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Shadowy - Episode 1
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Informationen
- Story: Shadowy - Episode 1
- Autor: Torben
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Kapitel 1
- 1. - One Vision
- 2. - The Show Must Go On
- 3. - A New Machine
- 4. - Bloody Sunday
- 5. - Talking About A Revolution
- 6. - Forever Young?
- 7. - Some Things Never Change
- 8. - One Small Step
- Nachwort
Vorwort
Machen wir es kurz, "Episode 1 - The Show Must Go On" ist die Fortsetzung von "Shadowy - Episode 0". Hier ist nun der erste von zwei Teilen, und ich hoffe, das Lesen macht euch genauso viel Spaß, wie mir das Schreiben. Über ein paar Kommentare würde ich mich freuen. Jede Reaktion, egal ob positiv oder negativ, ist besser als überhaupt keine!
Gleichzeitig möchte ich mich an dieser Stelle bei den Lesern bedanken, die sich inzwischen bei mir gemeldet haben. Das positive Feedback auf Episode 0, das nach Teil 6 hereinkam, hat mich dann doch sehr überrascht und erfreut. Damit hatte ich wirklich nicht mehr gerechnet.
Bei Fragen zu der Geschichte könnt ihr auch auf meiner Homepage www.shadowy.de vorbeischauen. Das Lexikon zu der Geschichte befindet sich allerdings noch in einem sehr frühen Stadium. Aber ein paar Bilder zu den Handlungsorten und Personen könnt ihr dort jetzt schon finden.
Jetzt aber viel Spaß.
Martin (aka Mike)
1. - One Vision
I had a dream
When I was young
A dream of sweet illusion
A glimpse of hope and unity
And visions of one sweet union
But a cold wind blows
And a dark rain falls
And in my heart it shows
Look what they've done to my dream
So give me your hands
Give me your hearts
I'm ready
There's only one direction
Aus "One Vision" von Queen
Mike streckte seine Fühler aus und konnte "Sie" jetzt schon überall im Gebäude ertasten. Es war nicht schwer "Sie" zu erkennen, denn "Sie" dachten einfach anders. Das hing wahrscheinlich mit den Implantaten zusammen, denen "Sie" einen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmen mussten. "Sie" dachten irgendwie geteilt. Ein Teil ihrer Gedanken beschäftigte sich, so wie bei normalen Menschen, mit ihrer Umgebung, ihren Aufgaben. Der andere Teil beschäftigte sich mit den Daten, die ihnen ihre Implantate lieferten.
Selbst ein unterentwickelter Telepath konnte "Sie" relativ leicht erkennen. Julian und Mike waren jedoch nicht unterentwickelt. Sicherlich, es gab bessere Telepathen als die beiden, aber schlecht waren sie bestimmt nicht. Außerdem hatten die beiden noch ein paar andere "Tricks" auf Lager als "nur" die Telepathie.
Unwillkürlich verzog sich Mikes Gesicht zu einem bösen Grinsen, wenn er daran dachte, wie oft die Darwinianer schon ins Leere gestoßen waren. Julian mochte es nicht, wenn er dieses Grinsen zeigte. Denn er war der Meinung, die Menschen würden dann erst richtig Angst vor ihnen bekommen. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Die "Catcher" hatten sie aufgespürt und waren dabei, die Jungs einzukreisen. Doch es sollte ihnen nicht gelingen. Mike war fest entschlossen, sich mit allen Mitteln zu wehren.
Zuerst mussten sie hier weg. Dies war eigentlich kein Problem für die beiden, aber sie hatten auch noch die Verantwortung für Chris. Mit ihm und Eric waren sie wieder einmal im Europolis-Tower einkaufen, und Chris hatte sie in das Panorama-Restaurant eingeladen, das sich über der obersten Aussichtsplattform des Zentrallifts befand. Der Name war Programm, denn von hier aus konnte man den gesamten "Innenhof" des Towers überblicken. Über ihnen befand sich nur noch die gigantische Panzerplastkuppel, die den kompletten "Innenhof" überdachte.
Chris konnten und wollten sie keinesfalls alleine lassen. Und Eric? Der hatte zwar die entsprechende Kampferfahrung, aber eine derartige Auseinandersetzung würde auch für ihn sehr schwer werden. Denn diese "Catcher" waren eben einfach anders.
Julian schickte Mike einen kurzen Impuls und deutete dann auf die Liftröhre zur eigentlichen Aussichtsplattform. Von dort näherten sich vier Catcher. Jetzt wurde es wirklich höchste Zeit, dass sie etwas unternahmen, denn nun spürte Mike auch noch Gefahr aus Richtung der nördlichen Verbindungsröhre. Von dort näherte sich eine Transportkapsel mit mindestens acht Catchern. Dazu kamen noch weitere, die scheinbar die zentralen Liftröhren benutzten.
Es half nichts, sie mussten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Mike sah Chris ernst an als er rief: »Du musst sofort zum Flugschrauber! Eric wird dich begleiten. Wir bekommen unangenehmen Besuch.« Eric wechselte nur einen kurzen Blick mit Mike und Julian. Dann zog er Chris auch schon mit sich zur Freitreppe, die zum "Unterdeck" mit der Verteilerstation führte. Von hier aus konnten sie dann eine Transportkabine zum Flugdeck nehmen.
Das Flugdeck selbst war auf dem Dach des 84 Stockwerke hohen Europolis-Tower. Es bestand aus den 12 Landeplattformen mit dem darunter liegenden Parkdeck und bildete die "Krone" des Gebäudes. Der Europolis-Tower dominierte mit seinen 420 Metern Höhe die gesamte City.
Er war, wie fast alle großen Gebäude der City, kelchförmig und nach oben weit ausladend. Der "Innenhof" des Kelches wurde von einer gigantischen Kuppel aus Panzerplast überdacht. Zentral im Innern des Towers verliefen die acht senkrechten Liftröhren. Diese reichten von der tiefsten Sub-Ebene bis zum Panorama-Restaurant.
Alle 40 Meter befanden sich Aussichtsplattformen mit Verteilerstationen. Mit der Station des Panorama-Restaurants gab es also elf solche Hauptverteiler. Diese Verteilerstationen waren über jeweils vier Röhren mit einem der Quadranten des Gebäudes verbunden - also je eine Röhre für Nord, West, Süd und Ost.
Am Ende jeder dieser insgesamt 44 Röhren befand sich ein "Intern-Bahnhof". Die vier Intern-Bahnhöfe einer Ebene waren über den "äußeren Ring" verbunden. Außerdem waren alle Nord, Ost, Süd und West Bahnhöfe auch noch vertikal durch Zwillingsröhren miteinander verbunden.
Das Panorama-Restaurant selbst war zweistöckig. Auf dem "Oberdeck" befand sich das Restaurant. Auf dem "Unterdeck" waren nur die Verteilerstation und die Aussichtsgalerie zugänglich, der Rest gehörte zur Küche. Diese Verteilerstation war dann auch die höchstgelegene im ganzen Gebäude. Hier endeten die Röhren des Zentrallifts.
Da es nicht sonderlich effektiv gewesen wäre, in einer solchen über 400 Meter langen Röhre nur eine Kabine einzusetzen, hatten die Ingenieure eine andere Lösung gefunden. Jede Röhre war im Prinzip eine Einbahnstraße, vier beförderten nur aufwärts und die anderen vier nur abwärts. Die Kabinen waren kugelförmig und das ganze System erinnerte stark an eine Rohrpostanlage. Zwischen den einzelnen Ebenen konnte man aber auch die Kurzstrecken-Aufzüge im Gebäude nutzen.
Gerade, als Chris und Eric eine der Transportkabinen erreicht hatten, stürmten zwei der grau gekleideten "Catcher" die Galerie entlang auf die beiden zu. Ohne sichtbare Verzögerung zog Eric seine "Viper". Er signalisierte ihnen unmissverständlich, dass er sich von ihnen nicht aufhalten lassen würde. Schreiend wichen einige umstehende Gäste zur Seite und versuchten sich in Sicherheit zu bringen.
Doch die "Catcher" nahmen darauf keine Rücksicht und wollten offensichtlich nicht verstehen. Ähnlich schnell wie Eric griffen sie ihrerseits nach den Waffen. Mike und Julian zögerten nun keine Sekunde. Mit einer spielerischen Handbewegung fegten sie die beiden Uneinsichtigen mittels Telekinese über den Rand der Brüstung. Nun würden sie die nächsten verbleibenden 400 Meter Gelegenheit haben, über ihren Fehler nachzudenken.
Noch immer mit der Waffe in der Hand drängte Eric den etwas verschreckten Chris in die Kabine. Es war jetzt höchste Zeit, dass sie sich auf den Weg zum Flugdeck machten. Denn dieser Auftritt konnte nicht ohne Folgen bleiben.
Während Eric zusammen mit Chris losfuhr, tastete Mike, ohne auf das Geschrei der flüchtenden Gäste zu achten, nach den verbliebenen zwei "Catchern". Diese näherten sich mit gezogenen Waffen von links durch einen Verbindungsgang der Küche. Rücksichtslos begannen sie auf alles zu feuern, was sich vor ihnen bewegte. Damit konnten sie sich aber auch nicht mehr retten. Noch bevor sie einem der beiden Freunde wirklich gefährlich werden konnten, vergingen sie in einem Feuersturm, den Julian im Gang entfesselt hatte.
Die Hitze im "Unterdeck" stieg nun rapide an, und durch das Einsetzen der Löschanlage verwandelte sich dieser Bereich in eine Sauna. Auch die letzten Unbeteiligten versuchten sich nun, im flackernden Licht der Notbeleuchtung, in Sicherheit zu bringen. Die geschmolzenen Kunststoffplatten der Decke tropften auf sie nieder, während das Wasser der Sprinkleranlage alles in immer dichteren Dampf hüllte. Schon begannen an der Decke die Kabel zu schmoren und erste Kurzschlüsse ließen Funken sprühen.
Zu dem beißenden Gestank des Kunststoffes mischte sich nun der Geruch von Ozon. Als wäre dies noch nicht genug, begannen nun auch noch die Feuermelder zu kreischen. Währenddessen versicherte eine freundliche Stimme in endloser Wiederholung: »Bewahren Sie Ruhe! Es besteht kein Grund zur Panik. Es handelt sich nur um eine kleine technische Störung. Bewahren Sie…«
Etwas beunruhigt, weil das jetzt alles andere als unauffällig war, tastete Mike nach weiteren ihrer "speziellen" Freunde.
Julian sendete ihm nun wieder einen Impuls. Die Transportkabine aus Norden würde sehr bald hier eintreffen, wenn sie nichts unternahmen. Doch beide wussten, dass sie es nicht mit acht oder mehr Catchern gleichzeitig aufnehmen konnten. Nicht hier, oder wenigstens nicht, ohne den halben Tower zu zerstören.
Nach nur wenigen Augenblicken erfassten sie mit ihrer Teleortung, wie die Kabine abgebremst wurde. Da kam Mike eine ziemlich böse Idee, die er auch sogleich verwirklichte. Er tastete sich mit der Teleortung bis zu der Versorgungsleitung der Magnetbremse und löste diese mit einem kurzen Impuls auf. Sein Grinsen wurde fast schon diabolisch, als er dasselbe mit der Liftkabine im Zentrallift machte; befanden sich doch in den Kabinen nur seine ganz "speziellen" Freunde.
Ein wenig musste er die Liftkabine noch abbremsen, dann durchbrach auch schon die aus Norden kommende Kabine unter lautem Getöse die Führung. Anstatt wie vorgesehen in die Ringbahn einzubiegen, übersprang sie die Rinne und nahm den geraden Weg. Nur wenige Augenblicke später, traf sie mit der aufwärtsrasenden Liftkabine zusammen.
Billard hatte Mike schon immer fasziniert, nur mit so großen Kugeln hatte er bisher noch nie "gespielt". Doch dann mussten sie selbst noch zur Seite springen, als die beiden Kugeln die "Bande" regelwidrig durchbrachen und in der Tiefe verschwanden.
Nun ortete er weiter, bis er die magnetischen Laufschienen der dritten Kabinen erfasste. Auch diese war unterwegs zum Panorama-Restaurant. Ein kurzer, aber heftiger Impuls, und die gesamte Aufhängung löste sich in ihre molekularen Bestandteile auf. Schneller als die Insassen erwartet hätten, hörte die Aufwärtsbewegung auf, um sogleich in eine beschleunigte Abwärtsbewegung überzugehen.
Mehr oder weniger zufällig hatte Mike auch die Notstopp-Einrichtung desintegriert. Erst ein Hindernis könnte den Abwärtstrend der Kabine stoppen. Eigentlich kam da nur der Boden der achten Sub-Ebene in Betracht. Offiziell ging es nicht tiefer, aber vielleicht gelang den Catchern ein neuer Rekord, denn die Automatik hatte da schon die anderen Kabinen aus der Röhre geschleust. Schulterzuckend nahm Mike davon Kenntnis und machte sich mit Julian auf den Weg zum Flugdeck.
Da nun die gesamte Röhrenanlage wegen dieser kleinen "Betriebsstörung" stillgelegt worden war, machten sie sich zu Fuß auf den Weg durch die waagerechte Ost-Röhre. Immer wieder musste Mike die automatischen Airbags desintegrieren, die "ihre" Röhre in Segmente unterteilten. Diese Airbags gehörten wohl auch zum Katastrophenprogramm der Röhrenanlage und sollten ein Ausbreiten von Feuer oder Ähnlichem verhindern. Im Moment behinderten sie einfach nur ihr Fortkommen.
Ein bedrohliches Geräusch ließ sie kurzzeitig erstarren. Blitzschnell intensivierten sie ihre Teleortung und so hatten sie wenig später auch die Ursache ausgemacht. Eine Gruppe von Mark-13 Robotern kam ihnen entgegen und war offensichtlich auch nicht bereit, sich von den Airbags aufhalten zu lassen. Was nun? Eine direkte Konfrontation sollte man tunlichst vermeiden, das hatten sie im Labor-23 sehr anschaulich gelernt.
Schnell wechselten die beiden Freunde einen Blick, Julian durfte seine stärkste Fähigkeit in dieser Röhre keinesfalls einsetzen. Die Hitze würde sie beide töten. Also konzentrierte sich Mike wieder auf die Mark-13 und als er sie erfasst hatte, tastete er weiter. Wieder hörten sie das Aufpeitschen einer Salve, und wieder war einer der Airbags "Opfer" der Mark-13 geworden.
Mit einem eisigen Lächeln ließ Mike seine Kraft frei, zuckte dann aber doch erschrocken zusammen, als die gesamte Röhre bedrohlich knirschte. Mike hatte die Struktur des Bodens so sehr geschwächt, dass die Roboter nun durchbrachen und haltlos in die Tiefe stürzten.
Doch Roboter kannten keine Angst, nur ihren Auftrag, und so schossen sie noch im Stürzen auf die Röhre. Rings um sie herum schlugen vereinzelt Geschosse ein und nun drohte die gesamte Struktur der Röhre instabil zu werden. Schnell hasteten sie weiter, bis sie zu der Durchbruchstelle der Roboter kamen. Auf über acht Meter war der Boden der Röhre aufgebrochen. Nur mit einem ForceJump gelang es ihnen diese Lücke zu überqueren. Doch ihnen blieb keine Zeit zu pausieren, das Ächzen und Stöhnen der kollabierenden Röhre wurde lauter und das Zittern entsprechend stärker.
Nur mühsam konnten sie sich noch auf den Beinen halten und vorwärts kämpfen, so stark war inzwischen die Vibration geworden. Doch schließlich gelang es ihnen doch noch, mit einem letzten Sprung den "sicheren" Intern-Bahnhof zu erreichen.
Noch immer befanden sie sich in der Röhre und nach wenigen Metern gelangten sie zu der geschlossenen Ringbahn des Intern-Bahnhofs. Das System war das gleiche wie in einem Kreisverkehr. Die durch die Ost-Röhre kommenden Transportkapseln bogen in die Ringbahn ein. Hier wurden sie dann weiter geleitet, entweder über die äußere Ringbahn zu einem anderen Intern-Bahnhof derselben Ebene oder über eine der Zwillingsröhren zu einem Bahnhof über oder unter diesem. Natürlich konnte man hier auch an einer Haltebucht aussteigen und genau da wollten auch Julian und Mike die Röhre endlich verlassen.
Nur ihrem "Gefahreninstinkt" verdankten sie es, dass sie die nächsten Sekunden überlebten. Denn gerade als sie sich der Haltebucht näherten, eröffneten zwei Mark-13 Roboter das Feuer. Diese standen genau dort, wo normalerweise die Passagiere in die Kabinen stiegen.
Gerade noch rechtzeitig riss Julian telekinetisch ein Bodengitter auf und zusammen mit Mike verschwand er in dem Wartungsschacht. Über ihnen erzitterte die gesamte Halle, als einer der beiden Roboter, von Julians Thermokinese erfasst, aufglühte und explodierte. Auch der Zweite hatte diese Explosion nicht überstanden. Verschmutzt und etwas lädiert krochen Julian und Mike wieder zurück in den Ring.
Der Zweite Mark-13 war brennend herabgestürzt, vom Ersten waren jedoch nur noch glühende und formlose Überreste zu erkennen. Zum Glück hatte die Explosion auch einen Großteil der Ringbahn zerstört. Die Hitze des brennenden Roboters wäre, in der geschlossenen Röhre, sicherlich nicht auszuhalten gewesen. Der Intern-Bahnhof war schon völlig vom Qualm erfüllt, als die unvermeidliche Löschanlage auch hier einsetzte.
Doch da waren Julian und Mike schon wieder unterwegs. Diesmal nahmen sie die Treppe und hasteten die letzten Meter bis zum Parkdeck hinauf. Begleitet von den Detonationen, verursacht durch die Reste der Munition des noch immer brennenden Roboters, erreichten sie den Ausgang. Weitere Alarmhupen erklangen und mischten sich mit den Durchsagen, die alle Gäste aufforderten, diese Ebene zu verlassen.
Unterdessen hatten Eric und Chris das Flugdeck erreicht. Als sie den Feueralarm und schließlich auch noch den Evakuierungs-Alarm hörten, wussten sie, dass es höchste Zeit wurde, alles für einen Alarmstart vorzubereiten. Chris beantragte bei der Luftraumüberwachung die Startfreigabe für die nächsten 10 Minuten, die er aufgrund seiner ID auch problemlos bekam.
Wenig später sahen sie, wie mehrere Mark-13 aus einem der Lastenaufzüge quollen und entlang des Transportbandes auf sie zu stürmten. Bange Sekunden starrten sie in die durchgeladenen Waffen. Doch nur wenige Sekunden später wurden auch diese Roboter über die Brüstung in die Tiefe des Innenhofs geschleudert. Gerade noch rechtzeitig waren Julian und Mike erschienen. Beide erreichten schwer atmend den Flugschrauber, der sich, noch verankert auf der Trägerplatte, schon auf dem Weg zum Startfeld befand.
Kaum waren sie schließlich in der Luft, konnten sie das Ausmaß der Zerstörung erahnen. Unter der Panzerplastkuppel hatte sich dichter Rauch gesammelt. Scheinbar waren auch die Roboter, die in die Tiefe gestürzt waren, explodiert. Dementsprechend stieg nun fetter schwarzer Rauch aus dem "Innenhof" des Europolis-Tower auf und sammelte sich unter der Kuppel. Die Ost-Röhre war abgeknickt und hatte sich teilweise in die Röhre darunter gebohrt. Auch das gesamte "Panorama-Restaurant" schien sich zur Seite geneigt zu haben, aber das konnte auch eine optische Täuschung sein. Mike versank in "Ortungsstarre" um die Umgebung zu sondieren und neue Angreifer zu erkennen. Zunächst nur leise drang Julians Stimme in sein Bewusstsein vor. »»Mike wach auf, es ist vorbei! Wach endlich auf, es war doch nur ein Traum...««.
Stöhnend und total verschwitzt wachte ich auf!
2. - The Show Must Go On
Campus-Occursus, Montag, 26.11.2035
Noch immer lag ich total verschwitzt neben Julian, der mich an der Schulter festhielt und eindringlich auf mich einredete. Fast jede Nacht kämpfte ich mich durch Alpträume. Denn ich hatte die Ereignisse vom 27. Oktober, als wir den Hoods zu Hilfe kamen, nie wirklich verarbeitet.
Dies war aber der mit Abstand schlimmste Alptraum gewesen, den ich bis jetzt hatte, dabei waren doch zwischenzeitlich vier Wochen vergangen. Julian sah mir vorwurfsvoll in die Augen: »Ich denke wir sollten in nächster Zeit etwas langsamer machen, du bist völlig überdreht.«
Ja, er hatte Recht! So wie mich Lukas und Tom ansahen, die wohl auch gerade wach geworden waren, schlossen sie sich Julians Meinung an. Doch wie sollten wir das machen? Hatten wir noch gedacht, dass wir nach dem Umzug zu unserem neuen Domizil, dem "Campus-Occursus", etwas zur Ruhe kommen würden, so waren wir schnell eines besseren belehrt worden.
Der Umzug an sich war dabei natürlich das geringste Problem. Wir hatten ja fast nichts, nur die wenigen Sachen von mir, die Stefan für mich eingelagert hatte, und dann natürlich noch unsere Einkäufe. Ich musste grinsen, wenn ich an unseren zweiten Einkaufstrip mit Chris dachte, denn er hatte sogar Tom und Lukas überreden können, mitzukommen. Tom konnte es fast nicht glauben, wie locker Chris mit Geld umging.
Wenn man sich jedoch verdeutlichte, dass Chris wirklich zu denen gehörte, bei denen Geld keinerlei Rolle spielte, wenigstens wenn es um Einkäufe ging, dann war sein Verhalten durchaus verständlich. Für uns war es aber sehr gewöhnungsbedürftig, etliche tausend Euro so auf die Schnelle auszugeben.
Jedenfalls stellte sich nach dem Umzug heraus, dass unser "Campus-Occursus" wirklich ein "Platz der Begegnung" war. Andauernd waren neue Gruppen von Handwerkern, Technikern und was weiß ich noch für Leute damit beschäftigt, diesen seit Jahren leer stehenden riesigen Gebäudekomplex instand zu setzen.
Der ganze Komplex sah aus wie ein riesiges, liegendes X. Im Zentrum dieses X befand sich der runde "Zentralbau" mit Kuppeldach. Die beiden oberen X-Schenkel waren von einem bogenförmigen Wohnblock "überdacht", d.h. das X war an dieser Stelle geschlossen. Wobei der Wohnblock etwas länger als ein viertel Kreissegment war und somit rechts und links über die X-Schenkel hinausragte. Somit bildeten die oberen X-Schenkel und der Wohnblock einen geschlossenen Innenhof, der von außen nicht einzusehen war.
Der Wohnblock selbst war ein sechsstöckiges, bogenförmiges Gebäude, mit einer Bogen-Länge von ca. 250 Metern, einer Breite von 30 Metern und einer Höhe von ebenfalls 30 Metern. Genau auf 12 Uhr befand sich der Zentralbereich des Wohnblocks, ein 50 Meter durchmessender Turm, der von einer 25 Meter hohen Kuppel überdacht wird. Unter der Kuppel befand sich zu unserer Freude eine große Schwimmhalle.
Jeder der X-Schenkel, von uns A-, B-, C- und D-Trakt genannt, war ein dreistöckiges Gebäude, mit einer Höhe von 20 Metern, einer Breite von 30 Metern und einer Länge von 60 Metern. Auf dem Dach jedes Traktes befand sich eine kreisförmige Freifläche, die als Landeplattform für Flugschrauber, oder im Sommer auch als Terrasse genutzt werden konnte. Der A- und B-Trakt hatte jeweils auch noch ein Säulenportal wie der Eingangsbereich, jedoch waren diese Eingänge meist geschlossen.
Zwischen dem A- und B-Trakt befand sich das dem Zentralbau vorgelagerte Eingangsportal. Dieses Portal war mit sehr eindrucksvollen 12 Meter hohen Säulen versehen.
Auch der "Zentralbau" war sehr eindrucksvoll. Ohne Kuppel war er alleine schon 34 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von 60 Metern. Die Kuppel selbst war elliptisch und hatte einen Durchmesser von 50 Metern bei einer Höhe von 30 Metern. Sie war komplett leer. Früher war unter ihr ein Multigefechts-Simulator untergebracht, der jedoch bei der Übergabe an NeckTech ausgebaut worden war. Momentan benutzten wir die Kuppel als eine Art Sporthalle, um den ForceJump und andere Sachen zu erproben, die wir lieber nicht in der Öffentlichkeit zeigen wollten. Das machten wir wenigstens, wenn wir dazu kamen.
Dieser ganze Gebäudekomplex war dann natürlich auch noch unterkellert. Auf die Nebengebäude möchte ich erst gar nicht eingehen. Wie schon gesagt, die Anlage war für unsere Ansprüche weit überdimensioniert. Aber es war jetzt unser neues Zuhause, und wir hatten hier unsere Ruhe gefunden. Oder eigentlich hofften wir, sie hier zu finden.
Im Wohnblock hatten wir, wie der Name schon andeutet, auch unser Apartment eingerichtet. Dieses lag im 5. Stock und war mit über 180 Quadratmetern mehr als großzügig dimensioniert. In diesem Apartment befand sich dann auch das Bett, in dem ich lag und noch immer den leicht vorwurfsvollen Blick von Julian ertrug.
Etwas hilflos zuckte ich mit den Schultern, während sich ein Lächeln in sein Gesicht stahl. Seit unserem Geburtstag, an dem uns Dr. Neckler dieses Gebäude gezeigt und dann zur Verfügung gestellt hatte, war jetzt gerade ein Monat vergangen. Doch es war praktisch kein Tag vergangen, an dem wir kein volles Programm hatten. Auch heute wieder würde es ein 12 bis 16 Stunden Tag werden, dessen war ich mir sicher.
Leicht irritiert bemerkte ich, dass Lukas plötzlich vor mir am Bett stand. »Mike komm schon! Wenn du noch vor dem Frühstück eine Runde laufen willst, müssen wir jetzt los.«
Natürlich hatte er Recht. Seit dem Umzug hatten sich auch Julian, Tom und Lukas angewöhnt, morgens eine Runde durch den Park zu drehen, der ja auch noch zum Campus-Occursus gehörte.
Leider war Eric immer öfter, wie auch heute, im "Sektor 20". Genauer, er und Frank befanden sich in der "roten Burg", wie ich das neue Hauptquartier der Hoods nannte. Eigentlich war es das ehemalige HQ der "ersten Generation", das wir übernommen und den Hoods zur Verfügung gestellt hatten. Mit Grauen dachte ich daran, während ich mich aus dem Bett quälte und in meine Sportsachen schlüpfte, dass dort noch eine viel größere Baustelle auf uns wartete.
Hier im Umfeld des Campus-Occursus war es ruhig, aber drüben im "Sektor 20" "gärte" es, wie Frank so schön sagte. Einigen Mutanten, aber auch ein paar Normalo-Gangs, passte es überhaupt nicht, dass eine "Loser-Gruppe" wie die Hoods jetzt plötzlich so stark auftreten konnten. Noch war es zum Glück zu keinem Zwischenfall gekommen. Doch bis es zu einem kam war, nach Franks Meinung, nur eine Frage der Zeit. Heute noch wollten wir zu ihnen fahren, um uns einen Überblick zu verschaffen.
Julian stupste mich in die Seite und grinste frech. Wir waren inzwischen am kleinen See angekommen, an dem wir meist unsere Qi Gong-Übungen machten. Ich war völlig in Gedanken neben ihnen her getrottet und wie bestellt und nicht abgeholt stehen geblieben, als sie angehalten hatten.
»He, aufwachen! Erde an Mike! Mike, bitte melden! Was grübelst du denn schon wieder?«, Tom lächelte spöttisch, aber ich spürte unterbewusst seine Besorgnis. Auch Lukas und Julian sahen mich so an, als wüssten sie nicht genau, was mich im Moment beschäftigte. Doch ich hatte meine Abschirmung "unten", so dass jeder von ihnen sich bei mir "einklinken" konnte.
»Es ist unter anderem der Traum, der mir auch noch Probleme macht.« Die Jungs schauten mich etwas irritiert an.
Ich überlegte, »Ich weiß nicht genau. Natürlich war es nur ein Traum, aber ich habe ein verdammt mieses Gefühl. Da tauchten Jäger auf, die anders waren als die anderen, die wir kannten. Sie waren kälter, und irgendwie "unmenschlich", also im Sinne von nicht-menschlich. Ich weiß nicht, es war so...«, ich brach ab, da ich wirklich nicht erklären konnte, weshalb mich das im Hintergrund so quälte.
Eigentlich war es doch einer der üblichen Alpträume gewesen, wie ich sie seit dem 27. Oktober öfters hatte. Ich fürchtete mich so langsam mehr vor unseren Fähigkeiten, und dem, was aus uns werden könnte, als die Normalos in unserer direkten Umgebung. Aber diese Jäger, oder Catcher, wie die Hoods sie nannten, in meinem Traum waren anders. Doch ich konnte mich nicht mehr so genau daran erinnern - was vielleicht auch eine der Ursachen meiner Beunruhigung war. Ich konnte mich eigentlich immer an meine Träume erinnern.
Julian war hinter mich getreten und hielt mich mit seinen Armen umschlungen. Seinen Kopf stützte er auf meine Schultern und ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. »»Ich komm nicht an deine Erinnerungen!««, hörte ich seine telepathische "Stimme".
»Ich weiß, ich komme ja selbst auch nicht heran, das macht die Sache ja so verrückt«, antwortete ich verbal. Doch natürlich hätten Lukas und Tom so oder so alles mitbekommen.
»Komm Mike, mir wird langsam kalt! Der Traum wird sicherlich wieder kommen, wenn es etwas zu bedeuten hatte«, quengelte Lukas.
Natürlich hatte er Recht mit dem, was er andeutete. Falls es wirklich wieder eine Vorahnung war, dann würde sie mich noch öfters heimsuchen, das war uns allen in letzter Zeit immer mal wieder passiert.
Anfangs hatten wir nur das Gefühl drohender Gefahr, kurz bevor etwas eintraf. Inzwischen hatte sich diese spezielle Art der Präkognition jedoch zu regelrechten Vorahnungen herausgebildet. Was uns jedoch besonders verblüffte, war die Tatsache, dass wir im Gegensatz zu unseren sonstigen Fähigkeiten keinerlei Einfluss darauf hatten.
Gewaltsam riss ich mich aus meinen Grübeleien und wir begannen dann doch noch unser tägliches Qi Gong. Wenn der Traum etwas zu bedeuten hatte, würde er wieder kommen. Langsam wurde ich wirklich munter und konnte die Entspannung und Kraft, die mir die Übung brachte, auch genießen.
Um 8 Uhr saßen wir dann schließlich, frisch geduscht und jetzt auch wirklich munter, mit Stefan und Pascal am Frühstückstisch. Auch dies war eine neue Gewohnheit. Seit wir hier im Campus-Occursus lebten, trafen wir uns zum gemeinsamen Frühstück und besprachen uns.
Wie schon befürchtet, hatten wir auch heute wieder ein volles Programm. Zuerst sollte ein Prof. Heller hier auftauchen. Er wurde uns von Dr. Neckler geschickt, damit er die seltsamen Effekte von Julians "Thermokinese" untersuchen konnte. Nach langem Zögern hatten wir dem zugestimmt, da es wirklich zu sehr vielen Merkwürdigkeiten bei Julian gekommen war.
Währenddessen sollten sich Tom und Lukas um zwei Hoods kümmern, die ab heute hier auf dem Campus einzogen, um mit uns zu trainieren. Beide waren Telekineten. Nico sollte dann heute auch noch hier einziehen, um mit Julian und mir zu üben. Da weder Julian noch ich Teleporter waren, würde es schwer werden, ihm zu helfen. Doch Frank war der Überzeugung, es würde Nico schon weiter bringen, wenn wir ihn mit unserer Art des Qi Gong vertraut machen würden.
Ein Besuch der "roten Burg", also dem neuen Hauptquartier der Hoods, stand dann für den Nachmittag auf dem Plan. Diese "Tafelrunde" fand aber sowieso jeden Montag statt. Denn Frank befürchtete noch immer, dass es demnächst Probleme mit den "Nachbarn" geben könnte. Robin wollte sich mit uns deshalb regelmäßig besprechen. Inzwischen hatte er sich auch vollständig von seinen Verletzungen erholt.
»Du siehst müde aus!«, stellte Stefan gerade fest, und sah mich dabei ein wenig besorgt an.
»Du hättest ihn heute Morgen sehen sollen«, murmelte Tom.
»He! Wir haben schon genügend Probleme. Jetzt ist wirklich nicht die Zeit, sich um meine Müdigkeit Sorgen zu machen«, rief ich etwas entrüstet. Die taten gerade so, als läge ich im Sterben.
»Ich denke, ihr alle seid ziemlich angespannt. Ein wenig mehr Ruhe solltet ihr euch wirklich gönnen. Eure Fähigkeiten sind noch immer nicht ganz ausgereift«, meldete sich Pascal mit ruhiger Stimme zu Wort.
»Werden unsere Fähigkeiten überhaupt je "ausreifen"?«, stellte Lukas die Frage, die uns alle schon seit längerem beschäftigte.
Doch da konnte auch Pascal nur mehr oder weniger hilflos mit der Schulter zucken. Selbst Frank, der sich schon sehr eingehend mit allen möglichen Aspekten des "Mutantentums" beschäftigt hatte, wusste darauf keine Antwort. Wir waren einfach "abnorme" Mutanten, was ja an sich schon ein Wortwitz war.
Zu alle dem hatte Frank feststellen müssen, dass wir ihn bei seiner Heilung offensichtlich mit Reiki "infiziert" hatten. Jedenfalls zeigte auch er ungefähr eine Woche nach unserer Aktion erste Ansätze von Reiki. Doch wenn ich von "auch" spreche, dann meine ich nicht nur Julian und mich. Auch bei Robin waren, während unsere Behandlung noch lief, Ansätze von Reiki in Erscheinung getreten. Zugegeben, ihn hatten wir auch bisher am stärksten und längsten behandelt. Bei einem weiteren "Opfer" waren wir uns noch immer nicht ganz schlüssig. Denn eigentlich war Eric nicht einmal ein Mutant, dennoch zeigte sich auch bei ihm das Reiki.
Offensichtlich war, dass Julian und ich das Reiki auf andere übertragen konnten. Natürlich war daran nichts Neues, denn schließlich hatte Julian die Reiki-Fähigkeit von dem im Labor-23 verstorbenen Ralf bekommen. Doch über das Wie rätselten wir noch immer.
Bei Tom und Lukas, die viel länger und enger mit uns zusammen waren, zeigte sich jedoch kein Reiki. Wir suchten also nach einer brauchbaren Erklärung. Aber auch andere Fähigkeiten schienen sich bei uns weiter zu entwickeln, wie eben die Präkognition.
Die Frage, wann wir "ausreifen" würden, und ob überhaupt, war also durchaus berechtigt. Deshalb warteten wir auch schon einigermaßen gespannt auf diesen Prof. Heller und sein Team. Wir hofften, dass er uns wenigstens ein paar unserer Fragen beantworten konnte.
3. - A New Machine
Campus-Occursus, Montag, 26.11.2035
Kaum hatten wir das Frühstück beendet, als einer von Martins Leuten, Martin war ja inzwischen "unser" Sicherheitschef, die beiden Hoods vorbei brachte, die in den nächsten Wochen mit uns trainieren sollten. Mischa Jansen und Remo Alberoti waren beide Telekineten und wir wollten einmal probieren, wie viel wir mit einem gemeinsamen Training erreichen konnten.
Mischa, gerade 20 geworden, war 1 Meter 75 groß, hatte hellblaue Augen und hellblondes Haar. Remo hingegen war 21, ungefähr 1 Meter 70 groß, hatte dunkelbraune Augen und schwarzes, strubbeliges Haar. Beide waren anfangs sehr zurückhaltend und offensichtlich nicht nur von den Ausmaßen dieses Gebäudes sehr beeindruckt. Sie hatten uns am 27. Oktober erlebt, und scheinbar lag da auch ein Grund für ihre Zurückhaltung. In uns sahen sie etwas mehr als nur einfach "starke" oder auch "mächtige" Mutanten. Jetzt bekamen wir die Schattenseite unserer "Iratus Lemurum"-Geschichte zu spüren.
Wie hatte doch Dr. Neckler so schön gesagt: "Mutanten haben einen Hang zum Okkultismus". Nun, wir mussten die beiden nicht sondieren um zu sehen, dass sie uns für etwas Besonderes hielten. Wir waren zwar in den letzten Tagen öfter mit den Hoods zusammen gewesen, doch das war immer auf "ihrem" Territorium gewesen. Hier auf dem Campus wirkten die beiden jedenfalls ziemlich eingeschüchtert.
Tom und Lukas nahmen sich ihrer an und führten sie erst einmal durch die gesamte Anlage. Wir hofften, dass sich dieser übertriebene Respekt, der fast schon an Ehrfurcht grenzte, schnell legen würde.
Doch noch während Julian und ich überlegten, wie wir so etwas in Zukunft vermeiden könnten, hörten wir das Brummen eines schweren Flugschraubers. Von der Zeit her müsste das Prof. Heller und sein Team sein. Doch wie groß musste das Team sein, damit es so ein großes Transportmittel benötigte?
Gespannt, was da auf uns zu kommen sollte, verließen wir das Gebäude durch den B-Trakt. So standen wir auch schon bald vor dem großen Landefeld für Flugschrauber, welches 100 Meter vom Haus entfernt begann. Die Maschine, es handelte sich wirklich um eine BO-2025-H, also einen Lastentransporter, war schon gelandet. Ein 1 Meter 65 kleiner, dicker Mann war gerade dabei, sich durch das für ihn viel zu enge Mannschott zu quetschen.
»»Der sollte lieber die Lastschleuse benutzen««, spottete Julian telepathisch, als wir weiter auf die Maschine zu schritten.
Der Dicke schimpfte unentwegt mit einer Person, die sich noch im Inneren der Maschine befand. »... müssen wir uns für so einen Hokuspokus hierher bemühen? Mit einer einfachen Prüfung wäre doch sofort klar gewesen, dass die ganze Sache reine Show und nur fauler Zauber ist«, schimpfte der Dicke. Noch immer versuchte er mit seinen etwas zu kurzen Extremitäten die ausgefahrenen Trittstufen zu erreichen.
Einer der Piloten, ein fast 2 Meter großer Kerl, so um die 30, hatte das Cockpit auf seiner Seite verlassen und kam lachend auf uns zu: »Hallo! Ich soll diese Herren und noch einiges an Ausrüstung hier abliefern. Sind sie hier für das Verladen zuständig?«
Ich sah zu Julian und der zu mir. Etwas hatten wir wohl falsch verstanden, als es hieß, dass ein Prof. Heller vorbeikommen wollte, um ein paar kleine Tests zu machen. Denn erstens wollte er ganz offensichtlich nicht kommen, so interpretierte ich wenigstens sein Gemecker, und zweitens schienen die Tests etwas umfangreicher zu werden, als wir es uns gedacht hatten.
Dass es sich bei dem kleinen Dicken um Prof. Heller handeln musste, daran bestand für uns kein Zweifel. Der zweite Pilot hatte nun die große Heckschleuse aufgefahren und wir konnten mehrere Paletten mit Ausrüstung und wissenschaftlichem Gerät bewundern.
Hinter den Paletten erschien das freundliche Gesicht eines zweiten Mitarbeiters von Prof. Heller. Der Typ sah wirklich ausnehmend gut aus: ca. 1 Meter 80 groß, schwarze Haare und blaue Augen. Lässig schlängelte er sich an den Paletten vorbei und schritt locker die Rampe herunter.
Noch immer mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht kam er auf uns zu und gab mir die Hand: »Mike Torben, wenn ich mich nicht irre? Ich bin Olaf Bock, Dipl. Physiker, und die, äh... linke Hand von Prof. Heller. Die rechte Hand ist noch in der Maschine«, fügte er fröhlich hinzu und begrüßte dann auch Julian.
Der Pilot, der jetzt auch begriffen hatte, dass wir hier nicht zum "Bodenpersonal" gehörten, sah sich etwas hilflos nach einem Abnehmer für seine Ladung um. Währenddessen bewunderten Julian und ich noch immer schweigend und staunend die Versuche von Prof. Heller, sich doch noch durch die Schleuse zu zwängen.
»Soll ich etwas ziehen, Professor?«, wandte sich Olaf hilfsbereit an den Dicken.
»Sie wollen mich wohl foltern? Wie sind sie überhaupt aus dieser Konservenbüchse herausgekommen?«, schimpfte dieser jedoch nur.
Das schien Olaf aber nicht im Geringsten zu stören. »Ich habe einen Weg genommen, den Sie offensichtlich auch besser genommen hätten: den durch die Lastenschleuse!«, antwortete Olaf, der nur mühsam seine Heiterkeit unterdrückte.
Ein Ruck ging durch den Körper von Prof. Heller und er taumelte rückwärts ins Freie. Nur dem schnellen Zugreifen von Olaf war es zu verdanken, dass der Gute nicht zu Boden stürzte. Doch der war alles andere als milde gestimmt: »Lastenschleuse? Lastenschleuse, Herr Bock? Was wollen sie damit sagen?«, kreischte dieser nun.
Julian, die Piloten und ich betrachteten die Szene noch immer etwas irritiert, als ein fast 2 Meter großes Elend auf zwei Beinen sich anschickte, nun ebenfalls, auf möglichst ungeschickte Art, die Maschine zu verlasen. Doch Olaf antwortete unterdessen völlig ungerührt: »Aber Professor! Einen Körper mit fest definiertem Volumen und nur begrenzter Verformbarkeit durch eine für eben diesen Körper zu enge Öffnung zu zwängen, widerspricht eigentlich den physikalischen Grundsätzen! Weshalb ich an ihrer Stelle der Lastenschleuse mit ihrer weitaus größeren Öffnung den Vorzug gegeben hätte.«
Das bisher schon rote Gesicht des Professors nahm nun einen noch dunkleren Farbton an. Doch entgegen unserer Erwartung platzte er nicht, sondern kicherte nur: »Olaf, sie sind wirklich unmöglich«, sprach´s und drehte sich zu uns um. Missmutig warf er uns einen Blick zu und grummelte: »Ah, da haben wir ja auch gleich zwei der Spaßvögel.«
Jetzt war ich eigentlich sicher, dass ich noch immer träumte. Dr. Neckler würde uns bestimmt nicht dieses seltsame Trio auf den Hals schicken. Unmöglich. Völlig ausgeschlossen.
Grinsend stupste mich Julian in die Seite und ich wusste, dass es kein Traum war. Wieso waren wir aber, nach Meinung des Professors, Spaßvögel? Etwas zögernd gingen wir auf die drei zu.
Denn inzwischen hatte sich auch der überdimensionierte Hungerhaken aus der nicht vorhandenen Umklammerung des Flugschraubers befreit. Seine überlangen Gliedmaßen sortierend gesellte er sich zum Professor und dessen linker Hand. So sah also die rechte Hand des Professors aus, die auf den Namen Jörg Hempel hörte und Doktor der Physik war, wie wir dann auch bald erfuhren.
Während die beiden Piloten langsam eine Palette nach der anderen aus der Maschine rollen ließen, musterte uns der Professor noch immer missgestimmt. »Ich weiß wirklich nicht, wie es ihnen gelungen ist, Dr. Neckler so zu verschaukeln. Dass es überhaupt keinen ernsthaften Beweis für so etwas wie PSI gibt, muss ich wohl nicht extra betonen. Von den ihnen unterstellten Fähigkeiten möchte ich dann schon gar nicht mehr reden. Das ist doch offensichtlich völliger Unsinn.«
»»Ah, jetzt, ja!««, war Julians einziger telepathischer, und nicht gerade hilfreicher, Kommentar zu dieser für uns doch relativ erstaunlichen Tatsache. Insbesondere, da es doch Telepathie überhaupt nicht gab! Für mich stand jedenfalls fest, dass es ein Irrtum war, anders konnte es gar nicht sein.
Da mir im Moment einfach nichts anderes einfiel, probierte ich es erstmal mit Höflichkeit. Freundlich lächelnd reichte ich Prof. Heller die Hand und sagte: »Sie haben sicherlich Recht, Herr Professor! Sicherlich lässt sich alles auch ganz anders erklären. Darf ich sie dennoch herzlich auf dem Campus-Occursus begrüßen?«
Jetzt sah mich Julian an, als hätte ich den Verstand verloren. Aber was sollte ich tun? Zuerst wollte ich wissen, warum Dr. Neckler uns diesen seltsamen Professor geschickt hatte. Denn, wenn das alles kein Traum oder Scherz war, dann hatte er bestimmt seine Gründe.
Während wir uns noch immer schweigend musterten, mir fiel wirklich im Moment nichts weiter ein, ergriff der Professor nach reiflicher Überlegung doch noch meine Hand. Der noch immer fröhlich lächelnde Olaf meinte dann tadelnd zum Professor: »Hatten Sie Dr. Neckler nicht versprochen völlig unbefangen an dieses Thema heranzugehen?«
Fluchtartig zog Prof. Heller seine Hand zurück und sein Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er gerade in eine Zitrone gebissen hatte. »Dass ihnen so ein Unsinn zusagt, Olaf, war mir natürlich klar. Ihnen gefällt ja alles, was nichts mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun hat. Wer hat mich nur dazu überredet, sie in mein Team zu nehmen?« Hilfe suchend wand er sich dabei an Dr. Hempel, der bisher geschwiegen hatte.
Doch der lächelt nur gequält und meinte völlig trocken: »Soweit ich mich erinnern kann, haben sie sich mit zwei anderen Kollegen darum gestritten, Olaf in unser Team zu bekommen.« Doch mit dieser Aussage schien er den Professor auch nicht zu erfreuen - so deutete ich wenigstens dessen Blicke.
Einigermaßen rat- und hilflos standen wir noch immer auf dem Landefeld, als die beiden Piloten, die die Maschinen inzwischen entladen hatten, mit den Startvorbereitungen begannen.
Ohne etwas zu sagen, begannen Julian und ich die Ausrüstung, die aus insgesamt fünf großen Paletten bestand, noch ein Stück vom Flugschrauber weg zu schieben. Auf dem glatten Betonboden ging das sehr einfach. Olaf half uns dann noch bei einer der Paletten, die ihm sehr wichtig zu sein schien.
Mit dem üblichen Getöse kuppelten schließlich die Piloten die gegenläufigen Rotoren ein und wenige Augenblicke später erhob sich die Maschine vom Landefeld, um dann schnell an Höhe zu gewinnen.
Als der Lärm nachließ, fragte Olaf uns, wie und wohin wir die Ausrüstung bringen wollten. »Wie viel Platz benötigen sie denn für das ganze Zeug?«, fragte ich zur Sicherheit.
»Och, ein paar Hundert Quadratmeter müssten eigentlich reichen«, grinste Olaf, der dabei interessiert das Gebäude betrachtete.
Inzwischen war auch Stefan eingetroffen, und seiner kaum zu übersehenden Heiterkeit nach hatte er wohl auch schon erfahren, dass es PSI-Phänomene in Wirklichkeit überhaupt nicht gab. Doch wie nicht anders zu erwarten, blieb er völlig ruhig und bot unseren Gästen eine Führung durch das Gebäude an. Er überließ es uns, zusammen mit Olaf, die Ausrüstung zu transportieren. Jetzt waren wir also nur noch Gepäckträger; wenn das Remo und Mischa sehen könnten.
Nach kurzer Beratung entschieden wir, dass wir das ganze Zeug am besten im ersten Obergeschoss vom B-Trakt unterbringen konnten. Der stand, wie die meisten anderen Gebäudeteile, sowieso leer und war zudem auch am nächsten.
Gemeinsam mit Olaf inspizierten wir also erst einmal die Räumlichkeiten, während Stefan mit dem Professor und Dr. Hempel einen Rundgang machte. Nebenbei erfuhren wir dann von Olaf, dass der Professor eigentlich ein sehr humorvoller Mann war. Er war angeblich nur deshalb etwas ungehalten, weil er eben an solche Dinge wie PSI nicht glaubte. Aber er war auch einer der besten Physiker von NeckTech und mit Dr. Neckler persönlich befreundet.
Als Olaf dann die Räumlichkeiten betrachtete, war er sehr zufrieden und meinte nur: »Wie sollen wir nur das ganze Zeug hier hinauf bringen? Einen Lastenaufzug gibt es hier wohl nicht?«
Julian lachte: »Nein, hier waren nur normale Schulungsräume, schwere oder sperrige Einrichtungen waren nicht vorgesehen. Aber die Fenster sind doch sehr groß, das müsste doch reichen?«
Ja, die Fenster! Da die Räume eine Höhe von ca. 4 Metern hatten, waren die Fenster entsprechend groß ausgefallen, wie das in Schulräumen eben so üblich ist. Man konnte bei Bedarf mehrere Segmente auf eine Seite schieben, so dass eine Öffnung von 5 Metern Breite und fast 3 Metern Höhe entstand. Durch das Fenster konnten wir in gerader Linie auf das Landefeld und die Ausrüstung sehen.
»Und wo bekommt man hier eine entsprechende Hub- und Transportvorrichtung? Einen Gabelstapler oder so etwas?«, fragte Olaf, und es schien ihm nicht sonderlich viel Freude zu bereiten, sich um derlei Dinge zu kümmern.
»Tja, wenn...«, Julian grinste ihn an.
»Wenn was?«
»Nun, wenn unsere Fähigkeiten eben nicht bloß Unsinn wären, dann sollte es kein Problem sein.«
»Klar, ein paar mal hin und her teleportiert und alles wäre hier«, lachte Olaf und sah uns an. »Ist einer von euch vielleicht Teleporter?«
»Teleporter nicht. Die brauchen aber auch keine offenen Fenster!«, lachte ich und konzentrierte mich auf die erste Palette.
Weder die Entfernung von gerade einmal 150 Metern, noch das Gewicht, das locker unterhalb von 2 Tonnen lag, waren eine besondere Herausforderung für uns. Sanft ließ ich die Palette ansteigen und dann auf uns zu schweben. Etwas erstaunt, aber keineswegs sonderlich überrascht, sah uns Olaf dabei zu, wie wir nacheinander die Paletten im Raum absetzten.
»Schade eigentlich, dass Prof. Heller nicht da ist«, meinte Olaf grinsend. »Würde mich wirklich interessieren, was für eine "natürliche" Erklärung er dafür finden würde.«
»Ich denke, mir würde da schon noch etwas einfallen. Wenn ich auch zugeben muss, dass ich sehr beeindruckt bin«, war plötzlich die nachdenkliche Stimme des Professors zu hören.
Wir drehten uns um. In der Tür standen Stefan, der Professor, Dr. Hempel und unser besonderer Freund Scotty.
Okay, eigentlich hieß er ja Scott McLeod und war Ingenieur der Elektrotechnik und hier im Campus mit seinem Team für alles Technische zuständig. Er war 1 Meter 80 groß, hatte schwarze, an den Schläfen schon leicht ergraute Haare, einen Schnauzer und war 35 Jahre alt. Außerdem hatte er sehr viel Humor und war ein unglaublich netter Mensch.
Olaf schmunzelte nur und meinte: »Davon bin ich überzeugt. Wie wäre es mit einer Schwankung im Gravitationsfeld?« Der Professor warf ihm nur einen leicht angesäuerten Blick zu und überging die Bemerkung einfach. »Es sieht so aus, wenigstens nach dem ersten Eindruck, als könnte unser Ausflug wirklich eine wissenschaftlich interessante Unternehmung werden«, bemerkte Prof. Heller und sah dabei Stefan eindringlich von unten an. Der Größenunterschied zwischen Heller, mit seinen 1 Meter 65, zu Stefan, der ja 1 Meter 90 maß, war schon sehr auffällig. Dr. Hempel mit seinen 1 Meter 98 überragte natürlich alle. Olaf Bock verdrehte nur belustigt die Augen, er schien sowieso alles völlig locker zu sehen.
Unterdessen hatte sich Scotty zu uns gesellt und grinste Julian und mich herausfordernd an. Dieser hatte sich gegen meine Brust gelehnt und hielt die Augen geschlossen: »Ja, was jetzt, schon müde? Ihr könntet mir doch wenigstens beim Aufstellen der Dinger helfen.«
Natürlich halfen wir ihm, zusammen mit Olaf, dann auch noch die nächsten drei Stunden. Wir übernahmen dabei hauptsächlich das Hantieren mit den teilweise recht schweren Gerätschaften, was uns dank Telekinese wirklich sehr leicht fiel.
Als es dann Mittag wurde, mussten wir die beiden geradezu zwingen, die Arbeit liegen zu lassen. Tom, Lukas und unsere beiden Hoods waren auch noch vorbei gekommen und gemeinsam gingen wir in die "Kantine". Wie schon erwähnt, war der Campus-Occursus früher eine Offiziersschule gewesen. Dementsprechend gab es hier auch eine großzügige Kantine, die allerdings inzwischen weitgehend modernisiert war.
Scotty nahm Olaf gleich in Beschlag und führte ihn zu seinen Leuten. Die beiden verstanden sich vom ersten Augenblick an. Wir hingegen setzten uns an unseren Stammplatz auf der Galerie. Die Kantine befand sich auf der vierten Ebene des Zentralgebäudes, welches im Zentrum einen 30 Meter durchmessenden "Lichthof" hatte. Von unserem Platz aus konnte man über den "Lichthof" auf den Eingangsbereich sehen.
Inzwischen waren Remo und Mischa auch etwas "aufgetaut" und unterhielten sich angeregt mit uns. Sie konnten es immer noch nicht so recht fassen, dass sie als erste hier sein durften. Alle Versuche, ihre Erwartungen im Zusammenhang mit dem Training etwas zu dämpfen, waren mehr oder weniger vergebens.
Nun, heute Nachmittag wollten wir, also Tom, Lukas, Julian und ich, in die "rote Burg", wie ich das jetzige Domizil der Hoods nannte, fahren. Falls sich nichts an den Plänen geändert hatte, würde uns Nico dann auf dem Rückweg begleiten, um auch mit uns zu trainieren. Vielleicht gelang es ihm dann, die, wie ich fand, doch zu hohen Erwartungen von Remo und Mischa ein wenig zu dämpfen.
4. - Bloody Sunday
I can't believe the news today
Oh, I can't close my eyes
And make it go away
How long...
How long must we sing this song
How long, how long...
'cause tonight... we can be as one
Tonight...
Broken bottles under children's feet
Bodies strewn across the dead end street
But I won't heed the battle call
It puts my back up
Puts my back up against the wall
Sunday, Bloody Sunday
And the battle's just begun
There's many lost, but tell me who has won
The trench is dug within our hearts
And mothers, children, brothers, sisters
Torn apart
aus "Bloody Sunday" von U2 (über einen der vielen "Blutigen Sonntage" Irlands)
"Sektor 20", Montag, 26.11.2035
Wir hatten vor gerade einmal 10 Minuten die "Stadtgrenze" von "Sektor 20" überquert, genauer gesagt überfahren. Überfahren deswegen, weil wir mit einem der neuen, schwarzen, E-Vans fuhren, die uns NeckTech zur Verfügung gestellt hatte. Doch schon nach wenigen Minuten ödete mich die Aussicht an.
Wir waren in letzter Zeit schon öfter hier in diese Sektor-Stadt gekommen, die allgemein nur "Sektor 20" genannt wurde. Nicht, weil die Stadt aus 20 Sektoren bestand, denn eigentlich waren es mit Sektor 0, dem Zentrums-Sektor, sogar 21, aber, wie gesagt, es gab einen anderen Grund für den Namen. Hier im 20. Sektor dieser Stadt hatte der "Blutige Sonntag" seinen Anfang genommen. Hier waren zuerst die Leute auf die Straße gegangen und hatten gegen die Unions-Marionetten-Regierung und deren Gesetze demonstriert.
In den Nachrichten, die damals unter staatlicher Kontrolle standen, hieß es nur von Unruhen im "Sektor 20". Doch da waren sie längst nicht mehr auf den einen Sektor beschränkt gewesen. Bald darauf hieß es in jedem der Sektoren: "Wir sind Sektor 20!"
Nun, das war alles Geschichte, und den Gebäuden der Stadt sah man ihre bewegte Geschichte auch an. Denn seit diesen Tagen wurde in dieser Stadt nichts mehr gemacht. Die damals verwüsteten Gebäude waren nie instand gesetzt worden. Und die noch ältere Geschichte der "Sektor-Städte" bedrückte eigentlich noch viel mehr.
Als man 2010 begann die Große Evakuierung zu planen, immerhin mussten europaweit mehr als 26 Millionen Menschen von den gefährdeten Gebieten in sichere Sektoren umgesiedelt werden, blieben nur zwei Jahre Zeit, die Zwischenlösung "Sektor-Stadt" zu planen und zu bauen. Entsprechend war das Ergebnis - eine bis ins Extreme gesteigerte Standardisierung. Einheits-Wohnungen, in Einheits-Gebäuden, in Einheits-Blocks, in Einheits-Quadranten, in Einheits-Sektoren, in Einheits-Städten. Jede Straße sah aus wie die andere, jedes Gebäude sah aus wie das andere, es war einfach erschreckend monoton.
Für den damals geplanten Zweck war es sicherlich sinnvoll. Wie sonst hätte man in so kurzer Zeit so viel Wohnraum schaffen können? Doch anders als geplant, blieben einige der "Sektor-Städte" bis heute bestehen. Der Frust derer, die hier gestrandet waren, war enorm. Doch sie hatten ja kein Stimmrecht, nicht einmal ihre Stadtverwaltung durften sie wählen, denn sie waren ja nur einfache Bürger. Bürger ohne Stimme und ohne Lobby.
Es war wohl der Treppenwitz des Jahrhunderts, dass hier, wo im Prinzip die "freie Republik" geboren wurde, nun die lebten, die in dieser Republik nichts zu sagen hatten. Was heißt "nun" lebten, "noch immer" lebten, wäre die korrekte Formulierung. Wie hieß es doch schon bei der Französischen Revolution: "Die Revolution frisst ihre Kinder", nun, bei dieser blieben sie einfach auf der Strecke.
Julian war ähnlich bedrückt wie ich. Wir beide kannten "Sektor 20" erst seit einem Monat, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen. Ich war als qualifizierter Bürger geboren worden, denn meine Eltern waren wohlhabend. Bei uns Zuhause war nie über so etwas gesprochen worden. Auch in der Schule, in Politik oder Geschichte, war dies alles nur eine Randbemerkung.
Tom und Lukas waren hingegen hier aufgewachsen, sie kannten sich hier aus. Wo ich noch immer alles als eintönig und monoton ansah, da sahen sie die Unterschiede sofort. Jedes in den Novemberunruhen zerstörte Gebäude, die unterschiedlichen Graffitis an den Wänden, alles eindeutige Zeichen, für den der sie lesen und deuten konnte. Sie waren hier die Spurenleser, die "Sektorindianer".
Ich hatte inzwischen viel gelernt, die Neckler-Bibliothek war da eine unschätzbare Hilfe gewesen. Dort stand, für jeden der es wissen wollte, die Geschichte der Sektor-Städte. Dort waren die Namen derer verzeichnet, die während der Novemberunruhen verschwunden, verschleppt, oder einfach ermordet wurden. Soweit man diese überhaupt ermitteln konnte. Und diese Liste war lang, sehr lang.
Alleine in den Tagen zwischen dem 13. und dem 29. November 2022 sollen mehr als 80.000 Menschen von den Unions-Truppen und deren Mark-13 ermordet worden sein. In den darauf folgenden Säuberungs-Aktionen, alles mit dem Ziel der Terroristenbekämpfung, starben dann noch einmal europaweit über 190.000 Menschen.
Am 14. März 2023 bekam dann General George William Smith im "Fort Benning" in Georgia die Rechnung für seine Verbrechen zugestellt. Es war die größte Thermonectit-Bombe, die es je gegeben hatte, die ein Agent der europäischen Abwehr zündete. Der General und die komplette Führungsriege kamen bei deren Explosion um. Die Zwangs-Union zerbrach und die "Dunklen Jahre" brachen mit dieser "März-Revolution" an. Aber das alles ist Geschichte. Geschichte, die man in der Schule so jedoch nie zu hören bekam.
Doch weder die Ablösung der Unions-Regierung, noch die Gründung der Republik änderte für die Bewohner der Sektor-Städte wesentliches. Und deshalb sind Städte wie "Sektor 20" noch immer genauso trostlos, wie sie es schon immer waren.
Lukas, der vorne neben Tom saß, drehte sich zu mir um und lächelte spöttisch: »Du denkst einfach zu viel nach. Ganz so schlimm wie du es siehst, ist es hier nun auch nicht. Es gibt immerhin viele Grünflächen, das Verkehrsnetz ist gut ausgebaut und viele hier haben Arbeit und sind relativ zufrieden. Richtige Armut gibt es nicht! Selbst als Tom und ich uns hier verstecken mussten, hatten wir immer eine freie Wohnung gefunden und immer etwas zu essen bekommen.«
Ich schaute ihm in die Augen, aber er meinte das wirklich ernst! Da war kein Funke Ironie bei ihm zu erkennen. Brot und Spiele? War das der Grund warum es hier nicht schon längst wieder zum Aufstand gekommen ist?
Oder sah ich vielleicht wirklich das alles zu negativ? Jedenfalls hatte Tom mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit die "rote Burg" erreicht. Das Hauptquartier der "ersten Generation" sah wirklich aus wie eine rote "Kinder-Sandburg".
Auf der Fläche eines Blocks erhob sich das Gebäude mit einer quadratischen Grundfläche von 64 x 64 Metern in eine Höhe von 30 Metern. An jeder der vier Ecken befand sich ein nach außen ragender Turm mit 25 Meter Durchmesser und einer Höhe von 55 Metern. Um die Burg komplett zu machen, gab es einen, allerdings überdachten, Innenhof von 30 x 30 Metern. Die Türme waren alle absolut flach und konnten als Landeplattform genutzt werden. Angeblich war es einmal als Feuerwache geplant gewesen, jedoch war es das einzige so gestaltete Gebäude in der ganzen Stadt.
Der "Ghost-Tower" war auch nur einer der vier Türme, genauer gesagt der Nord-Turm. In ihm gab es einen Saal, den nur wir und Pascal als Träger des "Telin", also des schwarzen Anhängers, den wir von Pascal bekommen hatten, betreten konnten. Alle anderen Personen bekamen regelrechte Panikattacken, wenn sie sich der Tür auch nur näherten.
In alten Zeiten hätte man sicherlich gesagt, der Ort sei verflucht. Jedoch neigte ich eher dazu zu sagen, dass der schwarze Obelisk, der im Zentrum dieses Saales stand, für diesen Effekt verantwortlich war. Unsere Anhänger bestanden scheinbar aus demselben Material wie der Obelisk. Er widerstand jeder Untersuchung und war weder aus Metal noch aus Stein. Leider hüllte sich Pascal zu diesen Merkwürdigkeiten völlig in Schweigen. Ohne ihn oder einen von uns konnte und durfte niemand den Raum betreten - basta! In unserer Begleitung, konnten aber auch andere in den Raum gelangen.
Den Hoods war es mehr oder weniger egal, sie hatten ein neues Hauptquartier, das schöner, größer und überhaupt..., jedenfalls fühlten sie sich in der "roten Burg" sehr wohl. Nur, wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Hier waren es die Nachbarn, von denen sich nicht jeder über die Anwesenheit der Hoods freute. Deshalb waren Frank und Eric fast ständig in der "Burg".
Als ich jetzt wieder durch die getönten Scheiben nach draußen sah, war die "Burg" schon nicht mehr in ihrer Gänze zu überblicken. Tom lenkte den Wagen wenig später in die Tiefgarage, wo wir schon von Eric und Nico erwartet wurden. Die Begrüßung war kurz, aber herzlich. Eric machte einen besorgten Eindruck, und gespannt folgten wir ihm zu dem Aufzug.
5. - Talking About A Revolution
Ahnt ihr nicht,
dass sie von Revolution reden?
Es klingt wie Geflüster!
aus "Talking about a Revolution" von Tracy Chapman
"Camelot", Montag, 26.11.2035
Die Besprechung fand in Robins Büro im Zentrums-Turm statt. Dieser Turm der "Burg" lag genau an der Grenze zum Zentrums-Sektor. Im Büro erwarteten uns Robin, Frank und Sandro. Letzterer war seit neuestem der Vertreter der "Normalos", da es sich bei den Hoods um eine gemischte Gruppe handelte.
»Willkommen in "Camelot"!«, begrüßte Robin uns mit einem schiefen Lächeln.
Aufgrund unserer fragenden Gesichter erklärte er: »Das ist der neue Name für diese Adresse. Irgendjemand hat ihn in Umlauf gebracht und nun ist er ein stehender Begriff. Wir sind jetzt also eine "mystische" Adresse«, sagte er etwas zynisch. So richtig zu gefallen schien es ihm aber nicht.
Lukas nahm es locker: »Besser als "Spuk- oder Geisterschloss", was mich ja auch nicht verwundert hätte.«
Zustimmendes Nicken. Wir hatten wirklich genug von diesen seltsamen Gerüchten, die inzwischen durch die einzelnen Sektoren geisterten. Camelot hatte wenigstens keinen direkten Bezug zu uns oder Geistern. Und eine Tafelrunde hatten wir ja inzwischen auch.
»Fragt sich nur wer Artus und wer Guinevra sein soll«, brummte Tom, dabei sah er Julian und mich anzüglich an.
»Wenn ihr keine größeren Probleme habt, bin ich mehr als zufrieden«, grummelte ich und setzte mich neben Julian an den großen, runden Tisch.
Robins Gesicht wurde ein wenig ernster: »Leider nicht, es ist zwar noch nichts passiert, aber wirklich ruhig ist es auch nicht.«
Julian brummte etwas und fragte dann: »Wie sieht es denn jetzt hier wirklich aus? Ich habe keine Ahnung, wie das hier im Sektor, also, ich meine, in der Stadt so zugeht.«
Robin, der inzwischen auch voll über Julian informiert war, nickte nachdenklich. Julian selbst hatte ihn über die Invitro-Sache informiert. So holte er tief Luft und begann dann mit einer kurzen Einführung.
»Also, wie und warum die "Sektor-Städte" gebaut wurden, darüber kann euch Mike sicher mehr erzählen.« Ich nickte zustimmend, mich interessierte Geschichte schon immer. Wenn man die Gegenwart einigermaßen verstehen will, sollte man die Vergangenheit kennen. Oder, wie ich es einmal gelesen habe: "Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen". Leider ist es aber auch immer wieder geschehen, dass selbst Personen, die die Geschichte kannten, wieder dieselben Fehler gemacht haben.
Doch Robin fuhr fort: »Wir, also die "Hoods", waren ja bisher immer nur in den Rand-Sektoren, dem Außenbereich, aktiv. Da mischen sich Industrie-, Gewerbe- und Wohngebiete. Wobei in der Gegend, wo wir zuletzt waren, wirtschaftlich überhaupt nichts mehr lief.
Ihr habt ja "Sektor 20" schon einmal aus der Luft gesehen, Die Wohn-Sektoren bilden ein großes Kreuz, bei dem jeder Balken drei Sektoren breit und zwei Sektoren lang ist. Im Zentrum ist der "Sektor 0", auch "Zentrums Sektor" genannt. Der wird umgeben von den acht "Kern-Sektoren". Diese Kern-Sektoren werden wiederum von den 12 "Ring-Sektoren" umschlossen. Je drei Sektoren dieser Ring-Sektoren grenzen oben, unten, rechts und links an die Kern-Sektoren. Danach kommen nur noch der Außenbereich mit den Industrie- und Gewerbe-Sektoren.
Hier sind wir in Sektor 6, einem Wohn-Sektor, von denen es insgesamt 20 gibt. Wie ihr ja gesehen habt, sieht hier jedes Wohngebäude weitgehend gleich aus. Sie sind absolut standardisiert und aus vorgefertigten Teilen gebaut worden.
Jedes Wohngebäude ist 80 Meter hoch und hat eine Grundfläche von 30 mal 20 Metern. Dabei hat jedes dieser Einheitsgebäude 20 Stockwerke, mit vier großen und zwei kleinen Wohneinheiten pro Stockwerk. Diese teilen sich die Fläche von ca. 600 Quadratmetern, abzüglich Wände, Treppenhaus, Fahrstühlen etc. Somit kommen pro Einheitsgebäude 120 Wohneinheiten zusammen.
Vier Einheitsgebäude bilden einen Block, vier Blocks einen Quadranten und vier Quadranten dann einen Sektor. Wenn man dann das Ganze mit 20 multipliziert, so bekommt man diese "wunderschöne" einheitliche Stadt.
Hier gab es, wie sich leicht errechnen lässt, einmal rund 155.000 Wohneinheiten. Man rechnete mit einer Durchschnittsbelegung von 4,5 Personen pro Wohneinheit, also mit ca. 700.000 Einwohnern. Nach aktuelleren Schätzungen leben hier aber nur rund 320.000 Menschen.
Inzwischen ist es so, dass sich die Ordnungskräfte nur noch auf ungefähr die Hälfte der Sektoren, beziehungsweise den Kern-Sektoren, zurückgezogen haben. Dort sind die Einwohner bereit, "ihren" Ordnungskräften etwas finanziell unter die Arme zu greifen. Im Prinzip läuft das dann auf eine Zusatzsteuer hinaus, manche nennen es auch schlicht Schutzgeld.
In den restlichen Sektoren ist dann alles noch etwas komplizierter. Es gibt große Gangs, die einen ganzen Sektor kontrollieren. Dies läuft dann meist auch auf Schutzgelderpressung und ähnliches hinaus. Dann gibt es Sektoren, die von mehreren Gangs zusammen oder gegeneinander kontrolliert werden. Da beschränkt sich die Herrschaft der Gangs meist auf ein oder zwei Quadranten.
Dann gibt es Gebiete, das können sowohl Sektoren als auch Quadranten sein, die von Bürgerwehren kontrolliert werden. Das sind mitunter die unangenehmsten Sektoren, da man nie so ganz sicher sein kann, wie die gerade drauf sind, während man bei den Gangs meist sicher weiß, ob man deren Gebiet betreten kann oder nicht.
Zuletzt gibt es dann auch noch die Sektoren oder Gebiete die von Mutanten kontrolliert werden. In der Regel ist das für die Normalos die billigste Lösung. Wo eine Mutanten-Gruppe ihr Gebiet hat, da haben Normalo-Gangs nichts zu sagen. Soweit ich weiß, gibt es nur eine Mutanten-Gruppe, die Schutzgelder erhebt. Alle anderen halten sich weitgehend an die Große Konvention, also kein Kontakt zwischen Normalos und Mutanten.«
»Und jetzt kommen wir und bringen das ganze System durcheinander!«, ergänzte Eric.
Robin nickte nachdenklich: »Wir haben es gleich mit mehreren Problemen zu tun. Wir, also die Hoods, haben uns noch nie um die Große Konvention gekümmert. Da wir aber im Außenbereich waren, hat davon sowieso kaum jemand gewusst. Dann haben wir hier einen Sektor übernommen, der bisher von niemand kontrolliert wurde, da er als Neutral galt. Ihr wisst schon, die Sache mit der "Bruderschaft", also der "ersten Generation".«
Ja, den Teil hatten wir dann von Pascal erfahren. Wir kannten die "Alten" ja nur unter dem Namen "erste Generation", doch der war ihnen erst nachträglich "angehängt" worden. Ihre Nachfolger, die sich dann selbst als die "nächste Generation" bezeichneten, und damit ihr Loslösen von den Vorstellungen der "Alten" unterstreichen wollten, hatten sie so genannt.
Sie selbst nannten sich damals nur die "Bruderschaft", Brüder im Geiste sozusagen. Die Sache mit den Templern kam dann erst später, als es die "Bruderschaft" schon gab. Sie fühlten sich als Beschützer aller Einwohner von "Sektor 20", und sie verlangten nichts dafür. Noch immer litt Pascal darunter, was aus all dem geworden ist. Doch bis jetzt hatten wir nicht aus ihm herausbekommen, was damals wirklich geschehen war. Woran war die "Bruderschaft" gescheitert?
Inzwischen fuhr Robin fort: »Ein weiteres Problem haben wir mit unseren Nachbarn. Es gibt hier in der Nähe eine Mutanten-Gruppe, die wahrscheinlich inzwischen von den Freien Mutanten "zurückgestuft" worden wäre, wenn nicht..., ja, wenn ihr nicht aufgetaucht wärt.«
Erstaunt sah ich ihn an: »Und warum jetzt nicht mehr?«
Jetzt war es Frank, der erklärte: »Wie ich euch schon einmal gesagt habe, zur Zeit ist hier alles unsicher. Die meisten Freien Mutanten sind durch euer massives Auftreten stark verunsichert. Dass ihr die Hoods unterstützt, die nicht nur die Große Konvention offen missachten, sondern jetzt auch noch als Nachfolger der "Bruderschaft" auftreten, macht die Sache nicht einfacher. Im Moment kennt kaum einer den Unterschied zwischen euch, den "Iratus Lemurum", die ja von Pascal als "rechtmäßige" Nachfolger der "Bruderschaft" angesehen werden, und den Hoods, die ja "nur" unter eurem Schutz stehen.
Zu alledem sind unheimlich viele Gerüchte über euch, die Hoods und die Auseinandersetzung mit den Catchern im Umlauf. Nach dem 27. Oktober setzte eine regelrechte Treibjagd auf die Catcher ein. Dass sie verwundbar sind, habt ihr deutlich gezeigt, den Rest besorgten die anderen Gruppen und auch verschiedene Gangs. Letztlich wurde das alles aber euch zugeschrieben, deshalb auch die Gerüchte.«
»Dagegen können wir aber jetzt auch nichts mehr machen. Ist ein Gerücht erst im Umlauf, kann man es nicht mehr stoppen, hier in den Sektoren sowieso nicht.«, meldete sich Tom zu Wort.
Sicherlich hatte er Recht, doch gefiel es mir ganz und gar nicht. Was wir da alles getan haben sollten, war alles andere als nach meinem Geschmack. Allerdings dachte ich, dass sich das wieder relativieren würde. Jetzt war es noch frisch, doch mit der Zeit würden einige Leute auch mal mit dem Nachdenken anfangen.
»Was ist das aber für eine Gruppe, die die Freien Mutanten "zurückgestuft" hätten, wenn...?«, wollte Lukas jetzt wissen.
»Es ist eine, die hier schon ziemlich lange aktiv ist. Wir selbst wissen noch relativ wenig über diese Gruppe. Wir haben nur von einer benachbarten Gang eine Warnung erhalten.« Robin grinste wieder ein wenig: »Hier zeigt sich der Vorteil, dass wir eine gemischte Gruppe sind. Jedenfalls soll es sich um eine ziemlich seltsame Gruppe und einen noch ungewöhnlicheren Chef handeln. Er, der Chef, lässt sich "King Roy" nennen und ist scheinbar etwas sehr seltsam drauf.
Von einem "Freelancer", also einem Mutanten, der, wie Frank, ganz ohne Gruppe arbeitet, haben wir erfahren, dass einige von "King Roys" Leuten nicht freiwillig für ihn arbeiten, sondern Hypnose oder Suggestion im Spiel ist.«
»Solche Gerüchte kommen immer mal wieder auf, scheinbar ist es einem "Hypno-Mutanten" möglich, einer Person einen so genannten "Hypnoblock" zu verpassen. Das soll dann eine bleibende Beeinflussung sein, die ihn dann zum Beispiel zur absoluten Treue zwingt. Ein so beeinflusster Mensch würde jede Anweisung, die er von seinem "Herren" bekommt, bedingungslos ausführen. Ich habe auf diesem Gebiet aber keinerlei Erfahrung«, erklärte uns Frank.
Plötzlich klopfte Nico, der bisher nur zugehört hatte, auf den Tisch: »Ich kenne einen "Freelancer", der auch Hypno ist. Er war mit noch einem anderen Mutanten von den Catchern mit Gas betäubt worden, das war noch bevor Robin in die Falle geriet. Ich habe sie einfach per Teleportation aus dem Wagen geholt und sie in unser damaliges Versteck gebracht, bis sie wieder einigermaßen fit waren.«
Ich musste grinsen, kein Wunder, das die Catcher so sauer auf die Hoods waren. Das dürfte inzwischen eher noch schlimmer geworden sein. Ein Grund mehr, die Ausbildung der Hoods zu forcieren.
Robin grübelte eine Weile und sagte dann: »Ja, ich weiß noch. Leon, Leon Walleras! Das war der Hypno.«
»Den kenne ich. Ich dachte aber, er sei nur Telepath?«, rief Frank überrascht.
»Nein, er sagte selbst, dass er Hypno sei und den Catchern demnächst mal einen "Block" verpassen würde, so dass sie für die nächsten Wochen glauben würden, dass sie einander jagen müssten«, erklärte Nico grinsend.
»Aber wo ist jetzt das Problem mir diesem "King Roy"?«, wollte ich wissen. Gab es da mehr als eine vage Warnung und ein paar Gerüchte?
Robin schaute überrascht auf: »Er will scheinbar, dass ihr euch ihm anschließt. Ihr sollt so was wie seine "Vasallen" werden, das wenigstens hat man mir zugetragen.«
Ups! Das war dann doch wirklich mal was Interessantes. »Aber gemeldet hat er sich bis jetzt noch nicht bei euch?«, wollte ich es nun doch etwas genauer wissen.
»Nein, aber das ist auch nicht üblich! Wenn es zu so einem Anschluss oder Zusammenschluss zweier Gruppen kommen soll, dann werden erst Gerüchte gestreut. Dann wird erwartet, dass der Schwächere auf den Stärkeren zugeht. Er fühlt sich scheinbar als der Stärkere und die Gerüchte sind eine Art von Einladung oder auch Herausforderung.«
Ich sah in die Runde. Erics Lippen zuckten schon. Wieder einmal ahnte er, wie ich auf so was reagieren würde. »Wenn er etwas von uns will, dann soll er kommen! Ich habe echt keine Lust, mich auf solche Spielchen einzulassen.«
Julian ergänzte dann auch noch: »Außerdem habe ich keinerlei Interesse ein Vasall eines durchgeknallten "Möchtegern-Königs" zu werden. Und mit der Umschreibung "sehr seltsam drauf" war doch wohl gemeint, dass dieser Kerl einen Knall hat. Oder?«
Frank und Robin grinsten, während Nico antwortete: »Du weißt doch, bei Mutanten sind wir etwas vorsichtig, die neigen manchmal zu extremen Reaktionen. Aber nach allem, was ich bis jetzt gehört habe, hält er Hof wie ein französischer König, fordert Steuern von seinen "Untertanen" und nennt seinen Gruppe "Spartaner". Da kann sich jeder seinen Teil dazu denken.«
Und ich dachte, mich könnte nichts mehr von dem, was hier im Sektor so abgeht, überraschen. Frank, der sich, wie inzwischen üblich, ein wenig bei mir eingeklinkt hatte, murmelte nachdenklich: »Das denkst aber wirklich nur du, Mike, dabei hat Robin die "Morlocks" noch gar nicht erwähnt.«
»Die was?«, rief Eric erstaunt.
Robin sah uns schuldbewusst an: »Als ich "Sektor 20" beschrieb, habe ich den "Untergrund" vergessen. Hier unter der Stadt befindet sich noch eine weitere Stadt. Es gibt ein weit verzweigtes Tunnelsystem, Einkaufszentren und Spielhallen. Alles was nicht unbedingt Tageslicht benötigt, wurde unterirdisch angelegt. Aber auch Schutzbunker und Produktionsanlagen sind im "Untergrund" zu finden. Immerhin wurde hier im "Sektor 20" ein großer Teil der für Europolis benötigten Bauteile hergestellt. Die meisten Anlagen sind natürlich inzwischen verfallen oder demontiert.
Jedenfalls es gibt nicht nur "Positiv-Mutanten", also Mutanten, die wie normale Menschen aussehen und über PSI-Fähigkeiten verfügen. Es gibt auch die "Negativen". Und die "Negativen", die fast nichts menschliches mehr an sich haben, nennt man "Morlocks". Das kommt aus irgendeinem Roman. Und diese "Morlocks" haben sich in die alten Produktionsanlagen und diversen unterirdischen Katakomben zurückgezogen.
Hier, in den Stadt-Sektoren tauchen sie so gut wie nie auf, auch nicht in den "oberen" Untergrundanlagen. Aber in den Außenbereichen, wo wir früher waren, kommen sie ab und zu in der Nacht nach draußen.«
Jetzt war ich wirklich mittelprächtig fassungslos! Von alledem hatte ich bisher mehr oder weniger viel gehört. Bandenkriege, Schutzgeld, Mutanten, korrupte Polizei, Bürgerwehren und alles andere war nichts wirklich Neues. Dass es dabei auch ein paar größenwahnsinnige Mutanten geben soll? Warum nicht, es gab auch immer und zu jeder Zeit größenwahnsinnige Normalos. Die Geschichte ist voll davon. Doch das mit den "Morlocks" war nun wirklich ein heftiger Brocken.
Der Roman, den Robin erwähnt hatte, war eine SF-Geschichte von H.G. Wells, "Die Zeitmaschine", und die "Morlocks" waren dort degenerierte bzw. mutierte Menschen in einer sehr weit entfernten Zukunft. Dementsprechend betroffen schauten wir uns an. Selbst Tom und Lukas, die hier im "Sektor 20" aufgewachsen waren, hatten davon noch nie etwas gehört.
»Die wenigsten wissen, dass es die Morlocks wirklich gibt. Nur wer oft in den Außenbereichen ist, kommt ab und zu mit ihnen in Kontakt. Es gibt durchaus auch welche, die nur einfach erschreckend aussehen, aber sonst durchweg normal sind. Doch ohne Kontakt zu Menschen und ohne Ausbildung werden sie immer "Kreaturen" bleiben. In der Regel meiden sie die "normalen" Menschen, zu denen dann auch wir zählen.«
»Das wird ja immer komplizierter! Wir hatten eigentlich geplant, mit euch zusammen gegen die Darwinianer und deren Catcher vorgehen zu können. Und Dr. Neckler unterstützt uns unter anderem deshalb, damit wir solche Typen wie "King Roy" unter Kontrolle bringen«, erinnerte ich unsere Freunde.
»Inzwischen wird das Ganze aber langsam ganz schön unübersichtlich«, murmelte Julian zustimmend.
»Wie verhalten sich die Gangs, also die Normalo-Gruppen, in der Nachbarschaft?«, wollte Lukas dann erfahren.
»Da gibt es die wenigsten Probleme. Die Kern-Sektoren 1 bis 5 und Nr. 8 sind kontrollierte Sektoren, also unter Kontrolle von Polizei oder Bürgerwehr.
Sektor 6, also unser Sektor, war bis jetzt ohne "Besitzer". Und Sektor 7, also der, welcher im Norden an unseren grenzt, steht scheinbar unter der Kontrolle von dem schon erwähnten "King Roy".
Direkt im Süden grenzt unser Sektor an den Sektor 17, der von einer Normalo-Gang, den "Drachen", kontrolliert wird. Die mögen zwar Mutanten nicht sonderlich, doch sind sie froh, dass wir jetzt zwischen ihnen und "King Roy" stehen.
Sektor 18, im Westen von uns, ist dann ein Multi-Gang-Sektor, in dem drei Gangs relativ friedlich existieren.
Über den Sektor 19, nord-westlich von uns, und Sektor 16, süd-östlich von uns, weiß ich im Moment nichts. Doch da es Ring-Sektoren sind, werden sie wahrscheinlich unter Kontrolle einer Gang oder einer Mutanten-Gruppe sein.«
Frank ergänzte dann noch: »Sektor 18 könnte allerdings Probleme machen, da es drei Gangs sind, die sich vier Quadranten teilen. Relativ friedlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass da kein offener Bandenkrieg tobt, mehr aber auch nicht.«
Julian sah mich an und meinte nur: »Ich will hier raus! Wie kann man das nur aushalten?«
Nico zuckte mit den Schultern: »Wir sind hier geboren. Wir kennen es nicht anders! Früher waren wir allerdings in einem Außenbereich und hatten nur ab und zu Kontakte zu ein paar Gangs. Das hier ist also auch für uns nicht sonderlich einfach.«
»Kontakte - so wie relativ friedlich?«, hakte Julian nach.
Robins und Nicos ironisches Lächeln bestätigte seine Befürchtungen.
»Wir müssen auch aufpassen, dass sich die Normalos der Hoods nicht benachteiligt fühlen, wenn wir mit der Ausbildung wie geplant beginnen«, brachte Eric dann gleich das nächste Thema auf den Tisch.
»Das ist nach meinem Eindruck überhaupt kein Problem! Die ersten fünf, die bei euch, beziehungsweise bei Martin van Stein, die Werkschutz-Ausbildung machen, sind gerade vom Austausch zurück und sehr begeistert«, beruhigte uns Sandro.
Wir, oder genauer Martin, hatte sich dazu bereit erklärt, 15 der Hoods im Bereich Werkschutz auszubilden. Je fünf verbrachten 14 Tage bei uns auf dem Campus und dann wieder 4 Wochen hier. Wobei sie natürlich auch hier von zwei Mitarbeitern des NeckTech-Werkschutzes betreut wurden. Diese waren hier, weil wir auch immer mit einer gezielten Aktion der Catcher rechnen mussten.
Aber auch für Sandro hatte sich die Situation wesentlich geändert. Er hatte inzwischen seine offizielle Zulassung wieder erhalten und hier in der "roten Burg", die jetzt nur noch "Camelot" hieß, eine Krankenstation eingerichtet. Diese stand natürlich allen offen, nicht nur den Hoods.
»Ein Auseinanderbrechen der Hoods wollen wir auf jeden Fall vermeiden. Das wäre das Letzte, was wir gebrauchen können«, murmelte Tom. Auch er schien langsam angesichts der Probleme etwas besorgt zu sein.
»Okay«, fasste ich zusammen, »So wie es aussieht, haben wir keinen dringenden Handlungsbedarf. Die Catcher und Gangs verhalten sich im Moment ruhig. Was diesen "King Roy" angeht, so bin ich dafür, dass wir einfach mal abwarten. Wir stehen schon genug im Rampenlicht, und ich denke, wir sollten die Freien Mutanten nicht noch mehr reizen« Ich sah in die Runde und jeder signalisierte Zustimmung.
»Nico, willst du heute schon mit uns gehen, oder hat sich da etwas geändert?«, wand ich mich direkt an unseren "Bombenleger".
Da ich noch immer die Abschirmung unten hatte, grinste er mich frech an und fasste sich dann aber gleich an die Schulter. Da hatte ihn Erics MikroRak getroffen, aber die Sache war ja schon lange vergessen.
»Ich werde gleich mit euch mitfahren - und ich bringe garantiert keine Thermaldetonatoren mit«, dabei blitzten seine Augen spöttisch.
Damit war unsere "Tafelrunde" dann auch beendet. Und zusammen mit Eric und Nico machten wir uns auf den Rückweg.
6. - Forever Young?
Campus-Occursus, Montag, 26.11.2035
Es war kurz vor 18 Uhr als wir wieder in unserem Campus-Occursus eintrafen. Die Rückfahrt war relativ spaßig. Eric und Nico erzählten vom Umzug der Hoods nach "Camelot", diese Bezeichnung würde sich jetzt wohl wirklich durchsetzen. Es war jedenfalls zu einigen Begegnungen mit anderen Mutanten und auch diversen Normalos gekommen. Zum Glück war aber alles recht friedlich verlaufen.
Kaum angekommen wollte Nico auch gleich seine beiden Freunde Mischa und Remo suchen. Wir spürten sie dank Telepathie recht schnell unter dem Kuppeldach auf. Dorthin hatten wir schon einige Gerätschaften, Matten und andere Ausrüstung für das Training, gebracht. Auch der Holotrainer war inzwischen von Scotty installiert worden, wie wir jetzt feststellen konnten.
Die Begrüßung der drei war sehr ausgelassen. Mischa und Remo erschienen wie ausgewechselt. Das gab mir dann doch zu denken, bis ich Julians Hand auf meiner Schulter spürte. »»Für die beiden sind wir so etwas wie Helden, denk doch nur, wie das am 27. war. Ohne uns wären sie wahrscheinlich alle tot oder in einem Labor der Darwinianer««, versuchte Julian meine Bedenken zu zerstreuen.
»»Außerdem wirkt diese Umgebung auch etwas einschüchternd««, meldete sich Lukas auch noch telepathisch zu Wort.
Als ich mich zu Tom umdrehte, sein Kommentar fehlte ja noch, grinste dieser nur und ließ stattdessen telekinetisch eine Gipskugel auf mich zu schießen. Bruchteile einer Sekunde später war diese Kugel nur noch eine weiße Wolke, die Julian und mich einhüllte. Ich hätte sie doch lieber telekinetisch abwehren sollen, anstatt sie zu desintegrieren.
Während wir im Staub um Atemluft kämpften, erging es Lukas, Eric und Tom genauso, aber nur, weil sie vor lachen nicht mehr konnten. Grummelnd konzentrierte ich mich auf die drei und ließ sie über den glatten Bodenbelag schlittern. Doch bei Eric griff ich plötzlich ins Leere, ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm.
Tom und Lukas, die gerade einen Gegenangriff starten wollte, zögerten, als sie meine Verwirrung spürten. »Was ist passiert?«, wollte aber auch Julian wissen. Er war, noch immer grau wie ich auch, sofort zu mir gekommen, als er meine Überraschung bemerkte.
Anstatt etwas zu sagen, tastete ich wieder nach Eric. Ich sah ihn, aber ich spürte ihn nicht! »»Julian, versuch mal Eric zu sondieren««, sendete ich und ging langsam auf Eric zu.
»»Da ist nichts! Ich kann ihn nicht spüren««, meldete sich Julian gleich darauf.
Eric hatte inzwischen bemerkt, dass wir uns mit ihm befassten und sah mich neugierig an. »He Mike, hast du einen Geist gesehen? Du bist so weiß im Gesicht«, scherzte er, was aber auch angesichts unseres Namens immer zutraf.
Da er noch immer auf dem Boden saß, setzte ich mich neben ihn. Doch selbst auf diese Entfernung konnte ich ihn nicht erfassen. Weder telepathisch noch mittels Telekinese, es war, als wäre er nicht da. Doch er war da! Ich konnte ihn sehen und anfassen.
Tom und Lukas, die sich zu mir gesetzt hatten, schüttelten auch nur den Kopf, ihnen ging es genauso wie mir. »Nico? Kannst du ihn erfassen?«
Nico, Remo, Mischa und Julian waren jetzt auch da und sahen auf den jetzt doch etwas nervös werdenden Eric herunter. »Nichts zu machen! Als wäre er nicht da«, sagte dann Nico erstaunt. Mischa und Remo nickten zustimmend und jetzt begriff auch Eric um was es ging.
»Hast Du dich abgeschirmt? So wie wir es trainiert haben?«, fragte ich ihn.
»Nein, diesmal ist es anders! Ich spürte dich nicht, es ist völlig anders als bei der Telepathie«, murmelte er nachdenklich.
Ich ließ ihm Zeit. Er kannte uns jetzt lange genug, so dass er wusste, auf was es uns ankam. Nach einigen Nachdenken sagte er dann: »Wenn du mich sondierst, dann spüre ich das im Hinterkopf, nur so ein leichtes Kribbeln. Wir haben ja trainiert, auch noch mit Frank, ich kann mich abschirmen wie ihr auch.« Ich nickte zustimmend.
Deshalb hatte er ja auch auf das Implantat verzichten können. Er war einer der wenigen "Normalos", die sich aktiv und sehr stark abschirmen konnten.
Nach kurzem Nachdenken beschrieb er nun weiter: »Als du jetzt nach mir gegriffen hast, da spürte ich es am ganzen Körper. Es war wie ein elektrisches Kribbeln, so wie man einen schwachen Strom spürt, nur eben am ganzen Körper«, er wurde richtig rot und grinste dann, »An manchen Stellen fühlte es sich wirklich gut an!«
Ich musste auch lachen und umarmte ihn leicht, auch die anderen dachten sich ihren Teil, so wie es aussah.
Dann fuhr er ernst fort: »Also, ich spürte dieses Prickeln, während ich so über den Boden schlitterte und dann war da so ein seltsames Gefühlt, es war, als könne ich einen "neuen" Muskel anspannen, es war..., nein, es ist noch immer da! Es ist seltsam, aber ich spüre auch jetzt noch die Anspannung, obwohl ich es nicht bewusst mache.«
»Ganz ruhig«, flüsterte ich, während ich ihn noch ein wenig fester umarmte. »Schließe deine Augen und konzentriere dich auf diesen "Muskel". Hast du ihn?«
Eric nickte mit geschlossenen Augen. Jetzt spürte ich auch seine körperliche Anspannung. »Jetzt versuch diesen "Muskel" zu entspannen. Ganz vorsichtig. Versuch aber dir zu merken, wie du ihn erreichen kannst. OK?«
Ich musste nicht erst auf seine Bestätigung warten, denn auf einmal war er wieder da. Und so wie ich Julians Lächeln deutete, auch für alle anderen. Ich tastete vorsichtig nach seinem Bewusstsein. Und wieder erstaunte mich das Vertrauen, das Eric zu mir hatte. Jeder Mensch, der einen Telepathen spürt, zuckt unwillkürlich zurück. Eric hingegen blieb völlig ruhig. Das Ganze hat ihn überhaupt nicht angestrengt, konnte ich nun zu meiner Überraschung feststellen.
Natürlich spürte er mich, und lächelt mir zu: »Alles wieder in Ordnung?«
Ich schüttelte zu seiner Verwunderung den Kopf: »Nein! Jetzt versuch es noch einmal. Versuche den "Muskel" ohne äußeren Anlass anzuspannen, OK?«
Er sah mich nur einen Augenblick verwundert an und begriff dann sofort. Da ich noch immer bei ihm eingeklinkt war, konnte ich wieder einmal seine merkwürdig systematischen Gedankengänge verfolgen. Wenn es ihm gelang, ohne äußeren Anreiz diese Sache unter Kontrolle zu bringen, wäre es ihm möglich, sich an jeden Mutanten heranschleichen, ohne dass der ihn entdecken konnte.
Vorsichtig zog ich mich zurück und wenig später spürte ich, jetzt über meinen Arm, wie er sich anspannte. Als er mich auffordernd ansah, griff ich telepathisch wieder ins Leere. Es war ihm also möglich. »Wow, langsam wirst du eine Gefahr für uns«, brummte Tom. Aber sein breites Lächeln signalisierte Eric gleich, dass keiner von uns sich wirklich von ihm bedroht fühlte.
Das war aber auch notwendig, denn Eric wusste nur zu genau, wie wir auf Bedrohungen reagierten. Aber Eric gehörte zu uns, jetzt noch mehr als zuvor. Und Tom oder Lukas, und Julian sowieso, wären eine viel größere Bedrohung für jeden von uns. Also warum sollten wir uns dann von Eric bedroht fühlen?
Ich spürte, wie er diesen Schutzschild oder Tarnkappe, was wohl die Sache noch besser traf, wieder abbaute. Am interessantesten war aber noch die Reaktion von unseren drei Gästen.
»Geht ihr immer so vor?«, fragte Nico erstaunt.
»Wie meinst du das jetzt?«, fragte Julian etwas unsicher zurück.
»Ich meine, wenn ihr auf etwas Neues stoßt, woher wusste Mike wie das geht?«
Ich musste jetzt wirklich grinsen, denn genau das war ja auch das Problem gewesen, das wir am Anfang hatten. Die meisten Mutanten, das wusste ich inzwischen von Frank, hinterfragten ihre Fähigkeiten nicht. Sie nahmen sie zur Kenntnis und wandten sie dann mehr oder weniger erfolgreich an.
Wir hatten es uns aber inzwischen angewöhnt, alles unter dem Aspekt der PSI-Energie und deren Strömung zu sehen. Nichts geschah auf der PSI-Ebene, ohne dass irgendwie PSI-Energie und ein Gehirnsektor im Spiel war. Erics neuer "Muskel" war nichts anderes als seine Interpretation eines plötzlich aktiv gewordenen Gehirnsektors. Sein Gehirn, oder Verstand, oder wie auch immer man es nennen wollte, bot ihm als Hilfe, als eine "Brücke", einen neuen Muskel an, damit er diese "Tarnkappe" nutzen konnte.
Das versuchte ich unseren Gästen klar zu machen, wobei einiges davon auch für Eric neu war, da er sich für seine "normale" Abschirmung nicht so intensiv mit unserer PSI-Theorie beschäftigt hatte.
Doch wie hing das alles zusammen? Eine solche Tarnkappe passte im Moment einfach nicht so recht in mein bisheriges Modell.
»»Und wieso kann Eric so was überhaupt?««, unterbrach Julian meine Gedanken.
Vorsichtig ließ ich mein Reiki in Eric strömen. Ja, auch bei ihm spürte ich jetzt das Reiki selbst. Wir hatten es ganz ohne jeden Zweifel auf ihn übertragen. Ich musste lachen, und umarmte ihn noch fester. »He, Willkommen im Club! Im Club der Mutanten.«
Auch den anderen war natürlich klar, dass dies eine sehr seltsame Sache war. Ich weiß nicht wie, und schon gar nicht warum, aber Eric war ein Mutant! Und er war es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vor einem halben Jahr noch nicht. Im Prinzip war er also, wie wir auch, ein Transmutant. Doch wie ist er zu einem Mutanten geworden?
Das war dann auch Erics erste Frage: »Äh, nicht das es mich stören würde, aber wie ist das möglich?«
Ich sah ihn nachdenklich an: »Eric, schon von Anfang an war bei dir einiges sehr seltsam. Uns fiel schon im Aufzug, in dem wir zur Zentralstation fuhren, auf, dass du auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise gedacht hast. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, es war eben anders als "normale" Menschen denken.
Später konntest du dich gegen Telepathie abschirmen. Du hast das innerhalb so kurzer Zeit perfektioniert, dass selbst Frank erstaunt war. Auch wenn er es dir gegenüber nie gesagt hat.
Und dann schließlich am 27. Oktober, als du dir die Hand verbrannt hattest. Du weißt doch noch, wie wir am nächsten Tag darüber gesprochen haben und ich dir gesagt hatte, da wäre nichts? Damals spürte ich noch eine Rest-Energie von Reiki. Du hast dich selbst geheilt! Schon dort war das Reiki bei dir aufgetreten.
Wir haben bisher nichts gesagt, auch, weil wir uns selbst nie so ganz sicher waren, aber jetzt ist es klar: Du bist einer von uns.«
Er sah mich zuerst etwas ungläubig und dann nur noch nachdenklich an: »Aber wie? Das Reiki habt ihr auch an Robin und Frank übertragen. Vielleicht hat es mit der Dauer und der Intensität einer Behandlung zu tun? Ich war schwer verletzt, und Robin auf eine gewisse Art ja auch, seine Behandlung dauerte am längsten. Und bei Frank? Da habt ihr fast eine dreiviertel Stunde eure Kräfte wirken lassen, für eine doch in euren Augen minimale Verletzung«, noch immer sah er mich fragend an.
Ich bewunderte einfach seine Herangehensweise. Er stellte die an sich erstaunliche Tatsache nicht in Frage. Er arbeitete sich stattdessen einfach zu der Ursache vor. Ja, bei allen Fällen war entweder über längere Zeit oder sehr intensiv mit Reiki gearbeitet worden. Auch Julian, von dem ich ja das Reiki bekommen hatte, hatte mich ausgiebig damit "bearbeitet".
Flüchtig sah ich zu ihm hoch und musste dabei wieder grinsen, als ich daran dachte, wie und weshalb er mich "bearbeitet" hatte. Nun, mein "kleines" Problem war jedenfalls nach der Behandlung keines mehr.
»Gut, das könnte eine Erklärung für das Reiki sein. Reiki ist ja an sich keine PSI-Fähigkeit, wenn es auch durch unsere PSI-Fähigkeiten verstärkt wird. Diese Art wie du denkst, könnte auch antrainiert sein. Man kann durch spezielle Schulung das Gehirn durchaus dazu bringen so "systematisch" zu denken. Aber der "Tarnkappen-Effekt" ist eindeutig eine PSI-Fähigkeit«, gab Julian zu bedenken.
»Heißt das, ihr könnt diese Reiki-Heiler-Kräfte beliebig weitergeben?«, wollte Nico jetzt erfahren. Er und seine Freunde hatten bisher mehr oder weniger nur zugehört. Da er bei Robin und sich selbst gesehen hatte, wie stark das Reiki sein konnte, war sein Interesse mehr als nur verständlich.
Ich sah zu ihm auf, und dann auch in die gespannten Gesichter von Tom und Lukas und mir wurde klar, dass wir da wohl mal wieder etwas übersehen hatten. Natürlich wären auch Tom und Lukas daran interessiert Reiki zu beherrschen. Versprach es doch im Prinzip die ewige Jugend, denn wer sich ständig selbst heilt, könnte doch eigentlich überhaupt nicht mehr altern. Vielleicht sogar nicht einmal sterben?
Auch Julian erkannte natürlich genauso die plötzliche Anspannung der Anwesenden. Wir hatten uns nie groß Gedanken darüber gemacht, auch weil wir einfach keine Zeit dazu gehabt hatten. Im Labor dachten wir noch, dass mein Reiki eben mit Dr. Brunners "Behandlung" zusammenhing. Erst als es dann bei Eric, Frank und Robin deutlich wurde, war klar, dass es etwas anderes war. Aber das war dann erst vor zwei Wochen gewesen.
»Kommt, setzt euch alle mal hin!«, murmelte ich, weil ich auch keine Lust hatte, ständig zu den Jungs aufzusehen. »Also so richtig wissen wir nicht, wie es möglich ist! Aber nach allem was bis jetzt war, sind wir, also Julian und ich, der Meinung, es hat etwas mit der Dauer und Intensität der Reiki-Behandlung zu tun, wie es Eric auch schon vermutet hat.«
Noch immer sahen uns die Jungs gespannt an. »He, ich weiß auch nicht, ob es einfach möglich ist, das Reiki durch Handauflegen weiter zu geben. Julian hat das Reiki damals von Ralf bekommen, doch der starb ja noch im Labor. Der wusste scheinbar über das Ganze wesentlich mehr, denn er hat das Reiki gezielt an Julian weitergegeben.
Alles was wir versuchen können ist, es einfach auszuprobieren. Aber dazu brauchen wir etwas mehr Ruhe. Bei Eric war das anders, zu der Zeit waren wir wesentlich stärker«, ich musste lachen. Die Jungs sahen uns, also mich und Julian, ungläubig an.
Julian ergänzte: »He, was habt ihr denn erwartet? Wir begannen es auch erst vor ein paar Wochen zu ahnen. Und ihr alle solltet wissen, was da alles in der Zwischenzeit zu tun war. Wir hatten einfach keine Möglichkeit - und ehrlich, wir hatten einfach auch ein wenig Angst. Ihr wisst schon, das ewige "Heiler-Problem". Es ist ja nicht nur Frank, der uns ständig davor warnt die Sache publik werden zu lassen. Auch Robin will nicht, dass es bekannt wird.«
Tom sah auf und meinte dann: »Wenn es wirklich so ist, wie ihr vermutet, dann dürften sehr viele Menschen Interesse daran haben. Es dürfte genug geben, die einige Millionen, wenn nicht sogar Milliarden dafür zahlen würden, nahezu unsterblich zu sein.«
»Und die Darwinianer? Die würden wohl alles dafür tun, genau so etwas zu verhindern. Eine Armee von Mutanten, die für immer jung bleiben, die sich selbst heilen können, das müsste geradezu ein Alptraum für sie sein«, gab Eric zu bedenken.
Ja, auch daran sollten wir denken. Ich sah noch einmal in die Runde »Also bitte Jungs, behaltet es erstmal für euch. Wir werden sicherlich niemandem das Reiki vorenthalten. Aber wir brauchen doch noch etwas Zeit. Ganz so einfach ist es leider eben nicht. So eine Behandlung wie bei Robin oder Frank kostet uns auch einiges an Kraft.«
Die Jungs nickten zustimmend. Was sollten sie auch sonst tun? Für mich war klar, dass wir nicht jeden, dem wir begegneten und mochten, mit Reiki ausstatten konnten. Und wenn es bei den anderen dann genauso ging? Schließlich hatte ich das Reiki von Julian bekommen. Konnte ich es alleine weitergeben oder war da doch noch mehr? Wenn ich es weitergeben konnte, konnte es dann Frank, Robin und Eric auch? Das könnte dann bald eine regelrechte Kettenreaktion auslösen.
Langsam standen wir auf und sahen uns an. Jedem war klar, dass, egal wie es weiterging, es nicht einfach werden würde. Es war inzwischen schon reichlich spät geworden und so beschlossen wir erstmal, nachdem Julian und ich uns ein wenig gesäubert hatten, uns zurück zu ziehen. Nico, Remo und Mischa hatten auch ein gemeinsames Apartment im Wohnblock bezogen. Und in unserem war natürlich auch Platz für Eric.
7. - Some Things Never Change
Campus-Occursus, Dienstag, 27.11.2035
Das Thermometer zeigte inzwischen 600 Grad Celsius an, doch die Temperatur stieg noch weiter an. Außerhalb der transparenten Kugel, die sich in einem Wasserbehälter von 10 Metern Durchmesser befand, blieb die Temperatur bei ungefähr 21 Grad Celsius. Die Kugel, die einen Durchmesser von 1,24 Meter hatte, war nur mit Luft gefüllt. Mit ziemlich genau einem Kubikmeter inzwischen sehr, sehr heißer Luft. Julian stand, leicht angespannt und völlig konzentriert, im Raum, während das Trio aus Prof. Heller, Dr. Hempel und Ing. Bock gespannt die Anzeigen der diversen Messeinrichtungen kontrollierten.
Prof. Heller wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung den Schweiß von der Stirn. Längst hatte er seine Vorurteile, dass es so etwas wie PSI nicht geben würde, über Bord geworfen. Die telekinetische "Vorstellung" am Vortag hatte natürlich schon erste Zweifel geweckt.
Nach unserem Frühsport, dem sich auch noch Nico, Mischa und Remo anschlossen, waren wir gemeinsam zum Frühstück gegangen, um danach den Professor heimzusuchen.
Nico hatte ihm einen ganz praktischen Eindruck von Teleportation vermittelt. Er war mit ihm bis zum kleinen See, der rund 2 Kilometer vom B-Trakt entfernt war, teleportiert und hatte ihn dort zurückgelassen. So hatte er auf dem Rückweg die Gelegenheit, sich zu überlegen, welche "vernünftige Erklärung" es dafür gab, oder was für ein "Trick" dahinter stecken könnte.
Danach veranstaltete Lukas auch noch eine "Führung" der besonderen Art durch das Gebäude. Wobei "durch" das Gebäude durchaus wörtlich zu nehmen ist. Da brach dann bei Prof. Heller jeder Widerstand zusammen.
Julian "durfte" es nun ausbaden. Denn genauso hartnäckig, wie er sich zu Anfang gegen das PSI-Phänomen gesträubt hatte, genauso beharrlich wollte er nun hinter Julians Thermokinese kommen.
Im Gegensatz zum Professor, dem war der Spaziergang tatsächlich lieber gewesen als ein zweiter "Sprung", war Olaf sofort von der Teleportation begeistert. Er nahm Nico sogleich in Beschlag und zusammen mit einigen Instrumenten waren sie dann mehrfach im Gebäude herum gesprungen.
Doch diese "Springerei" hatte tatsächlich auch noch einen anderen Grund als nur Olafs persönliches Vergnügen - auch wenn der Professor dies noch immer behauptet. Olaf konnte anhand der Messungen nachweisen, dass der "Sprung" scheinbar tatsächlich in "nahezu" Nullzeit erfolgte. Es würde aber weder eine Entstofflichung noch eine Rematerialisation geben. Er sprach von einer Raumfaltung und versprach, sich um eine verständliche Erklärung zu bemühen.
Nach zwei Stunden hatten sich dann "unsere Hoods" sowie Tom und Lukas unter die Kuppel zurückgezogen. Julian und ich hielten hier im "Heller-Labor" die Stellung und halfen dabei, das Geheimnis von Julians Thermokinese zu enträtseln.
Und jetzt war es gleich wieder so weit. Ich spürte, wie in Julian die Spannung anstieg und gab Jörg, wie wir inzwischen den "Langen" Dr. Hempel nennen sollten, das vereinbarte Zeichen. Die Temperatur stieg nun immer langsamer an und hatte inzwischen 800 Grad Celsius überschritten. Zögernd erreichte sie die 820 Grad Marke, um dann auf 818 Grad zu fallen.
Ein leichtes Zittern ging durch Julians Körper und mit einem hellen Blitz verwandelte sich die transparente Kugel in eine formlose schwarze Masse. Das Wasser schäumte wild und Dampf stieg auf. Die zweite Schutzwand wurde kurzzeitig erschüttert, als der unter hohem Druck stehende extrem heiße Dampf gegen sie prallte.
Auf der Anzeige, die noch immer den höchsten gemessenen Wert festhielt, stand die Zahl 23.234 Grad Celsius. Ungläubige Blicke wechselten zwischen Prof. Heller und den beiden anderen. Ich trat hinter Julian, der jetzt doch ein wenig erschöpft war und umarmte ihn fest.
Dies war inzwischen der sechste derartige Versuch gewesen und unseren Wissenschaftlern gingen langsam die Thermoplastolitkugeln aus. Diese sollten doch immerhin eine Temperatur von garantiert 5.000 Grad Celsius aushalten. Nun, Julian hatte diese Grenze um mehr als das Vierfache überschritten, was die Kugeln offensichtlich nicht sonderlich gut vertrugen.
Sachte kraulte ich ihm durch das geöffnete Hemd die Brust. Er selbst hatte einfach keine Erklärung für diesen Vorgang. Nach allem was ich wusste, und auch von unseren drei "Weisen" bestätigt bekommen hatte, hätte die Temperatur kontinuierlich weiter steigen müssen. Ein Sprung, wie gerade eben, um mehr als Faktor 28 war einfach nicht zu erklären.
Während der Professor und Dr. Hempel noch diskutierten, meinte Olaf plötzlich: »Und wenn es zwei völlig unterschiedliche Effekte sind?«
Anders als ich erwartet hatte, gingen die beiden direkt und ohne Bedenken auf die Frage ein. »Was meinst du genau?«, wollte Jörg wissen.
»Hier die Kurven, sie zeigt das Verhalten, wie wir es für die Thermokinese erwartet hatten. Ein Wechselfeld, wahrscheinlich auf telekinetischer Basis, bringt die Luftmoleküle zum schwingen. Genauso wie Mikrowellen Wassermoleküle zum schwingen bringen. Die Temperatur steigt anfangs sehr schnell an. Doch dann wird der Anstieg immer flacher und sie nähert sich dem thermokinetischen Maximum«, erwartungsvoll sah er in unsere gespannten Gesichter.
Soweit waren wir auch schon gekommen, doch die Grenze schien inzwischen bei ca. 800 Grad Celsius zu liegen. Im Labor-23 waren es vor einem Monat noch ca. 450 Grad gewesen.
Nachdem niemand widersprach, fuhr Olaf fort: »Ab hier, wo die Linie anfängt zu Zittern, gab Mike das Signal dafür, dass Julians Anspannung extrem stieg. Das ist der Zeitpunkt, an dem wahrscheinlich der zweite Effekt einsetzt. Die Temperatur fällt sogar kurzzeitig, also wirkt hier die Thermokinese nicht mehr, obwohl Julian jetzt mit höchster Konzentration arbeitet. Sekundenbruchteile später kommt es zu der Leuchterscheinung, dem Blitz, und die Temperatur steigt explosionsartig an. Und«, jetzt machte er eine Kunstpause, »gleichzeitig mit der Leuchterscheinung steigt die Gamma-Strahlung sprunghaft an.«
Betroffenes Schweigen bei den dreien, denn auch Olaf schien erst jetzt die Bedeutung dessen, was er da gesagt hatte, zu begreifen. Im Gegensatz zu uns! Denn obwohl ich mich für Physik interessierte, so ganz klar war mir nicht, was das zu bedeuten hatte. Da war doch nirgends spaltbares Material! Julian hatte doch nur die Luft erhitzt.
»Sind noch andere Teilchen freigesetzt worden?«, fragte Prof. Heller nervös.
Das Gesicht von Olaf verlor immer mehr an Farbe, je weiter er die Aufzeichnungen durchsah und schließlich fast flüsternd antwortete: »Hier dieses Spektrum, es zeigt eindeutig den Charakter von - Annihilationsstrahlung! Nur - sehr viel schwächer als zu erwarten wäre!?«
»Ähm, hätte einer der Herren vielleicht die Güte, uns zu sagen, was das zu bedeuten hat?«, fragte ich nun doch ein wenig besorgt. Wieder einmal verfluchte ich die Tatsache, dass die drei eine PSI-Abschirmung trugen. Weshalb eigentlich, wenn sie nicht daran geglaubt hatten?
Jörg faste sich als erster: »Annihilationsstrahlung ist die charakteristische Strahlung, die bei einer Materie-Antimaterie-Reaktion freigesetzt wird.«
Und Olaf ergänzte schließlich: »Nach Einsteins Formel ist ja E=mc². Damit lässt sich im Prinzip ausrechnen, wie viel Energie bei einer Materie-Antimaterie-Reaktion freigesetzt wird. Doch Energie kann in den unterschiedlichsten Formen auftreten. Als elektromagnetische Strahlung, Licht, Wärme, Bewegung etc.
Kernspaltung, Kernfusion oder eben die Materie-Antimaterie-Reaktion, jede Reaktion hat ein charakteristisches Spektrum. Also Alpha-, Beta-, und andere Elementarteilchen sowie natürlich die Gamma-Strahlung. Der Lichtblitz war ein Teil der Gamma-Quanten, die als Photonen freigesetzt wurden.« Während er das erklärte, studierte er weitere Diagramme, die er auf seinem KomPad abrufen konnte.
»Das Seltsame ist, dass scheinbar 99% der Energie fast unmittelbar nach Freisetzung in Wärme-Strahlung umgesetzt wurde«, dabei zeigte er Prof. Heller und Dr. Hempel ein weiteres Diagramm.
»Was ist daran so besonders? Oder anders gefragt - ist das gut oder schlecht?«, wollte Julian leicht irritiert wissen.
Prof. Heller sah ihn groß an: »Ihr solltet wirklich mehr über die Kräfte wissen, die ihr freisetzt.« Vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf, so als hätten wir hier mit Plutonium gespielt. Keiner der Anwesenden hatte doch bis vor wenigen Minuten überhaupt eine Ahnung gehabt, was wir da taten.
Grollend fuhr ich deshalb auch Prof. Heller an: »Es soll ja Leute in diesem Raum geben, die vor wenigen Stunden dies alles noch für "blanken Unsinn" und "üble Trickserei" gehalten haben.«
Besänftigend erklärte Olaf dann: »Also für euch ist es gut. Gamma-Strahlung bezeichnet den Teil der elektromagnetischen Strahlung, der eine sehr kurze Wellenlänge, also unter 0.5 Nanometer, hat. Die Energiebereiche der Gamma- und Röntgenstrahlen überschneiden sich in einem weiten Bereich.
Beides sind, wie ihr sicher wisst, elektromagnetische Strahlungen, und bei gleicher Energie deshalb äquivalent. Sie unterscheiden sich nur in der Herkunft. Röntgenstrahlen entstehen durch hochenergetische Elektronenprozesse, während die Gammastrahlen bei Prozessen im Atomkern entstehen. Röntgenphotonen haben eine Wellenlänge von etwa 0,1 Pikometer bis 10 Nanometer. Und wie gefährlich Röntgenstrahlen sind, muss ich wohl nicht erklären.
Das Gemeine dabei ist, man kann sie nicht sehen. Insofern ist es euer Glück und unser Pech, dass eben 99% der Energie in Wärme umgesetzt wird.«
»Wieso ihr Pech? Wäre Ihnen eine Gamma-Verstrahlung lieber?«, fragte Julian.
Olaf wandte sich uns nun vollends zu und lachte: »Eigentlich nicht! Aber so haben wir nicht nur keine Ahnung, wie du es machst, wir stehen nun auch noch vor dem Rätsel, wieso die Reaktion so verläuft«, etwas hilflos sah er uns an, als wüssten wir eine Lösung.
»Außerdem«, fuhr er fort, »schützt das Wasser und die Schutzwand uns vor der Gamma-Strahlung. Pro 14 cm Strecke, die die Gamma-Strahlen im Wasser zurücklegen müssen, sinkt ihre Stärke um die Hälfte. Nach 28 cm verbleibt noch ein Viertel der Ausgangsstrahlung usw. Bei Luft wären es allerdings 12 Meter, ein Grund mehr für euch, damit vorsichtig zu sein.«
»Und wie viel Strahlung wird nun wirklich frei, ich meine wie gefährlich ist es für uns bei einem Abstand von ca. 100 Metern?«, hakte Julian nochmals nach.
Jetzt war es Jörg, der antwortete, während Olaf die nächste Kugel vorbereitete: »Nimm lieber 120 Meter, dann lässt sich das leichter überschlagen. Die Halbwertsschicht, auch Halbwertsdicke genannt, bezeichnet im Strahlenschutz die Stärke eines Materials, die notwendig ist, die Gamma-Strahlung auf den halben Wert zu reduzieren. Das hat Olaf ja schon erklärt. Bei Luft sind es 12 Meter, d.h. die Ausgangsstrahlung wird bei 120 Meter Abstand 10 mal jeweils um die Hälfte reduziert. Also reduziert sie sich insgesamt um das 2 hoch 10 fache oder um den Faktor 1024. Man kann auch sagen, sie hat dann nur noch 1/1024 Teil ihres Anfangswertes. Dies gilt aber nur für einen Strahl!«
Etwas verständnislos sahen wir ihn an, so dass er jetzt weiter erklärte. »Julian erzeugt nicht einen Strahl, sondern eine kugelförmige Strahlenquelle! Das ist ein entscheidender Unterschied.«
Julian und ich sahen uns nur an: »»Wenn er es sagt, wird's wohl so sein««, grummelte ich nur für Julian verständlich.
Doch Olaf ließ sich nicht beirren und zog eine kleine Taschenlampe aus seinem weißen Kittel. Damit leuchte er auf seine Hand. Die ausgeleuchtete Fläche war kreisrund, scharf begrenzt und sehr hell. Dann vergrößerte er einfach den Abstand zwischen der beleuchteten Hand und der Taschenlampe.
Natürlich wurde der Leuchtkreis größer, aber die Helligkeit nahm ab. Langsam begann ich zu ahnen, auf was er hinaus wollte.
Olaf erklärte: »Es entsteht eben nicht ein Strahl, sondern es ist eine punktförmige Strahlenquelle. Aber die Strahlendichte nimmt mit dem Abstand immer weiter ab. Die Lampe produziert schließlich bei größerem Abstand auch nicht mehr Licht! So wie sich das Licht bei größerem Abstand auf eine größere Fläche verteilt, so nimmt auch die Strahlendichte quadratisch mit dem Abstand ab.
Da sowieso nur ein Bruchteil der Energie in Gamma-Strahlung freigesetzt wird, ist die Gefahr nicht all zu groß. Jedoch, jede Art von Strahlung ist für den Menschen ungesund, auch schon die "natürliche Strahlung" schädigt die Zellen und das Erbgut. Ihr sollte euch also lieber entsprechende "Ausrüstung" besorgen, wie sie auch vom Militär benutzt wird.«
Kaum hatten wir das verarbeitet, als Olaf auch schon wieder nach uns rief. Das nächste Experiment wartete. Diesmal war im Zentrum der Kugel, für uns kaum zu sehen, eine Glaskugel aufgehängt, die eine winzige Menge Wasser enthielt.
Prof. Heller erläuterte die Idee: »Wir wollen einfach noch einmal probieren, die Energie, die Julian freisetzt, genauer zu spezifizieren. Aber bitte, probiere nicht das gesamte Wasser umzuwandeln, sondern nur, wie bisher auch, die Temperatur zu erhöhen«, dabei wischte er sich schon wieder den Schweiß von der Stirn.
Julian betrachtete ihn noch nachdenklich, als Olaf ganz locker sagte: »Wenn du nämlich das ganze Wasser in Antimaterie verwandeln würdest, es sind genau 0,05 Gramm, dann wäre das ungefähr eine Sprengkraft von 1kT TNT-Äquivalent, das entspräche also ungefähr 1000 Tonnen TNT. Bei Hiroshima waren es übrigens 13 kT TNT-Äquivalent.
Bis jetzt hat Julian aber immer nur ungefähr eine Masse annihiliert, die ungefähr 0,239 ?g oder 0,000000239 g Deuterium entsprechen. Also kein Grund zur Panik«, fügte er beruhigend hinzu.
Ich sah ihm in die Augen und begann zu ahnen, warum Prof. Heller so transpirierte. Langsam trat ich wieder hinter Julian und legte ihm die Hände auf die Schulter, so dass er sich wieder an mich lehnen konnte. Er war müde, und jetzt auch ein wenig eingeschüchtert. Wir sollten doch lieber abbrechen, bevor uns das alles noch um die Ohren flog.
»Julian? Kannst du noch, oder sollen wir lieber erst Morgen weiter machen?«
Sofort protestierte Prof. Heller, und auch Jörg und Olaf waren alles andere als begeistert. Doch das war mir egal! Sie hatten vielleicht eine Ahnung, was sie erwarteten, doch wie es in uns aussah, davon wussten sie einfach nichts. Auch bei ihnen fiel mir wieder der Begriff "Zauberlehrling" ein, 1kT TNT und das in einem Klassenzimmer. Wenn Julian nicht aufpasste, würde es bald ein fliegendes Klassenzimmer sein - ein in die Luft fliegendes allerdings. Doch Julian lächelte nur und meinte: »Einen schaff ich schon noch, und wenn nicht, hören wir einfach auf. Aber unterstütz mich, OK?«
Das war wirklich das kleinste Problem, so was hatte ich ja auch schon bei Tom gemacht, als wir seine Fähigkeiten im Labor erforschten. Ich blieb also hinter ihm stehen und koppelte mich direkt bei ihm ein.
»»Beruhige dich erst ein wenig, Julian, entspann dich!««, sogleich spürte ich, wie die Spannung von ihm abfiel und er erneut PSI-Energie ansammelte. Gemeinsam peilten wir die Kugel in der Kugel an. Dann hatten wir auch gleich darauf den Tropfen Wasser erfasst, der sich in der kleinen Kugel befand.
Langsam ließ Julian die Energie über seinen Thermokinese-Sektor strömen. Ich erfasste, wie die Energie moduliert wurde. Aber dann spürte ich auch, wie Julian schwächer wurde. Doch fast gleichzeitig übernahm dann ein Sektor von meinem Gehirn die Arbeit. Julian und ich waren wie vereint und doch standen wir gleichzeitig neben uns und konnten beobachten, was da geschah. Anstatt dass Julian die PSI-Energie in die entsprechende Thermokinese-Form modulierte, übernahm das nun ein Sektor meines Gehirns. Dabei hatten wir bisher noch nicht einmal gewusst, dass bei mir ein solcher Sektor überhaupt "aktiv" war.
Doch die Anzeige war eindeutig - die Temperatur stieg kontinuierlich. Während Julian mich nun führte und anleitete, was als nächstes zu tun war, hatte ich jetzt die komplette Modulation übernommen. Dann bei ca. 500 Grad kam ich nicht mehr weiter, oder eigentlich die Temperatur, sie stieg einfach nicht weiter an.
»»Lass sie einfach weiter strömen, du wirst es gleich spüren««, vernahm ich Julians telepathische Stimme.
Ich konzentrierte mich weiter auf das Wasser. Unter "Zuschaltung" der Teleortung sah ich ein Gewimmel von runden Kugeln. Das konnten aber keinesfalls Wassermoleküle sein. Wenigstens nicht die Realen, denn die sahen erstens anders aus und zweitens waren es hier viel zu wenige. Vielleicht also eine Art von Abstraktion? Jedenfalls fasste ich einige zusammen und ließ dann die Energie direkt auf sie wirken. Ich spürte noch, wie etwas in meinem Gehirn umschaltete, die Modulation verschob sich noch einmal ein wenig. Dann gab es nur noch einen hellen Blitz.
Als ich wieder klar sehen konnte, war es Julian, der mich unauffällig stützte. Wir standen noch genauso da, wie zu Anfang des Experimentes. Prof. Heller, Jörg und Olaf waren mit der Auswertung beschäftigt. Die kleine Kugel war scheinbar verdampft und hatte die große dabei auch gleich mitgerissen. Ansonsten war alles wie bisher gewesen.
Olaf drehte sich dann zu uns um: »Sieht wirklich so aus, als bräuchte Julian eine Pause. Diesmal war die Thermokinese-Temperatur gerade einmal 543 Grad und die Absolut-Temperatur auch nur knapp 12.000 Grad. Ansonsten alles völlig normal. Nur dass keiner weiß, wie ihr das macht«, noch immer war das Grinsen in seinem Gesicht.
Ob er noch immer grinsen würde, wenn er wüsste, dass ich es diesmal gewesen war? Instinktiv hatte Julian alles vermieden, was die drei auf diese Idee bringen könnte. Zudem waren sie noch viel zu sehr mit ihren Daten beschäftigt, als das sie bemerkt hätten, dass ich diesmal Schwäche zeigte.
»Na, dann habt ihr ja bis morgen Zeit, euch neue Experimente einfallen zu lassen«, rief Nico, der plötzlich und unbemerkt im Labor erschien war. Ohne auf das Protestieren von Prof. Heller zu achten, fuhr er fort: »Jetzt ist erstmal Mittag und danach gehören die beiden mir! Wir müssen auch noch ein wenig trainieren.«
»Stimmt!«, gab ich ihm Recht, warf Prof. Heller nochmals einen finsteren Blick zu und sagte mit möglichst viel Ironie: »Bis dahin werden wir dann auch überlegen, was für Kräfte wir da freisetzen, oder was meinst du Julian?« Das hatte mich vorhin wirklich geärgert, woher sollten wir auch wissen, was es war, was wir da machten.
Ohne weiter auf den Protest unserer Physiker zu achten, machten wir uns auf den Weg in die Kantine. Julian war wirklich etwas müde und auch ich brauchte einen Moment Ruhe. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Den Nachmittag hatten wir wirklich den Hoods und besonders Nico versprochen.
Kaum hatten wir das Labor verlassen, als ich mich an die Wand lehnte und mich langsam an ihr auf den Boden sinken ließ. Julian ging vor mir in die Hocke, während Nico uns etwas überrascht ansah. Da wir nicht sprachen und uns nur nachdenklich ansahen, spürte ich wenig später Nicos Tasten. Ich ließ ihn gewähren, denn ich war sicher, er würde es für sich behalten.
»»Wie ist sowas möglich, Julian? Ich hatte zuvor nichts davon bemerkt, dass ich das nun auch kann««, begann ich das Gespräch, während Nico noch immer mit Sondieren beschäftigt war.
Julian sah mich auch nur nachdenklich an und zuckte hilflos mit den Schultern.
»»Julian, kannst du jetzt auch destruieren?««, vernahm ich plötzlich Nicos Frage.
Etwas überrascht sahen wir ihn an. »»Wie kommst du jetzt darauf?««, wollte ich wissen.
Anstatt zu antworten, zog er einen Golfball aus der Jacke und reichte ihn mir: »»Lass ihn für Julian schweben!««.
Zwei Minuten später war er nur noch eine molekulare Wolke. Julian hatte nur etwas Zeit benötigt, den entsprechenden Sektor zu finden und zu aktivieren. Betroffen sah ich ihn an. Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten. Doch Nico lieferte auch schon die Antwort.
»»Die Anderen wollten noch nichts sagen, aber von Frank weiß ich, dass sich am letzten Tag im Labor-23 eure Signatur noch einmal verändert hat. Frank kannte sie ja schon und es heißt doch immer, die psionische Signatur ist wie ein Fingerabdruck?««, noch immer sahen wir ihn stumm an.
Etwas verlegen fuhr er fort: »»Seit diesem 25. Oktober gleichen sich eure Signaturen immer mehr an. Ich kann euch überhaupt nicht mehr auseinander halten, wenn ihr nur mehr als 2 Meter entfernt seid. Frank kann euch nur sehr schwer auseinander halten. Nur Lukas und Tom können noch deutliche Unterschiede feststellen.
Wir wollten noch etwas warten, aber jetzt kam mir einfach die Idee: Die Signatur hängt mit unseren Fähigkeiten zusammen! Wenn sich eure Signaturen angleichen - dann vielleicht auch eure Fähigkeiten?««, es war ihm offensichtlich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Aber warum eigentlich?
»»Weil er nichts von unserer kurzzeitigen Kugel-Existenz weiß!««, vermutete Julian.
Gut, dieser Teil der Geschichte, als ich noch körperlich, während der letzten Behandlung in der Maschine war, und geistig schon durch die Gegend schwebte, hatten wir nie groß weitererzählt. Es kann eigentlich nur dabei passiert sein. Aber was soll's, jetzt waren Julian und ich uns eben noch näher als wir es eh schon waren.
Lächelnd zog ihn an mich und wollte ihn einfach nicht mehr loslassen. Seine Nähe gab mir wie immer Kraft und die nötige Ruhe, die ich brauchte. Und umgekehrt war es genauso, das wusste ich natürlich auch.
Dass wir die Veränderung der Signatur selbst nicht bemerkt hatten, war auch nicht verwunderlich, ich konnte meine eigene Signatur schließlich nicht erkennen, und dass sich die von Julian verändert hatte, bemerkte ich erst jetzt. Wenigstens hatten wir nun eine ungefähre Ahnung, warum sich unsere Kräfte anglichen. Wieder eine Fähigkeit mehr im Programm, dachte ich spöttisch, was würden die anderen dazu sagen?
8. - One Small Step
So many people
Need to go so many miles
How do we move them
To where the answer lies
Reach out to the ocean
Beyond the stars that shine
We've got to take one small step in time
Cher - One small step
Campus-Occursus, Dienstag, 27.11.2035
Nach dem gemeinsamen Essen zogen wir uns wieder unter die Kuppel des Zentralbaus zurück. Die ersten Stunden verbrachten wir damit, unseren "Schülern" das Qi Gong näher zu bringen. Wie schon im Labor benutzten wir dafür die Telepathie, und wieder war es Julian, der das Senden übernahm. Da Remo, Mischa und Eric keine Telepathen waren, mussten wir es eben mit der aktiven Übertragung versuchen. Wichtig war ja nur, dass sie die Grundgedanken verstanden.
Im nächsten Schritt teilten wir uns dann auf. Tom und Lukas übten mit Mischa und Remo, während Julian und ich mit Eric und Nico jetzt die Praxis erprobten. Es ging nun rein um Konzentration und das Sammeln des Qi. Sie mussten lernen, diese Energie zu spüren und den Fluss zu kontrollieren. Danach würden sie das Gelernte relativ leicht auch auf die PSI-Energie übertragen können.
Erfahrungsgemäß gelang dies einem Telepathen wesentlich leichter. Dass Eric dabei gewisse Probleme haben würde, war uns von Anfang an klar. Er hatte nach unseren bisherigen Kenntnissen nur eine echte PSI-Fähigkeit, nämlich die der "Absoluten Abschirmung", wie wir das zurzeit noch nannten. Seine Reiki-Kräfte zählten wir, wie auch unsere, nicht zu den "echten" PSI-Fähigkeiten, da es eigentlich eine normale Sache war, also eine Fähigkeit, die auch Normalos "erlernen" konnten.
Nach gründlicher Recherche war ich jedoch auf Berichte gestoßen, wonach das traditionelle Usui-Reiki-System unter Anhängern als nicht erlernbar galt. Es basiere auf Fähigkeitsübertragung durch Rituale bzw. Einweihungen. Diese Rituale geschähen wortlos und meist ohne Bewegung oder Körperkontakt. Sie wurden als "reine Energieübertragungen" beschrieben. Durch die Rituale würde das eigene Energiepotential dauerhaft angehoben und Kanäle geöffnet.
Mir gaben diese Berichte natürlich zu denken, da ich ja genau dieses auch von Julian gehört hatte. Möglicherweise war Ralf, von dem Julian das Reiki bekommen hatte, ein Anhänger dieses Usui-Reiki gewesen.
Im Moment war das Reiki für uns jedenfalls keine wirkliche PSI-Fähigkeit, denn es schien mit dem PSI-System, wie wir es kannten, nicht zusammen zu passen. Dass "unser" Reiki dabei durch PSI-Energie verstärkt wurde, war nach unserer Auffassung nur ein Nebeneffekt.
Wie auch das telekinetisch verstärkte Kung Fu, das wir trainierten. Auch Kung Fu konnte schließlich jeder erlernen und war somit natürlich auch keine PSI-Fähigkeit. Nur dass wir, um die Wirkung zu erhöhen, ganz gezielt PSI-Energie einsetzten. Dadurch wurde seine Bedeutung für uns natürlich keineswegs geschmälert.
Nachdem es Eric auch heute wieder geschafft hatte, sich mehrfach unserem "Zugriff" zu entziehen, hatte Julian begonnen, ihn verstärkt mit Reiki vertraut zu machen. Es konnte immer nützlich sein einen weiteren "Reiki-Heiler" in unserer Nähe zu haben. Doch schien Eric hier, wie auch Frank und Robin, ein Problem zu haben: Bisher gelang es ihnen nur, das Reiki auf sich selbst anzuwenden.
Nico und ich kümmerten uns unterdessen um dessen Teleportation. An Telepathen hatten wir nun wirklich keinen Mangel und so war klar, dass die Teleportation die Fähigkeit war, auf die wir uns zu konzentrieren hatten. Die "psychopathieschen Fähigkeiten", wie Telepathie und Empathie, war scheinbar sowieso am meisten verbreitet unter den Mutanten. Danach kamen die psychokinetischen, wie Telekinese und dessen Sonderformen der Hydrokinese, Aerokinese und Thermokinese. Fähigkeiten aus den Bereichen der Psychoportation, wie Teleportation und der Psychometabolie, zu der das "echte" Heilen gehörte, waren hingegen eher selten.
Kurzentschlossen besuchten wir dann auch zuerst Olaf, nachdem wir sichergestellt hatten, dass er alleine im Computer-Labor war. Als wir hinter ihm erschienen, hatte er gerade seine Beine auf dem Tisch liegen, das KomPad in der Hand und wartete offensichtlich darauf, dass die Rechner mit einer Simulation fertig wurden. Von dem Lufthauch, den jede Teleportation begleitete, wurde er dann auch aus seinen Gedanken gerissen.
Ohne sich umzudrehen murmelte er »Hallo Jungs, was wollt ihr?«
»Dich daran erinnern, dass es noch mehr Mutanten als uns gibt?«, antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage.
»He, soweit ich das mitbekommen habe, würde sich doch keiner von denen in die Höhle der Löwen trauen. Oder heißt das jetzt in die der Gespenster?«, grinsend nahm er die Beine herunter und drehte sich zu uns um.
»Was weißt du über Nicos Teleportation? Ich meine generell, wie geht das?«, fragte ich ihn, ohne auf die "Gespenster" einzugehen.
Etwas erstaunt zog er die rechte Augenbraue hoch und sah uns nachdenklich mit seinen blauen Augen an. »Nicos Teleportation? Also, was soll ich sagen, ich habe nur ein paar Messungen gemacht. Nichts wirklich Weltbewegendes. Um darüber wirklich etwas zu erklären, müssten wir schon wesentlich mehr Experimente machen.«
Er schien wirklich nicht zu glauben, dass er etwas Neues oder Interessantes für uns hätte. Deshalb versuchte ich es mit einer anderen Fragestellung: »Ich habe keine Ahnung von Teleportation. Im Film oder Büchern heißt es meist, der Körper wird aufgelöst und rematerialisiert an einem anderen Ort wieder. Du hast aber gesagt, dem wäre nicht so.«
»Ach so, das meint ihr.« Nachdenklich fuhr er sich durch das kurze schwarze Haar. »Also, Nico krümmt, wenn er teleportiert, den Raum und taucht somit an einem anderen Ort wieder auf.«
Jetzt grinste er breit, als er unsere ratlosen Gesichter sah. Er nahm ein Blatt Papier und malte zwei Punkte an den gegenüberliegenden Ecken auf. »Was ist die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Punkten?«, fragte er uns.
»Die Gerade ist die kürzeste Verbindung, wenigstens lernt man das in der Schule«, murmelte ich, denn ich wusste, er würde uns jetzt sicherlich etwas anderes erklären.
Er lachte und nickte: »Ja, in der klassischen Physik und Mathematik sicherlich richtig, doch Nico mogelt!« Dieser zog schuldbewusst den Kopf ein und grinste dabei aber frech.
Noch immer lächelnd nahm Olaf das Papier und bog es so, dass die beiden Punkte übereinander lagen. Dann stach er mit dem Stift ein Loch hinein und nahm eine herumliegende Schraube. »Wenn ihr die Schraube seid und von Punkt A nach Punkt B wollt, dann könntet ihr die Gerade nehmen, also die Strecke zu Fuß gehen.
Oder aber, Nico "faltet" den Raum wie ich dieses Papier. Dann macht sich Nico einen Durchgang, geht hindurch und ihr seit am Punkt B. Danach macht er die "Faltung" wieder rückgängig und alles ist wie zuvor. Nur das ihr die Strecke in "Nullzeit" zurückgelegt habt. Kein "entmaterialisieren", kein "beamen" oder so etwas. Immer und zu jeder Zeit - bleibt ihr vollständig.«
»Aber wieso sehen wir dann nichts von dem "Durchgang"? Wir machen auch keinen Schritt oder so etwas«, gab Nico zu bedenken.
»Wie willst du etwas sehen, dass in "nahezu Nullzeit" geschieht? Also, das ganze fängt mit einem "Temporalfeld" an. Du baust ein Feld auf, das die Zeit scheinbar zum Stehen bringt und "faltest" den Raum. Dann öffnet sich der Durchgang und du bewegst den Raum mit dem Durchgang um dich herum! Du stehst und bewegst dich keinen Millimeter. Der Raum bewegt sich! Dann läuft alles wieder umgekehrt und ihr seit am Punkt B. "Der Berg kommt zum Propheten!", hier hat der Satz eine völlig neue Bedeutung.«
Nachdenklich sah ich Olaf an: »Wenn ich ein "Temporalfeld" aufbaue, dann vergeht außerhalb die Zeit scheinbar viel langsamer, bis zum Stillstand. Aber ich selbst bewege mich völlig normal. Wieso ist das bei Nico anders?«
Olaf sah mich ungläubig an, er hatte natürlich keine Ahnung davon. Da ich diesen Effekt bisher noch nie selbst bewusst ausgelöst hatte, hatten wir auch niemand darüber informiert. Zuletzt war es in der Zentralstation gewesen und dort hatte es meine Destruktions-Kräfte blockiert. Inzwischen hatte ich aber den entsprechenden Sektor lokalisiert und war sicher, dass ich es bewusst steuern konnte.
»Du kannst ein Zeitfeld aufbauen?«, fragte Olaf völlig überrascht.
»Ich bin mir ziemlich sicher.«
»Ziemlich sicher?«
»Es kostet mich enorm viel Energie und ich habe es noch nie bewusst gemacht. Aber ich denke, ich kann es«, murmelte ich etwas verlegen.
»Was heißt viel Energie? Bist du dann körperlich am Ende?«
»Nein. Wir wissen es selbst noch nicht so genau. Wir haben, wie ein Akku, scheinbar nur eine gewisse Menge an Energie. Wenn die verbraucht ist, dauert es wieder einige Zeit bis wieder genügend da ist. Es kann sein, dass plötzlich für eine Fähigkeit keine Energie mehr da ist, während eine andere, wie die Telekinese, noch einsetzbar ist.«
Betroffen sah er mich an: »Wie lange dauert es dann, bis der "Akku" wieder voll ist?«
»Je nachdem wie leer er war! Und von Mal zu Mal geht das Auftanken auch schneller«, antwortete Nico für mich.
Jetzt sah ich ihn verwundert an: »Es geht mit der Zeit schneller? Davon haben wir noch nichts bemerkt«, ich grübelte noch einen Augenblick. Nein, davon hatte bis jetzt keiner etwas gesagt. Allerdings nach der "Zentralstation" brauchten wir die zwei Tage bis wir einigermaßen fit waren. Nach dem 27. Oktober waren wir innerhalb eines Tages wieder fit.
Während ich so am Grübeln war, lächelte Olaf hintergründig: »Da solltet ihr mal wirklich nachforschen. Es könnte auf Dauer sehr wichtig sein.« Dann wurde er wieder vom Computer abgelenkt. Wir verabschiedeten uns von ihm, denn das Wichtigste hatten wir ja erfahren. Oder anders gesagt, jetzt hatten wir wenigstens eine Ahnung, was Nico da so machte.
Nachwort
Da sich das Feedback nach Episode 0 Teil 6 doch erheblich gebessert hat, habe ich mich dazu entschlossen auch die restlichen Episoden, die ich geschrieben habe, zu veröffentlichen.
Leider sehen nur die wenigsten Leser die Möglichkeit, die ihnen das Feedback bietet. Wie soll ein Autor wissen was euch gefällt oder eben auch nicht gefällt, wenn ihr euch dazu kaum äußert? Natürlich freut man sich über E-Mails die einen auffordern weiter zu machen, aber einige Unklarheiten sind mir eben nur deshalb aufgefallen, weil es Leser gab die fragten, kritisierten und kommentierten. Ich persönlich halte diese Art von Kontakt für unverzichtbar und finde es schade, dass nur sehr wenige Leser davon Gebrauch machen.
Bei mir im Forum habe ich einige Auszüge aus den bisherigen Reaktionen zur Diskussion gestellt. Es geht nicht darum die Meinung eines Lesers herunter zu machen, sondern als Anregung wie ihr das seht. Nur so kann ich sehen, ob das was ich mit der Geschichte sagen wollte, auch wirklich so ankommt. Da das Beantworten der Mails aber inzwischen sehr viel Zeit beansprucht, würde ich mich freuen, wenn ihr das Shadowy-Forum entsprechend nutzt.
Aber natürlich werde ich auch weiterhin jede Mail so schnell als möglich beantworten.
LG
Martin (aka Mike)
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