei mal wieder sehr ausfallend geworden.

»Du hättest ihm damals auch nicht sagen sollen, dass er unfähig ist, ein Team zu leiten.«

Annikas rechte Augenbraue wurde scharf nach oben gezogen.

»Aber ich hatte doch Recht.«

»Sicher, aber musstest du ihm das unbedingt ins Gesicht sagen? Es hätte dir eine Menge Ärger erspart, wenn du damals deine Klappe gehalten hättest.«

Annika begann schelmisch zu lächeln.

»Aber sein Gesicht war es doch wert, oder?«

Lucas lachte kurz auf.

»Ja, das war es. Er sah aus, als würde er plötzlich keine Luft mehr bekommen, wurde ganz rot im Gesicht und bekam keinen Ton mehr raus. Hätte man damals einen Fotoapparat gehabt - !«

Lucas lies den Rest im Raum stehen.
Annika lächelte nun noch breiter und ihre Augen funkelten voll von Lebensfreude.
Sie alberten noch ein wenig herum, während der Zug sich ratternd seinem Ziel näherte.

 

2.

Es war früh am Morgen, Lucas hatte nicht sonderlich gut geschlafen. Im Herbst fühlte er sich oft einsam und vergessen. Eigentlich hatte er gedacht, dass er schlagartig nicht mehr allein sein würde, sobald er sich geoutet hatte, aber sein outing war nun schon fast drei Jahre her und noch immer tat sich nichts in der Liebe.
Aber in einem Kaff wie diesem konnte das ja auch nichts werden, dachte sich Lucas. Innerlich wusste er aber genau, dass dies kaum mehr als eine faule Ausrede war. Die Wahrheit war, dass er sich fürchtete vor der Liebe.

Niedergeschlagen betrat er das Büro, das er mit Annika teilte.
Eine schrecklich fröhlich Stimme begrüßte ihn:

»Einen wunderschönen guten Morgen Lucas? Hast du gut geschlafen?«

Lucas atmete resigniert aus. Annika. Eine unverbesserliche Frohnatur und das schon am frühen Morgen, so was müsste verboten werden, dachte sich Lucas.

»Morgen Anni. Nein, nicht wirklich.«

»Nenn mich nicht ständig Anni, das lässt mich so alt wirken.«

Müde lächelte Lucas und schlich zunächst zur Kaffeemaschine um Kaffee aufzusetzen. Er musste schließlich seine Lebensgeister wecken.

»Ach Lucas, du weist das Neuste ja noch gar nicht.«

Lucas blickte von der leise glucksenden Kaffeemaschine auf und sah Annika fragend an.

»Wir bekommen einen Azubi zugewiesen und du rätst nie, wer es ist!«

Einen Moment dachte Lucas nach, machte dann aber nur ein ratloses Gesicht.

»Keine Ahnung. Adonis vielleicht?«

Annika lachte laut und albern auf.

»Das hättest du wohl gern!
Nein, es ist Phillip Dreschner.«

Unverständnis machte sich in Lucas Gesicht breit und je irritierter er dreinblickte, desto vergnügter schien Annika.

»Phillip Dreschner junior.
Der Sohn vom Chef.«

Langsam begann Lucas seine Irritation abzuschütteln.

»Dreschner hat einen Sohn?«

»Ja, hat mich auch gewundert. Hab ich ihm gar nicht zugetraut. Mir tut die arme Frau nur leid.«

Lucas nickte kurz und wand sich dann wieder der Kaffeemaschine zu, die inzwischen fertig war. Er nahm eine der Tassen vom Regal, auf ihr war: »Morgenstund hat Gold im Mund« zu lesen und füllte sie mit dampfendem Kaffee.

»Möchtest du auch eine Tasse?«

Annika blickte von ihrem Bildschirm auf.

»Wenn es dir nicht zu viel Arbeit macht.«

Lucas nahm eine weitere Tasse vom Regal. Auf ihr war ein großes rosafarbenes Herz abgebildet und in lustigen Buchstaben war »Hab dich ganz doll lieb« zu lesen. Annika hatte diese Tasse von ihrem langjährigen Freund geschenkt bekommen, nächsten Frühling würden sie ihr 5 Jähriges feiern, eine große Party war schon geplant.
Innerlich seufzte Lucas. Natürlich gönnte er Annika das Glück, doch er fühlte in Momenten wie diesen immer einen Stich im Herzen, wenn er daran dachte, dass er immer noch allein war.
Er schüttelte diesen Gedanken ab und befüllte auch die zweite Tasse und rührte noch zwei Löffel Zucker unter, so wie Annika es gerne mochte. Dann ging er zum Schreibtisch, reichte Annika ihre Tasse, die sie mit einem dankbaren Nicken annahm, und schaltete seinen Rechner ein.
Es dauerte einen Moment, bis der Rechner hochgefahren war, doch dann öffnete sich ein Fenster mit dem Zitat des Tages. Annika hatte sich einmal die Mühe gemacht, 365 Zitate in eine Datenbank zu stopfen und jeden Tag ein Zitat aufrufen zu lassen.
Das heutige Zitat war:


Auch wenn alles einmal alles aufhört
Glaube, Hoffnung und Liebe nicht.
Diese drei werden immer stehen;
doch am höchsten steht die Liebe.

1. Brief an die Korinther 13.13

Annika war nicht sonderlich gläubig und in die Kirche ging sie nie, aber sie war ein glühender Anhänger der Bibel und vor allem des neuen Testaments.
Annika hatte sich sicherlich nichts dabei gedacht, dieses Zitat mit einzubauen, aber nun traf es Lucas wie ein Dolch ins Herz. Sekundenlang starrte er geistesabwesend auf seinen Bildschirm und war den Tränen nahe.

»Ist irgendwas Lucas?«

Lucas sah hoch und in die besorgten Augen von Annika. Schnell schüttelte er die Melancholie von sich ab.

»Nein, alles in Ordnung. Hab nur über etwas nachgedacht.«

Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Es gab schließlich genug zu tun.
Annika schaute ihn noch einen Moment an. Es war ihr anzusehen, dass sie mit der Antwort nicht zufrieden war, aber sie hielt sich zurück ihn zu fragen. Wenn er soweit war, würde er sich ihr öffnen, da war sie sich sicher.

 

3.

Es klopfte zurückhaltend an der Tür.
Annika und Lucas blickten von ihrer Arbeit auf.

»Das muss unser Azubi sein«, vermutete Annika.
»Herein«, rief sie.

Die Tür öffnete sich zaghaft und ein jugendlicher Kopf mit blonden Wuschelhaaren spähte herein.

»Ist das hier das Büro von Annika Harensberg und Lucas Nielosch?«

Annika nickte freundlich.

»Komm herein. Du musst Phillip sein, ich darf dich doch Phillip nennen, oder?«

Annika wartete die Antwort erst gar nicht ab.

»Das ist Lucas«, sie deutete auf Lucas, »und ich bin Annika. Dies hier ist unser kleines Reich und wenn ich deinen Vater richtig verstanden habe, wirst du uns das nächste halbe Jahr unterstellt sein.«

Annika grinste den Neuankömmling dabei schelmisch an und betonte das Wort unterstellt besonders.
Dieser schien ein wenig unsicher und stand immer noch halb in der Tür.

»Wie du siehst«, Annika machte eine allumfassende Handbewegung, »sind wir auf dich leider nicht vorbereitet. Ich besorg dir mal eben einen Stuhl und heute Abend rede ich mit deinem Vater, ob wir nicht irgendwo noch einen Schreibtisch für dich auftreiben können. Wenn wir hier ein wenig die Möbel umstellen und ein wenig aufräumen, dürfte es kein Problem sein, noch einen hier unterzubringen.«

Mit diesen Worten stand Annika auf, quetschte sich an Phillip vorbei aus der Tür heraus und lief den Gang links herunter.

Betretenes Schweigen füllte den Raum.
Phillip, der sich einen Schritt weiter in das Büro gewagte hatte, stand unschlüssig herum und Lucas wollte etwas sagen aber ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte. Alles, was ihm einfiel, erschien ihm zu trivial.
Lucas hatte schon immer Probleme gehabt, Menschen kennen zu lernen im Gegensatz zu Annika, die keinerlei Probleme hatte sofort wie ein Springbrunnen zu quatschen, wenn sie jemanden Neues traf.

Das Schweigen begann langsam unangenehm zu werden.

»Wie alt bist du?«

Lucas hätte sich für diese Frage am liebsten geohrfeigt aber ihm war in dem Moment nichts Besseres eingefallen.

»Sech...ehn.«, kam es ganz leise und undeutlich aus dem Mund von Phillip.

Phillip räusperte sich.

»Sechzehn.«

Als hätte sich Lucas das nicht denken können. Der Junge kam ganz offensichtlich frisch von der Schule.

»Und Sie«, frage Phillip nach.

»Ich bin 23, aber du kannst mich ruhig duzen.«

Pause.

»Wie lange arbeitest du schon hier?«

»Seit ich 16 bin. Ich hab hier meine Ausbildung gemacht.
Möchtest du einen Kaffee?«

So trivial die Frage auch gewesen war, sie hatte das Eis gebrochen und es dauerte nicht lange und sie waren in ein angeregtes Gespräch über die Arbeit vertieft.
Kurze Zeit später kehrte Annika mit einem Bürostuhl zurück und begann mit der Einweisung.

»Also, wir verwalten hier hauptsächlich die Kolonnen A, B und C. Wir verteilen die verschiedenen Lieferungen auf die einzelnen Kolonnen und ...«

 

4.

Lustlos stocherte Lucas in seinem Essen, es war Kartoffelpüree mit Leber, Zwiebelringen in zerlaufener Butter und Buttergemüse herum. Er war nicht gerade der Fan der Kantinenkost.

»Schmeckt es dir nicht?«

Phillip sah ihn genüsslich kauend an. Ihm schien es vorzüglich zu schmecken.
Lucas schmunzelte innerlich über Phillips sächsischen Akzent. Er lebte nun schon fast 10 Jahre hier und hatte sich trotzdem noch nicht so ganz daran gewöhnt. Seine Familie kam aus dem Rheinland aus der Nähe von Bonn. Als damals die Mauer fiel, wurde sein Vater nach Halle versetzt, um dort die Statik der Gebäude zu überprüfen. Lucas Vater war Architekt und Statiker. Und als er damit fertig war, entschloss er sich mit ein paar Bekannten ein Architekturbüro in Halle zu gründen.
So hatte es ihn in den wilden Osten verschlagen und eigentlich gefiel es ihm hier recht gut. Die Menschen waren freundlich und aufgeschlossen, auch wenn ihre Gewohnheiten ihm manchmal fremd vorkamen und ihr Akzent ihn manchmal fast zum Lachen brachte.

»Nah, Leber ist nicht so mein Ding und dieser O-Saft ist meiner Meinung nach das Letzte.«

Annika lachte kurz auf.

»Unser Kleiner hier«, dabei deutete sie auf Lucas, »hätte lieber Prosecco und Käse-Sahne.«

Phillip schaute etwas verwirrt, ging aber nicht weiter drauf ein, als Lucas Annika drohte, er würde sie mit der Gabel erstechen.

In diesem Moment kam Karel Borst am Tisch der Drei vorbei. Er hatte zusammen mit Lucas seine Ausbildung hier im Betrieb gemacht. Eigentlich hatte Lucas keinen Kontakt mit ihm, aber von Zeit zu Zeit bedachte ihn Karel mit seinen derben Scherzen und Witzen. Lucas nahm es ihm nicht übel, denn er wusste, dass er im Grunde ein herzensguter Mensch war, nur sein Humor war manchmal etwas derb.

»Na, wer ist denn dein Schnuckelchen, Lucas? Wusste gar nicht, dass du auf Kinder stehst.«

Annika warf Karel einen bösen Blick zu. Im Gegensatz zu Lucas war sie nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Er hatte einmal über ihren Freund hergezogen, als sie anwesend war. Nun, Karel wusste nicht, dass es ihr Freund war, aber sie nahm es ihm trotzdem übel.

»Das ist der Sohn vom Dreschner.«

Karel schien einen Moment jede Farbe aus dem Gesicht zu weichen.

»Erm, ich geh dann mal wieder. Schönen Tag noch.«

Wie ein geprügelter Hund verschwand Karel hinter der nächsten Ecke.

 

5.

Einige Tage später. Sie saßen in ihrem Büro. Phillip hatte inzwischen einen eigenen Schreibtisch.

»Lucas, wie fülle ich die Daten der Kolonne in dieses Formular ein?«

Lucas sah auf und drehte den Monitor von Phillip so, dass er darauf blicken konnte.

»Oh, da musst du F12 drücken und dann auf Erweitert gehen, da kannst du die Daten eingeben.«

Phillip drehte den Monitor wieder zurück und probierte es aus.

»Ah danke, es funktioniert.«

Einen Moment herrscht beschäftigtes Schweigen.

»Erm, du Lucas?«

Ohne aufzublicken brummt Lucas ein Ja.

»Ach, ist egal.«

Nun blickte Lucas doch auf.

»Was ist los?«

»Ach, ist nicht so wichtig.«

Lucas sah Phillip in die Augen.

»Nun schieß los, was liegt dir auf dem Herzen.«

Einen Moment druckste Phillip noch herum. Inzwischen sah auch Annika interessiert auf.

»Dieser Kerl, der ist ein ganz schöner Clown oder?«

Fragen hob sich die linke von Lucas Augenbrauen.

»Welcher Kerl?«

»Na ja, dieser Karel oder wie er heißt.«

»Ja, er macht oft seine Späße mit mir. Wieso?«

»Nur wegen dem, was er gesagt hat.«

»Was hat er denn noch mal gesagt?«

Das Gespräch schien Phillip inzwischen sehr unangenehm.

»Ach, er fragte doch nur, ob du auf mich stehen würdest.«

»Ja, und?«

»Ich dachte nur einen Moment, er hätte das vielleicht ernst meinen können, das du schwul wärst meine ich. Aber das ist ja totaler Unsinn, weis auch nicht, wie ich auf die Idee kommen konnte. Sei mir nicht böse, ja?«

Hinter Annikas Monitor kam ein unterdrücktes Lachen hervor.
Phillip sah sehr betreten aus.

»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen.«

Annika hatte aufgehört, sich mit dem Lachen zurückzunehmen. Sie lachte laut und schallend auf.
Lucas, dem die Situation ähnlich unangenehm wie Phillip war, schaute nur ärgerlich in Annikas Richtung.

»Phillip, ich bin tatsächlich schwul.«

Phillip sah ihn einen Moment vollkommen perplex an, was Annika dazu veranlasste, eine weitere Stufe des Lachens zu erreichen.

»Ups.«

Damit verschwand Phillips Kopf hinter seinem Monitor und kam für die nächste halbe Stunde nicht mehr dahinter hervor.
Annika beruhigte sich langsam von ihrem Lachkrampf, aber nicht ohne Lucas in regelmäßigen Abständen schelmisch anzugrinsen, worauf er ihr einen verärgerten Blick zuwarf.

»Lucas?«, Phillips Kopf lugte hinter seinem Monitor hervor.

»Ja?«

»Bist du mir jetzt böse? Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.«

Lucas lächelte aufmunternd.

»Quatsch, ich bin dir nicht böse. Ich bin nur auf eine bestimmte Person böse, die das scheinbar sehr lustig findet«, dabei warf Lucas Annika einen spielerisch verärgerten Blick zu, der sie zu einem großen und unschuldigen Grinsen animierte.

»Dann bin ich ja beruhigt.«

Eine weitere halbe Stunde geschäftigen Arbeitens verging.

»Lucas?«

»Ja, Phillip?«

»Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?
Das du schwul bist meine ich.«

Lucas sah von seiner Arbeit auf.

»Die gehen damit eigentlich ganz gut um.«

Einen Moment überlegte Phillip.

»Ich glaube mein Vater würde mich umbringen, wenn ich ihm sagen würde, ich wäre schwul.«

Annika sah erneut von ihrer Arbeit auf.

»Wieso? Bist dus etwas?«

Phillip sah sie erschreckt an.

»Natürlich nicht!«

 

6.

Lucas öffnete die Tür zum Büro.
Annika war noch nicht da, das war höchst ungewöhnlich. Von 100 Tagen war Annika an 95 Tagen vor Lucas im Büro aber wie sagt man noch so schön: Wunder geschehen immer wieder.
Lucas warf seinen Mantel über die Stuhllehne und schaltete das Licht an.
Draußen hatte gerade die Dämmerung begonnen und das Flackern der Leuchtstoffröhren zerriss das winterliche Halbdunkel.
Einen Moment verharrte Lucas und lauschte auf das leise Summen der Leuchtröhren. Irgendwie empfand er es als faszinierend und es war angenehm gleichmäßig ja, geradezu monoton aber genau das liebte Lucas an diesem Geräusch, es war so einfach.
Wenn doch alles so einfach wäre wie dieses Geräusch, dachte er sich.
Gedankenverloren nahm er seinen Mantel und hängte ihn in den Schrank, dann schaltete er seinen Computer an.


In vino veritas
- Im Wein liegt die Wahrheit

Leise schmunzelte Lucas.
Wie wahr, wie wahr, dachte er sich und dabei dachte er an den vergangenen Samstag.

 

7.

Alles hatte damit begonnen, das Phillip Annika und ihn auf seinen 17. Geburtstag eingeladen hatte.
Eigentlich wollte er nicht hingehen. Zum einen fürchtete er, dass er und Annika den Altersdurchschnitt gesprengt hätten und zum anderen behagte es ihm nicht, dass er in das Haus des verhassten Abteilungsleiters musste. Aber wie so oft war es Annika, die ihn umstimmte und so waren sie beide am Samstagabend zum Haus der Dreschners gefahren.
Es lag am Rand der Saale auf einer kleinen bewaldeten Anhöhe. Es war weder besonders groß, noch in irgendeiner weise ungewöhnlich luxuriös ein normales Einfamilienhaus eben, mit rotem Ziegeldach und einem gemütlichen Wintergarten.
Lucas schalt sich einen Narren, etwas anderes erwartet zu haben. Natürlich war der Dreschner ihr Vorgesetzter, aber ihr Gehalt unterschied sich unterm Strich um kaum mehr als ein paar hundert Euro im Monat. Eigentlich war Lucas das klar, aber sein Unterbewusstsein hatte ihm irgendwie etwas anderes vorgegaukelt.
Sie klingelten an der Haustür, einer großen altertümlichen Eichentür mit Bleirahmenfenstern irgendwie stand die Tür im Kontrast zum ansonsten recht modernen Äußeren des Hauses.
Herr Dreschner öffnete die Tür, von drinnen drang gedämpft Musik an ihre Ohren.

»Ah, Frau Harensberg und Herr Nielosch, kommen sie doch herein.
Das freut mich ja, dass sie da sind, dann können meine Frau und ich uns ja jetzt auf den Weg ins Theater machen. Ich hoffe sie beide sind den Kleinen ein gutes Vorbild und mäßigen sie ein wenig.«

Annika holte tief Luft und es war ihr anzusehen, dass sie sich gerade eine Bemerkung sehr stark verkneifen musste. Stattdessen nickte sie nur kurz.
An Herrn Dreschner vorbei betraten sie das Haus. Der Eingangsraum war geräumig und hell, wie man es in vielen Neubauten fand. Außergewöhnlich war nur das Nebeneinander von klassischer und moderner Kunst. Da hing ein Dürer neben einem Macke und ein Lichtenstein neben einem Michelangelo, aber irgendwie war es dem Einrichter dieses Raumes gelungen diese so unterschiedlichen Stilrichtungen zu vereinen und etwas vollkommen neues zu schaffen.
Während die beiden eintraten, kam aus einer Seitentür eine Frau um die Vierzig getreten, offensichtlich Frau Dreschner. Sie war modisch gekleidet und wirkte ein wenig intellektuell angehaucht.

»Schatz, hast du die Karten«, fragte sie ein wenig ungeduldig, dann entdeckte sie Lucas und Annika.

»Oh, ihr müsst Lucas und Annika sein. Phillip erzählt so viel von euch, er ist ja geradezu in euch vernarrt. Ich hoffe er ist euch keine allzu große Last.«

Annika setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.

»Ganz im Gegenteil Frau Dreschner. Er ist uns sogar eine sehr große Hilfe. Es gibt Tage da wüssten wir nicht, was wir ohne ihn machen würden.«

Frau Dreschner schien durch diese Worte aufs Äußerste erfreut zu sein. Annika hatte keinesfalls zu dick aufgetragen, denn Phillip war den beiden allzu oft schon eine große Stütze gewesen und so hatten sie Arbeit geschafft, die sie sonst nie hätten erledigen können. Es graute ihnen jetzt schon wieder davor, wie es denn wäre, wenn er wieder weg war.

»Ach, ich will euch nicht weiter aufhalten. Ihr wollt sicherlich zur Party. Die findet hinten im Wintergarten statt, geht einfach hier durch den Flur, dann kommt ihr ins Wohnzimmer und in den Wintergarten.
Ich wünsche euch viel Spaß.«

Annika und Lucas nickten ihr kurz zu, verabschiedeten sich von den beiden und wünschten ihnen noch einen schönen Abend, bevor sie in Richtung der Musik gingen.

Die Party war sehr lustig und obwohl Lucas und Annika 5 Jahre älter waren als alle anderen, amüsierten sie sich prächtig.
Phillips Freunde wollten ihm Geld schenken, allerdings musste er es sich erst verdienen. Sie banden ihm die Hände auf den Rücken und benetzen sein Gesicht mit Wasser, dann musste er mit dem Mund Ein- und Zweieuro Münzen aus einem Berg Mehl herausfischen. Und als er sich zu geschickt anstellte, halfen zwei seiner Freunde nach, dass er doch ein wenig von dem Mehl ins Gesicht bekam, alle waren am lachen.
Danach kam seine Freundin an die Reihe. Eine zierliche Blondine mit lockigen Haaren und lustig blitzenden kleinen Augen. Sie schenkte Phillip eine Vase mit einer gläsernen Rose und den Soundtrack zum Film Moulin Rouge, worüber sich Phillip offensichtlich besonders freute.
Das Geschenk von Annika und Lucas hatte er bereits am Freitag zu seinem eigentlichen Geburtstag bekommen: Eine selbstbemalte Kaffeetasse und ebenfalls eine CD, von der Lucas glaubte, dass sie Phillip wohl gefallen müsste »Twarres Stream«, bisher hatte er noch nichts über die CD verlauten lassen. Lucas beschloss ihn im Laufe des Abends zu fragen.
Der Abend war feucht fröhlich und umso später es wurde, desto lustiger wurde es.
Gegen 2 Uhr - die meisten Gäste waren bereits gegangen, nur Phillips Cousin Malte, seine Freundin Mareen und seine beiden besten Freunde Dennis und Benjamin waren noch da, beschlossen sie eine Runde »Wahrheit oder Tat« zu spielen.
Die Flasche, ehemals war sie mit Spätburgunder gefüllt, drehte sich fröhlich im Kreis und sie hatten viel Spaß.
Malte war am Zug. Er drehte die Flasche mit viel Schwung und sie drehte sich eine ganze Weile auf dem Teppich im Kreis, bis sie schlussendlich auf Phillip zeigend zum Stehen kam.
Malte lächelte verschmitzt.

»Wahrheit oder Tat, Phillip.«

Phillip lachte.

»Wahrheit.«

Einen Moment dachte Malte nach, doch es schien im nichts mehr einzufallen. Dann plötzlich hellte sich seine Miene auf und grinsend fragte er Phillip.

»Hast du dich schon mal in einen Jungen verliebt?«

Dennis und Benjamin lachten laut auf und die anderen sahen Phillip erwartungsvoll an. Doch dieser schien ein wenig entsetzt und zögerte mit seiner Antwort.
Zögerte zu lange, um noch eine Lüge glaubhaft rüberzubringen und so antwortete er ängstlich und wahrheitsgemäß, der Alkohol war plötzlich wie weggeblasen.

»Ja.«

Malte, Dennis und Benjamin sahen ihn erschreckt an und auch Mareen schien bestürzt.
Dann nahm sich Benjamin ein Herz.

»Bist du etwa schwul?«

Er schien diese Worte geradezu auszuspucken, wie etwas das man ungern in den Mund nimmt.
Phillip schaute betroffen zu Boden.
Ein leises »Ja.« war zu hören.
Einen Moment herrschte betretenes Schweigen, dann sprang Benjamin auf, verzerrte sein Gesicht und verließ den Raum eilig. Malte und Dennis folgte im dichtauf.
Auch Phillip sprang auf und rannte aus dem Raum und man hörte ihn kurz darauf die Treppen hoch eilen.

Annika, Mareen und Lucas blieben allein zurück. Zwischen ihnen lag noch immer die Weinflasche. Irgendwie schien die gesamte Situation unwirklich und surreal, wäre die Flasche in ihrer Mitte nicht, könnte man glauben es wäre nie etwas gewesen. Aber die Flasche lag noch immer dort, wo sie liegengeblieben war und zeigte auf den Platz auf dem Phillip gerade noch gesessen hatte, der nun aber leer war.
Die Stille war absolut und sie begann regelrecht zu schreien. Wer jemals absolute Stille erlebt hat weis, wie laut sie schreien kann. Und dies war die absoluteste Stille, die die Drei jemals erlebt hatten, es schien als hätten sie sogar aufgehört zu atmen.
Und es war mal wieder Annika, die das Schweigen brach.

»Mareen, ich weiß, dass das sehr schwierig für dich ist, aber Phillip wollte dich bestimmt nicht verletzen.«

Mareen schaute auf und ein leises Lächeln stahl sich auf ihr schönes Gesicht.

»Ich weis doch schon lange, dass es schwul ist.
Er hat es zwar nie gesagt aber ich habe das irgendwie gespürt.«

Sie legte eine kurze Sprechpause ein.

»Und für mich ist es eigentlich unerheblich, ob er schwul ist und mich nicht so liebt, wie er vorgegeben hat mich zu lieben. Ich liebe ihn auch so und daran kann ich leider nichts ändern.«

Nun lächelte auch Annika. Sie nahm Mareens Hand und drückte sie.

»Ich finde es schön, dass du das so siehst.
Ich glaube wir gehen jetzt und du versuchst mit ihm zu reden, ja?«

Mareen nickte und dann trennten sich ihre Wege.
Annika fuhr Lucas nach Hause. Auf dem ganzen Weg sprachen sie kein Wort miteinander, doch als sie vor Lucas Wohnung standen und er gerade aussteigen wollte packte sie ihn noch einmal bei der Hand.

»Lucas, ich bin mir ziemlich sicher, dass Phillip sich in dich verliebt hat.«

Bestürzt sah Lucas seine beste Freundin an.

»Du hast das nicht bemerkt, nicht wahr?« Als Lucas nicht antwortete, fuhr sie mit einem ironischen Lächeln fort: »So weit scheint es mit eurer so vielgepriesenen schwulen Intuition ja scheinbar doch nicht zu sein.
Nun, denk morgen mal über dich und Phillip nach, wir sehen uns am Montag und ich will morgen nicht von dir angerufen werden, ist das klar?«

Lucas nickte und ging langsamen Schrittes zu seiner Wohnung.
Wieso hatte er bloß nichts bemerkt?

 

8.

Lucas starrte auf den Bildschirm. Es zeigte Linien, die sich in einem dreidimensionalen Raum bewegten und ständig neue geometrische Figuren bildeten und ihrer Farben wechselten. Das tat er nun schon seit über einer Stunde, eigentlich hätte er arbeiten müssen aber ihm gingen noch so viele Dinge durch den Kopf.
Phillip war heute nicht zur Arbeit erschienen, sein Vater hatte kurz den Kopf ins Büro gesteckt und verkündet, sein Sohn läge krank im Bett.
Annika arbeitete an ihren Datensätzen als wäre nichts. Innerlich wartete sie allerdings ungeduldig darauf, dass Lucas etwas sagte und sie an seinen Gedankengängen teilhaben lies.

Endlich blickte Lucas auf. Seine Augen hatten einen Moment Mühe wieder zu fokussieren, nachdem er die ganze Zeit auf den Bildschirm gestarrt hatte.

»Annika, ich habe nachgedacht.«

Sie sah von ihrer Arbeit auf und blickte ihn gespannt an.

»Ich mag Phillip. Ich mag ihn sogar sehr. Aber ich liebe ihn nicht. Und ich glaube auch, dass das mit uns beiden nichts werden würde. Der Altersunterschied ist ja schon gewaltig und ich habe manchmal das Gefühl, dass Phillip noch mitten in einer wichtigen Entwicklung steckt. Unabhängig von mir glaube ich, dass eine Beziehung zwischen uns beiden nicht gut für ihn wäre.«

Annika nickte.

»So sehe ich das auch.
Was willst du jetzt machen?«

»Nun, ich werde es ihm wohl sagen müssen.«

Annika nickte erneut.

»Wie willst du es ihm sagen?«

»Ich dachte per Email. Ich kann mit einem Brief ...«

Ihr Augen brannten plötzlich wie Feuer.

»Untersteh dich! Du sprichst gefällig Auge in Auge mit ihm. Und wenn ich dich persönlich zu ihm schleppen muss.«

Einen Moment dachte Lucas nach, dann nickte er.

»Du hast wohl Recht. Ich ruf ihn gleich an, damit wir einen Termin ausmachen, an dem wir uns irgendwo treffen können, denn ich möchte nicht unbedingt in Anwesenheit seiner Eltern mit ihm darüber sprechen.«

»Das kann ich verstehen. Und ich finde es gut, dass du dich traust, mit ihm unter vier Augen zu reden. Du bist und bleibst meine tapfere Hasenpfote.«


ENDE

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