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Shadowy - Episode 4
Teil 1
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Informationen
- Story: Shadowy - Episode 4
- Autor: Torben
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction
Vorwort
Hallo Leute, dies ist nun die vorerst letzte Episode meiner Shadowy-Story. Wieder wird die Geschichte nicht nur von Mike erzählt, sondern auch von einem neutralen Beobachter. Es hat sich gezeigt, dass ihr so die anderen Charakter besser kennen lernen könnt. Außerdem ist es mir so möglich, von Gegebenheiten zu berichten, die Mike eben nicht selbst erlebt hat. Mike wird weiterhin aus der „Ich“ Sicht berichten – eingeleitet mit @Mike – ansonsten berichtet der „Große Bruder“ Er-Erzähler. Wie die Nummerierung schon andeutet ist es sicherlich sehr hilfreich die vorhergehenden Episoden gelesen zu haben, um Episode 4 verstehen zu können. Nur so als Tipp. ;-) Alle Rechte an den Personen, soweit möglich, liegen bei mir. Fragen und Anregungen sind jederzeit nicht nur erlaubt sondern ausdrücklich erwünscht! Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, existierenden und nicht mehr existierenden Organisationen, Glaubensgemeinschaften so wie Staaten und Behörden sind weder wirklich zufällig noch völlig unbeabsichtigt sondern manchmal einfach unvermeidbar. Sie stellen aber immer die subjektive Meinung des Autors über diese Personen, Organisationen, Glaubensgemeinschaften, Staaten und Behörden dar. LG Martin (aka Mike)
We Didn't Start the Fire
We didn't start the fire. It was always burning, since the world's been turning
We didn't start the fire. No we didn't light it, but we tried to fight it
Wir haben das Feuer nicht angezündet. Es hat schon immer gebrannt Solange sich die Welt dreht
Wir haben das Feuer nicht angezündet. Nein das haben wir nicht. Aber wir versuchen es zu bekämpfen
Aus Billy Joel “We Didn't Start The Fire”
@Mike
Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 6 Uhr
Stöhnend und in Schweiß gebadet wachte ich auf. Nur mit Mühe gelang es mir, die Schreckensbilder von brennenden Städten, Chaos und Verwüstung aus meinen Gedanken zu verdrängen. Selten war einer meiner Albträume so realistisch gewesen wie dieser, in dem der Aufstand der Mutanten einen fürchterlichen Verlauf genommen hatte. Wahrscheinlich trugen die jüngsten Ereignisse im Drachen-Sektor dazu bei, dass die Bilder so realistisch waren.
Nur zögernd öffnete ich die Augen und begegnete Julians besorgtem Blick. Erst jetzt realisierte ich, wie fest er mich mit seinen Armen umschloss. »»Es ist vorbei Mike, es war doch nur ein Traum!««
Noch immer etwas benommen schüttelte ich den Kopf: »»Du weißt, dass es mehr war als ein Traum. Es war eine Möglichkeit! – Oder, wie würde es Marty nennen? Einer der Wege, der in die Zukunft führt. In eine düstere Zukunft, nicht nur für uns, sondern für alle Menschen!««
»»Eben, es ist nur ein Weg! Wir werden einfach eine andere Abzweigung nehmen.«« Die Zuversicht in Julians Stimme klang irgendwie nicht echt. Dennoch hatte er in einem Punkt absolut Recht: Diesen Weg durften wir keinesfalls nehmen, denn am Ende hatte es letztlich keine Gewinner gegeben, sondern nur Tod und Zerstörung.
Der Kampf letzte Nacht war schon schlimm genug gewesen, doch dieser Albtraum übertraf alles, was wir bisher erleben mussten, um etliche Größenordnungen. So weit durfte es einfach nicht kommen, und dennoch fühlte ich instinktiv, dass wir genau darauf zusteuerten. Fast so, wie die Titanic auf den Eisberg zusteuerte, eigentlich vorhersehbar und dennoch scheinbar unvermeidlich.
Sanft streifte mir Julian die Haare aus der Stirn: »»Es wird nicht so weit kommen! Wir werden bestimmt einen anderen Weg finden.««
Ungewohnt ernst flüsterte Lukas plötzlich: »Wir müssen es einfach!«
Ohne nachzudenken tastete ich nach Lukas’ Hand, genauso instinktiv griff Julian nach der von Tom und gemeinsam bildeten wir einen Block. Es war fast wieder so wie gestern im Conventiculum, nur hielt uns jetzt eine bedrückende und geradezu düstere Stimmung gefangen. Allmählich dämmerte es mir, dass ich die anderen mit in meinen Albtraum gezogen hatte. Dies war ein Novum, bisher musste ich ihnen immer erst erklären, um was es in meinem Traum ging, doch diesmal konnten sie es live miterleben.
Nüchtern brummte Tom dann auch: »Na ja, „konnten miterleben“ ist nicht ganz richtig – wir mussten es miterleben. Du hast uns regelrecht mit hinein gezogen! – Und für mich war es kein Traum, ich glaube es war wirklich eine Art Vorahnung.«
»»Marty sagte doch: „Findet den richtigen Weg!“. – Nun, der war es bestimmt nicht. Als Pfadfinder bist du also eine Niete««, spottete Lukas und versuchte so die Stimmung etwas aufzulockern.
»»Marty hat es sich aber auch verdammt einfach gemacht, verschwindet und sagt wir sollen den richtigen Weg finden!««, grollte Tom.
Das war zwar eine sehr grobe Vereinfachung, aber faktisch richtig. Die Ereignisse waren wirklich wie eine Lawine über uns hereingebrochen und hinweggerollt. Zuerst der kräftezehrende und scheinbar sinnlose Kampf im Drachen-Sektor. Gleich darauf überraschte uns Marty mit dieser seltsamen Aktion im Conventiculum. So etwas muss doch erst einmal verarbeitet werden.
»»Klar habe ich Recht! Zuerst lässt er die Bruderschaft wieder auferstehen oder wie auch immer man das nennen will, verteilt nebenbei noch schnell diese Anhänger und macht sich danach aus dem Staub.««
Während mich Julian sanft hinter dem Ohr kraulte, musste ich schon ein wenig über Toms Kurzfassung schmunzeln. Klar, die wichtigsten Punkte hatte er mit seiner Aussage zusammengefasst. Während wir schon seit Wochen beratschlagten, ob, wie und in welcher Form wir die Bruderschaft wieder auferstehen lassen wollten, stellte uns Marty letzte Nacht einfach vor vollendete Tatsachen. Jetzt existierte auf einmal eine „Neue Bruderschaft“, ohne dass auch nur ein Bruchteil der Fragen geklärt waren, die Frank, Thimo, Robin und Eric vorher unbedingt geklärt haben wollten.
»»Wenigstens das „Normalo-Problem“ ist gelöst. Nachdem Marty diese Salir-Anhänger für die Normalos bereitgestellt hat, wird kaum jemand irgendwelche Einwände erheben, dass unsere Normalos zur „Neuen Bruderschaft“ gehören.««
Warum bloß wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich Julian nur beruhigen wollte?
»»Vielleicht weil es stimmt?««, hallte Lukas' spöttische Frage in meinem Kopf.
»»Mike, überleg doch mal! – Wir alle wissen, was uns heute erwartet. Spätestens in einer Stunde müssen wir uns mit Frank und Robin treffen und dann werden wir die ganzen Probleme in aller Ausführlichkeit bis zum Erbrechen durchkauen. Warum also sollen wir uns jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen?««
Für Tom war das schon eine sehr beeindruckend lange und ausführliche Rede gewesen, nur übersah er einen wichtigen Punkt.
»»Und der wäre?««, Lukas’ Frage klang fast schon lauernd.
Jetzt konnte ich aber auch telepathisch die Anspannung der anderen spüren. Kurz sortierte ich noch einmal meine Gedanken, bevor ich meine Befürchtungen erläuterte: »»Überlegt doch mal, wie oft haben wir festgestellt, dass wir anders reagieren als geborene Mutanten. Jetzt sind wir in einer Situation, die Eric und Frank so sicher nie entstehen lassen wollten. Die Bruderschaft ist wieder entstanden, ohne dass Klarheit über die Struktur herrscht. Ich denke, zumindest wir sollten uns jetzt einig sein was wir wollen. So können wir geschlossen unsere Vorstellungen einbringen und ...««
»»Du meinst doch eher, damit wir unsere Vorstellungen durchsetzen können! Denn sei doch mal ehrlich, wer von den anderen würde sich gegen unsere Wünsche stellen?««, unterbrach mich Tom und Lukas ergänzte: »»Das Hauptproblem, die Übernahme der Normalo-Hoods, hat uns Marty mit diesen „Salir“ Anhängern doch schon abgenommen. Da war der meiste Widerstand zu erwarten und der dürfte, wie Julian schon gesagt hat, jetzt vom Tisch sein.««
»»Du hast Angst, dass sich einige „Überfahren“ vorkommen, wenn wir unsere Vorstellungen zu massiv einbringen – nicht wahr?««, brachte Julian meine Befürchtungen auf den Punkt.
Innerlich nickte ich mit dem Kopf. – Ja, genau da sah ich eines der Probleme. Sicherlich hatte Tom Recht, wenn wir etwas unbedingt durchsetzen wollten, dann würden wir es auch bekommen. Die Frage war nur, zu welchem Preis. Einige der Hoods waren sicherlich bereit allem zuzustimmen, was wir wollten, einfach schon deswegen, weil sie uns dankbar waren. Viele andere aber auch, weil wir mit zu den stärksten Mutanten gehörten.
Doch konnte das auf Dauer gut gehen? Konnte das eine Grundlage sein, auf der wir die Bruderschaft aufbauen wollten? Wo wäre dann der Unterschied zwischen uns und anderen Mutantengruppen à la King Roy und Co? Klar, es wäre sicherlich bequem und zumindest am Anfang auch einfacher. Nur konnte es auf Dauer so nicht gut gehen, dessen war ich mir sicher.
Dabei fiel mir wieder eines von Dr. Necklers Lieblingszitaten ein: „Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname und auch nicht Herden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, die, welche neue Werte auf neue Tafeln schreiben.“ – Es war aus „Also sprach Zarathustra“ und traf den Kern unseres Problems. »»Wir brauchen keine Herde von Gläubigen die uns blind folgen, sondern Leute, die mit uns auf einer Stufe stehen.««
Nachdenkliches Schweigen herrschte, bis Tom grummelnd fragte: »»Okay, über was sollten wir uns also Gedanken machen, bevor wir uns mit Frank, Robin und den anderen „Bedenkenträgern“ treffen?««
Es war überdeutlich, wie sehr er solche Diskussionen hasste, aber jetzt waren sie wirklich notwendig. Wir mussten zu einem gemeinsamen Standpunkt kommen, andererseits durften wir bei den anderen nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass wir nur unsere Vorstellungen durchsetzen wollten.
Wie schon erwähnt, war eines der Hauptprobleme durch die von Marty so genannten „Salir“ Anhänger, also die nahezu runden Anhänger, die in Zukunft die Normalos der Bruderschaft tragen sollten, elegant gelöst worden. Weder wir noch Robin wären bereit gewesen, die Normalos von der Mitgliedschaft in der Bruderschaft auszuschließen. Andererseits waren viele der Mutanten, mit denen wir und insbesondere Frank gesprochen hatten, bisher nicht bereit gewesen, sich mit so einem Gedanken anzufreunden. Dadurch, dass sich über Marty die „alte Bruderschaft“ eingemischt hatte, waren wir dieses Problem wahrscheinlich los.
Doch wie sah es nun mit der Organisation der neuen Bruderschaft aus? Auch da prallten unterschiedliche Meinungen aufeinander. Einige strebten eine Art „Macht der Stärkeren“ an, waren also der Auffassung, dass die stärksten Mutanten die Führung übernehmen sollten. Es war wohl klar, dass dies weder in unserem noch in Robins Sinn liegen konnte. Denn dann wären die „Normalos“ automatisch von der Führung ausgeschlossen.
Außerdem stellte sich auch noch die generelle Frage, wie es weiter gehen sollte. Alles um uns schien im Umbruch zu sein.
»»Wie werden die Freien Mutanten auf den Kampf im Drachen-Sektor reagieren?««, fügte Julian einen weiteren wichtigen Punkt hinzu. »»Das Ganze kann ihnen nicht gefallen haben. Denn unauffällig war das gestern Nacht bestimmt nicht, weder der Überfall als solches, noch unser Eingreifen.««
»»Du meinst es war ihnen nicht unauffällig genug? – Dabei habt ihr euch doch sehr zurück gehalten. Mit etwas Thermokinese der stärkeren Art wäre die Sache doch viel schneller aus der Welt gewesen.««, zweifelte Tom sarkastisch und dachte dabei an ein paar „kleinere“ Antimaterieexplosionen. Mir stellten sich dabei die Nackenhaare auf, alleine schon bei dem Gedanken.
»»Wie wird Boris damit zurechtkommen, dass Tom und ich Mutanten sind, wo er uns doch bisher nur als Normalos oder als Biomechs kannte?««, fügte Lukas einen weiteren Punkt zu unserer Liste hinzu, ohne auf Toms Bemerkung näher einzugehen. Dann erklärte er noch: »»Denn seit gestern ist ihm das bestimmt aufgegangen. – Ich meine, so verstockt er auch manchmal erscheint, unser Auftreten letzte Nacht war an Deutlichkeit kaum zu überbieten.««
Wie nicht anders zu erwarten kam von Tom zu diesem Punkt nur unverständliches Gebrumme. Er konnte und wollte es Boris nicht verzeihen, wie der damals auf ihn und Lukas reagiert hatte. Doch Lukas' Bedenken waren alles andere als aus der Luft gegriffen. Bis gestern Nacht glaubte Boris, dass wir vier „Biomechs“, also von NeckTech mit allerlei Implantaten aufgestockte Normalos seien. Doch seit dieser Nacht musste es auch Boris klar sein, dass er in diesem Punkt von uns getäuscht worden war.
Gestern, während des Kampfes, schien ihn das nicht zu stören, nur ob das so bleiben würde, war fraglich. Immerhin standen „seine“ Drachen nicht in dem Ruf, besonders mutantenfreundlich zu sein.
Doch bevor wir uns mit diesen und anderen Problemen befassen konnten, summte mein Kommunikator. – Onkel Stefan wünschte uns dringend zu sprechen. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn er uns schon Morgens um 6 Uhr 30 zu sich rief.
Erics Apartment – Camelot
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 6 Uhr
Unruhig wälzte sich Eric schon seit Stunden im Bett hin und her, und selbst Ralfs Versuch, ihn mittels Reiki etwas zu besänftigen, zeigte kaum Wirkung. Seufzend sah Ralf aus dem Fenster in die Dunkelheit des frühen Tages. Erst vor wenigen Stunden hatten sie sich aus dem Conventiculum in Erics Räumlichkeiten zurückgezogen, um ein wenig Ruhe zu finden. Doch ganz offensichtlich fand Eric diese Ruhe nicht.
Ralf konnte quasi live miterleben, wie in Erics Kopf ein Gedanke den anderen jagte. Einerseits fand er es faszinierend, wie methodisch und fast schon automatenhaft Eric die Informationen verarbeitete. Alles, was er zusammengetragen hatte, fügte er in immer neuen Kombinationen zu den unterschiedlichsten Szenarien zusammen, nur um diese wenige Augenblicke später wieder umzuwerfen. Andererseits bedrückte es ihn zu erleben, wie sehr das Ganze Eric zu schaffen machte.
Natürlich machte auch Ralf sich über die neue Situation seine Gedanken, nur sah er alles wesentlich distanzierter. Noch immer war die Gleichgültigkeit, die ihn in den letzten Monaten beherrschte, nicht völlig gewichen. Nach Mirkos Tod war er dieser Gleichgültigkeit, dieser absoluten Teilnahmslosigkeit gegenüber allem um sich herum, völlig verfallen. Zuerst war es nur Marty, dann aber auch Zack, denen es immer mal wieder gelang, diesen „Panzer“ kurzzeitig aufzubrechen. Erst nach dem Treffen mit Eric wollte auch er selbst sich aus diesem Sumpf befreien. Doch angesichts der Probleme, die nun vor ihnen lagen, ertappte er sich immer mal wieder dabei, wie er sich nach dieser Gleichgültigkeit zurücksehnte.
Noch vor zwei Tagen hatte er gehofft, das Schlimmste vorläufig hinter sich zu haben. Nach seiner Aussprache mit Dr. Neckler schien alles nur noch besser werden zu können. Zumal auch Mike sich anscheinend mit seiner Anwesenheit abfand. Doch der Überfall der Pseudo-Morlocks machte ihm sehr schnell klar, dass es anders kommen würde.
Ralf drehte sich zu Eric als der gerade wieder undefinierbare Laute von sich gab und mit seinen Zähnen knirschte. Müde lächelnd rückte er noch näher und schloss ihn in seine Arme. Sanft sendete er beruhigende Impulse an Eric, der sich fast schon in einem tranceähnlichen Zustand befand. Nach einigen Minuten, in denen er vergeblich versuchte Eric zu beruhigen, entschloss er sich ihn zu wecken.
Ralf wusste von Julian, dass Eric sonst noch Stunden so weiter machen würde. Sanft rüttelte er an Erics Schulter und sendete immer stärkere telepathische Impulse bis Eric langsam erwachte und ihn etwas irritiert ansah.
»»Was ist los, habe ich wieder …?««
Ralf nickte nur leicht und sah ihn mitfühlend an: »»Du warst wieder in deinem „Planungs-Modus“ und außerdem knirscht du gewaltig mit den Zähnen, und du weißt, das gibt auf die Dauer Furchen.««
»»Dieser Überfall lässt mir wohl keine Ruhe?««
Besonders erstaunt war Ralf über diese Frage nicht. Er wusste längst, dass Eric nur sehr selten bewusst mitbekam, wenn er sich so tief in ein Problem verbiss. Schmunzelnd schüttelte er den Kopf: »»Das musst du aber demnächst mal ein wenig in den Griff bekommen, du kannst ja nicht jede Nacht „durcharbeiten“. Auch dein Gehirn braucht ab und zu eine Pause.««
Eric drehte sich auf die Seite und beide sahen sich in die Augen: »»Ich weiß, aber im Moment lässt mir das alles keine Ruhe, und ich fürchte die Darwinianer planen da eine riesengroße Schweinerei.««
Bei der bloßen Erwähnung der Darwinianer verfinsterte sich Ralfs Gesicht und eine kaum zu kontrollierende Wut stieg in ihm auf. Wie ein Film tauchten die quälenden Bilder von Mirko auf. – Mirko, wie er von Tag zu Tag mehr verfiel, immer schwächer wurde und schließlich in seinen Armen starb.
Erst, als die quälenden Bilder endlich verschwunden waren, realisierte er, wie sehr er sich an Eric klammerte und ließ ihn, unterdrückt stöhnend, los. Doch als er in Erics Augen sah, war da nur Mitgefühl und Trauer.
»»Ralf! – Sie werden dafür bezahlen. Dafür und für ihre anderen Verbrechen. Wir sind jetzt stärker als je zuvor.««
Ein gequältes Lächeln huschte über Ralfs Gesicht, nur zu genau verstand er was Eric meinte. Mochte es den Darwinianern auch durch ihren Überfall gelungen sein die Mutanten in Verruf zu bringen, so rückten die Mutanten seit gestern Nacht dichter zusammen als je zuvor. Kaum war Martys „Zeremonie“ im Conventiculum beendet gewesen, als sich die ersten Mutanten bei Frank, Robin und Thimo meldeten. Die Nachricht, dass die Bruderschaft wieder aktiv war, musste sich demnach wie ein Lauffeuer verbreitet haben.
Als Eric und er sich zwei Stunden später von Frank trennten, stand schon fest, dass der Freundeskreis und einige andere größere Gruppen voll hinter ihnen stehen würden. Wie auch immer sich der Große Rat entscheiden mochte, gegen die Bruderschaft würde er kaum einen Mutanten mobilisieren können. Zu viele der Freien Mutanten, die bisher nur mit den Iratus Lemurum sympathisierten, waren nun bereit, sich offen zur Bruderschaft zu bekennen.
Dabei war Ralf besonders über Thimos Einfluss auf die Freien Mutanten mehr als nur erstaunt. Er gestand sich ein, dass er nie damit gerechnet hätte, dass Thimo so viel Vertrauen und Rückhalt unter den „Freien“ besaß.
»»Vergiss dabei aber nicht was Thimo gesagt hat, die wenigsten der Freien Mutanten, die sich jetzt zu uns bekennen, würden aktiv gegen den Großen Rat agieren.««
»»Ich habe es nicht vergessen, aber der Große Rat selbst kämpft ja nicht, er ist immer darauf angewiesen genügend Freie Mutanten zu überzeugen. Wenn die sich aber nicht überzeugen lassen, steht der Große Rat da wie ein General ohne Truppen.««
Beide mussten kichern als Eric flüsterte: »Stell dir vor, die wollen Krieg und keiner geht hin.«
Als Ralf sich in die Kissen zurücksinken ließ, nutzte Eric die Gelegenheit sich an ihn zu kuscheln, bis Ralf murmelte: »He, Knirscher, wir müssen bald aufstehen, da wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.«
Noch ehe Eric entsprechend antworten konnte, erschien Thimo plötzlich in ihrem Zimmer: »Ich hörte ihr seid wach?«
»Wenn nicht, dann wären wir es gleich – oder etwa nicht? Etwas Gutes kann dein früher Besuch sicher nicht bedeuten«, murmelte Ralf etwas launisch. Er konnte sich noch immer nicht daran gewöhnen, dass eine plötzlich auftauchende Gestalt nicht automatisch ein Angreifer war. Wie knapp Thimo deswegen einer entsprechenden Abwehrreaktion entgangen war, bekam dieser überhaupt nicht mit.
»Und was heißt überhaupt „hörte“?«, murmelte Eric noch reichlich müde. »Lauscht du etwa an der Wand?«
»Nein, natürlich nicht! Aber psionisch ist es schon ein deutlicher Unterschied, ob du schläfst oder wach bist, bei den meisten Leuten jedenfalls«, wehrte Thimo ab und sah Eric ein wenig besorgt an. Denn er wusste, dass bei Eric manchmal kaum ein Unterschied zu spüren war, wenn der wieder Probleme wälzte. Jedenfalls nicht beim „nur oberflächlichen“ Sondieren.
»Aber um euch das zu erzählen, bin ich nun wirklich nicht gekommen«, fuhr Thimo fort. »Sorry Jungs, aber im Sektor tut sich einiges, und nichts davon ist wirklich beruhigend.«
Auch Eric sah etwas missgestimmt zu Thimo, denn er wollte eigentlich noch ein wenig mit Ralf kuscheln, legte dann jedoch plötzlich seine Stirn in Falten: »Was ist mit deiner Signatur los?«
Sofort erwachte in Ralf das Misstrauen und er sondierte Thimo genauer: »Es ist nicht seine Signatur, es ist dieser Salir-Anhänger, den Thimo trägt. Das Ding wehrt sich gegen ihn!«, murmelte Ralf schon wieder beruhigt.
»Thimo trägt einen Salir? – Einen Salir der sich dagegen wehrt?«, murmelte Eric erstaunt und zeigte damit eindeutig, dass er noch immer nicht voll da war.
@Mike
Stefans Büro – Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 7 Uhr
Die Atmosphäre war bedrückend. Wütend und niedergeschlagen zugleich starrten wir auf das Media-Pad, das in meiner Hand ruhte. Stumm war es mir, wenige Augenblicke nachdem wir Onkel Stefans Büro betreten hatten, von diesem in die Hand gedrückt worden. Anfangs nur ungläubig, dann mit steigendem Zorn lasen wir die neuesten Meldungen. „Monster-Revolte in Sektor 20! Unzählige Tote bei Mutantenangriff!“ oder „Ausnahmezustand im 17. Sektor! – Mutanten überfallen Wohnhäuser, Bewohner kämpfen ums nackte Überleben!“ Eine Meldung jagte die andere und es schien immer schlimmer zu werden. Mal hieß es unzählige Tote, dann wieder wurde von zerstörten Blocks und brennenden Gebäuden berichtet. Dass sich darunter auch Bilder von Sektoren befanden, die schon während der Novemberunruhen 2022 zerstört wurden und nie wieder aufgebaut worden waren, schien niemand zu stören.
»Dass die Abwehr den 17. Sektor zum Sperrgebiet erklärt hat, macht die Sache auch nicht besser. Jetzt sind unzählige Gerüchte über die entstandenen Schäden im Umlauf.« Stefans Stimme klang so übermüdet wie er aussah. Schon die ganze Nacht über versuchte er, zusammen mit NeckTech und der Abwehr, die Quellen dieser Desinformation aufzuspüren – bisher vergebens. Niemand wusste etwas Genaues, aber jeder wusste etwas zu berichten. Einig waren sich alle Reporter offensichtlich nur darin, dass sie versuchten, sich gegenseitig zu übertreffen.
Natürlich war uns klar, wer letztlich die Fäden zog, aber es war schon sehr erstaunlich, wie geschickt die Darwinianer es verstanden, im Hintergrund zu bleiben. In allen Meldungen war von Monstern und Mutanten die Rede, und das Bestreben, beide Begriffe synonym zu verwenden, war mehr als offensichtlich. Ganz eindeutig sollten alle Mutanten als Monster gebrandmarkt werden.
Stefans Stimme riss mich aus meinen Überlegungen: »Stell dir mal vor, die Drachen hätten euch nicht so schnell gerufen. Dann wären noch mehr Gebäude total verwüstet worden, und diese Morlocks hätten sich kaum geschwächt zurückziehen können. Die Abwehr ist sich sicher, dass ursprünglich geplant war, diesem Überfall noch weitere, in den anderen Sektoren, folgen zu lassen. Die Spezialisten der Auswertung sind der Meinung, dass die Darwinianer ein Klima von Verunsicherung, Angst und Hass schüren wollen.«
Nachdenklich sah Stefan in die Runde und mir wurde klar, dass es nur so sein konnte. Durch unser schnelles Eingreifen war es uns gelungen, zumindest diesen Teil des Planes zu durchkreuzen. Doch deswegen war die Gefahr natürlich noch lange nicht beseitigt. Julian sprach meine Befürchtung auch prompt aus: »Die Morlocks waren keine „echten“ Morlocks, wir nannten sie zwischenzeitlich „Pseudo-Morlocks“, und die Frage ist, wie schnell können die Darwinianer „Nachschub“ heranzüchten?«
Bestürzt sah uns Stefan an, natürlich wusste er von den Pseudo-Morlocks, doch erst jetzt schien ihm klar geworden zu sein, was das, angesichts Julians Herkunft, bedeutete. Im Bereich Biotechnologie schienen die Darwinianer geradezu unglaublich weit fortgeschritten zu sein. Schließlich war Julian innerhalb von vier Jahren „herangereift“ und als 18-Jähriger „geboren“ worden. Im Vergleich zu Julian waren die Morlocks erschreckend primitiv, nicht nur ihre kaum vorhandene Denkfähigkeit, sondern der gesamte Körper war nur rudimentär ausgebildet. – Dies wiederum sprach für eine extrem kurze Reifezeit. Je primitiver, desto schneller, das wenigstens hatte einer der NeckTech Wissenschaftler einmal gesagt.
»Dann müsst ihr die Quelle finden und zerstören! Es muss ein Labor in der Nähe von Sektor 20 geben, darin sind sich alle Experten der Abwehr einig. Die Öffentlichkeit verträgt nicht noch mehr solcher Berichte. Nicht, wenn die Stimmung weiterhin so aufgeheizt wird.«
Bedrückt sahen wir ihn an. Natürlich war uns auch gestern schon klar gewesen, in welche Richtung dieser Überfall ging, doch mit einer derartigen Lawine konnte keiner von uns rechnen – nicht einmal Eric.
»»Wo steckt der denn überhaupt?««, brummte Tom dazwischen.
Instinktiv sah ich zu Julian, ich wusste einfach, dass er sich schon darum kümmerte, und das, obwohl ich im Moment nur mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war.
Mit einem schiefen Grinsen kommentierte Lukas sogleich: »»Ihr seid bald wirklich nur noch eine Person.««
Bevor ich dazu etwas sagen konnte, meldete sich Julian zu Wort. »Eric kommt gleich vorbei – Thimo will wissen ob die Luft rein ist«, dabei grinste er Stefan herausfordernd an.
Seit Nico einmal unangemeldet in Stefans Büro erschienen war und von dem eingebauten Verteidigungssystem geschockt wurde, waren alle Teleporter sehr vorsichtig geworden. Stefans Büro galt seither für alle Teleporter als „verbotener Raum“, den man nur mit „Voranmeldung“ betreten sollte.
Wenige Sekunden nachdem Stefan seine Zustimmung gegeben hatte, erschienen Thimo, Eric und Ralf. Während Eric und Ralf von Stefan über die neuesten Nachrichten informiert wurden, drückte mir Thimo einen Salir-Anhänger in die Hand.
»Der trägt Stefans Signatur. Frank meinte, es wäre besser wenn du es bist, der ihn Stefan übergibt.«
»Stefan? – Du meinst Stefan gehört jetzt auch zur Bruderschaft?«
Julian, der neben mich getreten war, nahm mir den Anhänger aus der Hand und wie er spürte ich nun auch ganz schwach Stefans natürliche Signatur, die von dem Anhänger ausging. Nachdenklich sah er mich an: »»Wenn die „Alten“ einen Salir für ihn erzeugt haben, dann werden sie ihre Gründe haben.««
Wahrscheinlich schon, nur dass ausgerechnet Stefan, der sich schon mit Pascals Telepathie schwer getan hatte, nun zur Bruderschaft gehören sollte, erstaunte mich mehr als nur ein wenig. Wie würde wohl Pascal darauf reagieren?
»»Ihm kann es doch nur recht sein, schließlich war die Telepathie doch bisher das größte Problem zwischen ihnen – oder?««
Natürlich hatte Julian Recht, doch wie ich Stefan kannte, würde es ihm nicht leicht fallen, sich auf dieses Angebot einzulassen. Wenn ich Marty gestern richtig verstanden hatte, dann sollte der Anhänger die einfache Telepathie zwischen den Mitgliedern der Bruderschaft ermöglichen. Die Frage war nur, ob sich Stefan mit dem Gedanken anfreunden konnte. Noch immer in Gedanken versunken bemerkte ich, dass mich Thimo schon einige Zeit beobachtete.
»»Was ist los – hast du einen Geist gesehen?««
»»Nur einen Iratus Lemurum««, schmunzelte Thimo. Der Witz war inzwischen wirklich alt. Doch dann wurde er wieder ernst: »»Wie war das nochmal mit deinem Telin Anhänger?««
Verwundert sah ich ihn an. Natürlich kannte er inzwischen unsere „Geschichte“ und somit wusste er doch auch, dass mein Telin eigentlich Pascals Telin war. Er hatte mir den Anhänger zum Abschied gegeben. Ich sollte ihn in Europolis wiedertreffen, doch auf dem Weg dorthin wurde ich entführt und landete stattdessen im Labor-23. Warum interessierte ihn das jetzt plötzlich?
»»Weil „dein“ Telin deine Signatur trägt! Eigentlich müsste es Pascals Signatur sein, aber dein Telin trägt auch wirklich deine Signatur. Mir war das bisher nie aufgefallen, bis Ralf vorhin bemerkte, dass sich Stefans Anhänger dagegen wehrte, von mir getragen zu werden.««
»Hä?« Wieder einmal reagierten Julian und ich synchron, wenn auch nicht sonderlich intelligent.
Thimo lachte: »»Okay! – Wehren ist wohl etwas übertrieben, aber als Telepath spürst du sofort, dass da etwas nicht stimmt. Wenn du den Träger einpeilst, spürst du eine „negative Schwingung“, eine Störung. Wenn du Pascals Telin tragen würdest – dann hätten wir das längst bemerkt. Außerdem, ohne Pascal beleidigen zu wollen, wieso hatte er einen Telin? So stark ist er nicht, er müsste eigentlich einen der „schwächeren“ Anhänger tragen.««
Nachdenklich sah ich zuerst Thimo, dann Julian an. Was soll das denn nun schon wieder bedeuten? OK, seit gestern wussten wir, dass es mehr als nur die Telin- und Galmatol-Anhänger gab. Die Salir-Anhänger waren natürlich neu, denn bisher gab es keine Normalos in der Bruderschaft. Inzwischen kannten wir aber insgesamt sechs unterschiedliche Anhänger. Die achteckigen Owec trugen die schwächsten Mutanten. Nico trug seit gestern ein sechseckiges Galmatol, während Zacks Galmatol sich zu einem fünfeckigen „Sunar“ verformt hatte, genau wie das von Kim. Thimo selbst war inzwischen stolzer Besitzer eines viereckigen „Cadoc“ und einige wenige trugen das dreieckige Telin wie Julian, Tom, Lukas, Ralf, Eric und ich. Ob es noch weitere Zwischenschritte gab wussten wir bis jetzt nicht. Aber klar war, dass der Anhänger etwas mit der Fähigkeit und der Kapazität seines Trägers zu tun haben musste. Und darauf spielte Thimo an. – Pascal gehörte bestimmt nicht zu den stärksten Mutanten. Warum also hatte er ein Telin getragen?
Neugierig sah Tom mir über die Schulter: »»Als es um Zacks und Kims Galmatol ging, da sagte Thimo doch, dass er davon schon gehört hatte und …««
»»Von den Telin und den Galamtol schon««, wurde Tom von Thimo unterbrochen, »»aber nicht von den anderen. Bisher kannten wir nur zwei Sorten von diesen Anhängern.««
Grübelnd sah ich ihn an: »»Wenn die Salir neu sind, warum dann nicht auch die anderen? Du weißt doch, dass einige von uns Probleme mit „Mutanten erster Klasse“ und solchen Eitelkeiten hatten und die Normalos wollten auch einige nicht in der Bruderschaft haben. Könnte es sein, dass die Bruderschaft …««
»»Du meinst die „alte Bruderschaft“ selbst schafft und kontrolliert ein Wertungssystem, damit wir uns deswegen nicht in die Haare bekommen?««, zweifelte Thimo.
So sehr er auch zweifelte, genau das war meine Überlegung. Wieso sonst sollte sich Zacks Anhänger umgeformt haben, wenn nicht in Anerkennung seiner gewaltigen Fortschritte in den letzten Tagen? Seine und Kims Fortschritte erinnerten mich fast schon an unsere Zeit im Labor-23, als wir ebenfalls so unglaublich schnell zulegten.
»»Selbst wenn das stimmt, wäre noch immer die Frage, warum Pascals Telin deine Signatur trägt««, blieb Thimo hartnäckig. Doch bevor wir weiter darüber diskutieren konnten, wurde sein Gesicht starr. – Offensichtlich bekam er gerade eine telepathische Nachricht, die ihm nicht sonderlich gefiel.
»Ich muss weg, jemand will mich in Sektor-11 treffen. Der Große Rat beabsichtigt anscheinend eine Sondersitzung abzuhalten«, murmelte Thimo, wenige Sekunden später, sehr nachdenklich.
Eric, der noch immer mit Ralf und Stefan über die Situation in Sektor 20 diskutierte, sah kurz auf und rief: »Zieh lieber die volle Ausrüstung an, da kommt bestimmt noch mehr. So wie es aussieht, werden die Darwinianer sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben.«
Betroffen sahen wir uns an, natürlich rechneten wir auch mit weiteren Aktionen, doch anscheinend dachte Eric an etwas, was unmittelbar bevor stand. Dummerweise teilte mein Magen seine Einschätzung, denn der begann wieder nervös zu zucken – und das war noch nie ein gutes Zeichen.
Louis Apartment - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 7 Uhr 30
Noch müde schlich Benny ins Bad, stieg unter die Dusche und stellte mit Todesverachtung das kalte Wasser an. Das Gejaule, das Benny dabei ausstieß, weckte auch Louis auf, der wenige Augenblicke später völlig übermüdet ins Bad tapste. Im Gegensatz zu seinem Freund war Louis ein ausgesprochener Langschläfer. Seit sie zusammen in dem Apartment wohnten, versuchte er sich aber an das frühe Aufstehen zu gewöhnen. Nur die kalte Dusche, die sich Benny jeden Morgen antat, die würde Louis nie erdulden, nicht einmal für seinen Freund.
Als Benny bemerkte, dass Louis vor der Kabine stand, stellte er den Regler auf warm. »Du kannst jetzt rein kommen – alter Warmduscher«, spotte er und griff nach dem Duschgel.
»»He, so viel älter bin ich nicht««, grummelte Louis und stieg – immer noch nicht wach – zu Benny unter die Dusche. Sich dicht an ihn schmiegend seufzte Louis: »»He Kleiner, du hast was Animalisches an dir.««
Sofort lief Benny rot an und horchte in seinen Körper hinein, um herauszufinden, was da wohl nicht stimmen sollte.
»»Du hast über Nacht die Ohren deines neuen Vorbildes kopiert!««
Überrascht stellte Louis fest, dass Benny sogar „knallrot“ noch steigern konnte. Seit den Übungsstunden mit Zack konnte er sich nun auch für seine Biomet-Fähigkeit begeistern. Die Gewissheit, ein Biometabolist zu sein, war ihm wesentlich sympathischer als der Gedanke, bei Vollmond als Werwolf durch die Nacht zu streifen. Doch noch immer passierte es ihm ab und zu, dass sich gewisse Dinge quasi über Nacht „entwickelten“. Sehr zu seinem Leidwesen ließ Louis keine Gelegenheit aus, ihn auf seine „tierischen Anwandlungen“ aufmerksam zu machen.
Es war diese Art von gutmütigem Spott, der Benny dazu anstachelte, sich noch intensiver mit seiner Fähigkeit auseinander zu setzen. Auch sonst ermutigte ihn Louis ständig, fleißig zu üben und auch das telepathische Training zu intensivieren. Generell unterhielt sich Louis nur telepathisch mit Benny. Einerseits, damit Benny gezwungen war, auch diesen Teil seiner Fähigkeit zu schulen, andererseits aber auch, weil Benny so immer verstand, wie viel er ihm bedeutete.
Sanft massierte Louis Bennys Rücken, während er wieder sein mentales „Aufbauprogramm“ startete: »»He Kleiner, du hast deine Fähigkeiten einfach viel zu lange unterdrückt. Dir fehlt wirklich nur etwas mehr Selbstvertrauen und Übung, von der Kapazität her bist du wesentlich stärker als viele der Älteren.««
Natürlich wusste Benny, warum ihn Louis immer wieder lobte und motivierte, auch ihm war inzwischen klar, dass es in der Hauptsache sein Selbstbewusstsein war, das ihm im Wege stand. – Oder eigentlich eben der Mangel an Selbstbewusstsein. Und etwas mehr an Selbstvertrauen war genau das, was er heute noch brauchen würde, überlegte sich Benny. Denn heute würde er, zum ersten mal seit zwei Wochen, wieder zur Schule fahren. Zuerst war da der „Unfall“ gewesen, bei dem ihn seine Mitschüler Kurt und Felix, im Auftrag von Sigi, beinahe umgebracht hatten, und danach waren die Weihnachtsferien gekommen. Doch bei dem Gedanken an die Schule und all’ die Idioten, die immer nur auf ihm herumhackten, verging ihm jede gute Laune.
Sofort sprang Louis wieder ein: »»He, das wird schon nicht mehr so schlimm. Die Drachen werden sich bestimmt zurückhalten, besonders nach dem, was gestern war. Und dieser Sigfrid Huber und seine Leute sind noch immer in Haft beziehungsweise in der geschlossenen Abteilung, wo sie eigentlich alle hingehören.««
Sich ganz den massierenden Händen von Louis hingebend murmelte Benny: »»Aber da gibt es noch jede Menge anderer Idioten – vom Direx mal gar nicht erst zu reden.««
»»He, Idioten gibt es überall, leider kann man ihnen nicht immer ausweichen. Aber wer von denen würde sich jetzt noch trauen sich mit dir anzulegen? Nicht nach dem, was Mike mit diesem Felix angestellt hat. Und falls doch – dann genügt ein Ruf und ich komme persönlich. Das ist ein Versprechen! – Klar?««
Ein schwaches Lächeln huschte über Bennys Gesicht. Im Prinzip gab es wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Alleine die Tricks, die ihm Zack beigebracht hatte, würden 90 Prozent aller Leute abhalten – mal schnell ein paar messerscharfe Klauen ausfahren oder dieser furchteinflößende Katzenblick mit den entblößten Reißzähnen …
»»He mein Kleiner, versprich mir, dass du das nur machst, wenn es wirklich ernst ist. Im Moment ist es besser, wenn einer von uns eingreift, als dass bekannt wird, dass du ein Mutant bist. Die Drachen werden ihre Klappe halten, und du solltest dich nicht unnötig outen, gerade nach dem, was letzte Nacht passiert ist. Ich fürchte, im Moment kommen Mutanten einfach nicht so gut an, besonders die animalische Sorte. – Aber wenn es unbedingt sein muss, dann mach’s!««
Es fiel ihm sehr schwer, seine Sorgen um „seinen Kleinen“ einigermaßen zu verbergen. Er wusste nur zu genau, dass sein Freund wesentlich mehr können würde, wenn er sich dazu überwinden könnte. Aber noch immer stand dieser sich selbst im Weg, und auch die Geschichte mit Bennys Eltern ging ihm nicht aus dem Kopf. Zwar war es damals wirklich eine Extremsituation gewesen, dennoch war Benny selbst nach Takashis jahrelangem mentalen Training noch immer gefährdet. Ein wild tobender Werwolf auf dem Schulgelände wäre zurzeit sicherlich alles andere als hilfreich.
Ganz in Gedanken versunken zog er Benny dicht an sich, noch immer war sich Louis über seine Gefühle nicht so recht im klaren. Seit Wochen waren sie zusammen und für Benny empfand er mehr als für jeden seiner bisherigen Partner. Aber da war auch noch der „kleine“ Benny, der hilfsbedürftige, der, in dem Louis mehr den Bruder als den Partner sah.
@Mike
Stefans Büro - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 8 Uhr
Stefans Stimme klang alles andere als erfreut: »Das soll doch wohl ein Scherz sein!« Mehr oder weniger war es die Art von Reaktion, die ich erwartet hatte. Noch immer hielt ich Stefan den Salir-Anhänger entgegen, und noch immer betrachtete er ihn so, als wäre es ein Skorpion, der jederzeit zustechen könnte.
»He, das Ding trägt deinen Namen! Der ist wirklich für dich bestimmt!« Lukas klang ein wenig sauer, und ich denke, er war es auch. Wie Julian sah er alles, was mit der Bruderschaft zusammenhing, etwas anders als wir „kalten Technokraten“. Nur weil Tom, Eric und ich uns mit der seltsamen Atmosphäre im Conventiculum nicht so recht anfreunden mochten, titulierte Lukas uns inzwischen so. Er, Julian und neuerdings auch Zack fühlten sich dort so richtig wohl. Eric hingegen äußerte einmal sinngemäß, der Ort wäre ihm zu „mystisch“. Als Retourkutsche bezeichnete uns Lukas daraufhin als kalte Technokraten – und bei so was konnte er manchmal sehr nachtragend sein.
Im Moment schien das „Mystische“ aber auch Stefans Hauptproblem zu sein. Als ehemaliger Abwehroberst war Misstrauen sein zweiter Vorname und so ein „Ding“, von dem niemand sagen konnte, was es wirklich war und woher es letztlich kam, erweckte ganz automatisch seine antrainierten Instinkte.
»Da steht kein Name drauf und ein Absender auch nicht!«, grollte Stefan entsprechend zurück.
»Das, das kann doch nicht dein Ern…«
»Lass gut sein Lukas, so erreichst du überhaupt nichts«, unterbrach ich Lukas, der nun wirklich keinerlei Spuren seiner sonst immer vorhandenen Fröhlichkeit zeigte. Ganz im Gegenteil funkelten seine grüne Augen böse. Noch schlimmer, die Lider waren zu Schlitzen zusammengezogen und verstärkten den schon immer vorhandenen Katzen-Effekt, insgesamt also kein gutes Zeichen für die, die Lukas kannten. Wenn er einen so ansah, stand er kurz davor einem die Augen auszukratzen – natürlich nur bildlich gesprochen.
Stefan hingegen fühlte sich sichtlich wohl. Nicht zum ersten mal beschlich mich der Verdacht, dass es ihm sichtlich Spaß machte, den einen oder anderen mal so richtig auf die Palme zu bringen. Einen Spaß, den er sich bei den temperamentvolleren Mutanten vielleicht verkneifen sollte. Zack, Nico und Kim neigten manchmal zu sehr gewagten, wenn nicht sogar bizarren Streichen, wenn man sie ärgerte.
Noch einmal tief durchatmend versuchte ich es andersherum: »Stefan, jeder in der Bruderschaft hat jetzt so einen Anhänger. Du weißt doch, auch Pascal trägt einen und ihm vertraust du doch wohl?«
Einige Sekunden ließ ich ihm Zeit, denn natürlich vertraute er Pascal, der war ja schließlich sein Freund und Partner. Und natürlich wusste Stefan auch, dass Pascal ähnlich wie Lukas reagieren würde.
»Glaubst du wirklich, wir würden dir den Anhänger geben, wenn wir Zweifel hätten? Die Bruderschaft hat diese „Salir“ extra für die Normalos erzeugt, damit keiner daran zweifeln kann, dass auch die Normalos zur Bruderschaft gehören. Außerdem wird er dich besser als jeder Blockadechip gegen PSI-Spionage schützen.«
Schutz vor PSI-Spionage war natürlich immer ein Argument, mit dem man bei Stefan punkten konnte. Jahrelang hatte es immer wieder Streit zwischen ihm und Pascal gegeben, weil er mit Pascals Telepathie nicht klar kam. Ich sage nur: angeborenes Misstrauen! Wobei – kann jemand überhaupt so misstrauisch geboren werden, wie Stefan es war oder musste man so was antrainieren?
»Außerdem kannst du mit etwas Übung auch mit jedem anderen Mitglied der Bruderschaft in Kontakt treten, einschließlich Pascal«, lockte nun auch Julian. »Wann habt ihr überhaupt zuletzt miteinander gesprochen?«
Und Eric ergänzte sogleich: »Natürlich ist das dann „abhörsicher“. Du stellst die Verbindung nur zu denen her, mit denen du auch wirklich kommunizieren willst. Es ist wie Anklopfen – wen du hereinbittest ist deine Entscheidung.«
Anscheinend war Stefans Mauer am bröckeln: »Das geht wirklich? – Auch über große Entfernungen?«
»Von hier nach Sibirien ist jedenfalls kein Problem«, warf Tom kurz und prägnant ein. Wusste er doch genau wie wir, dass Pascal sich zur Zeit in dem großen Luft- und Raumfahrt Forschungszentrum „Sergei Koroljow“ auf der Südinsel von Nowaja Semlja in der russischen Förderation aufhielt. Was er da genau machte, konnte oder wollte er uns nicht verraten. Anscheinend war er von unseren russischen Freunden angefordert worden. Zwar galt das ganze Forschungszentrum als exterritoriales Gebiet und wurde von der gemeinsamen Raumfahrtagentur betrieben, dennoch musste man auf gewisse Empfindlichkeiten achten. Seit die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der Förderation liefen, konnte alles zu einem Politikum werden.
Nachdenklich geworden nahm Stefan mir den Anhänger aus der Hand, um ihn sich genauer anzusehen. Zu behaupten, dass er ihn sehr kritisch untersuchte, wäre eine gnadenlose Untertreibung. Nicht umsonst murmelte Tom: »He, ich glaube im Labor hat Olaf noch ein Elektronenmikroskop und andere Spielzeuge, der wollte schon immer mal so ein „Ding“ untersuchen.«
Der Blick, mit dem Lukas ihn daraufhin bedachte, hätte mich wahrscheinlich in wenigen Millisekunden in ein Häufchen Asche verwandelt. Doch wie üblich ertrug Tom so etwas mit unglaublicher Gelassenheit und nur Eric erlaubte sich ein Grinsen.
Bevor Stefan die Gelegenheit ergreifen und Toms Vorschlag in die Tat umsetzen konnte, betraten Frank und Robin überraschend den Raum. Ihr Gesichtsausdruck ließ nicht viel Spielraum für Interpretationen: Leute, die gute Nachrichten brachten, sahen einfach anders aus.
Robin war es dann auch, der zur Begrüßung rief: »Schaltet mal auf Kanal-24, die wiederholen es bestimmt gleich noch mal.«
Kanal-24 war der Nachrichtenkanal, auf ihm sendete Reality-TV ihre Reportagen. Angesichts von Franks versteinerter Miene konnte dies nun wirklich überhaupt nichts Gutes bedeuten. Von entsprechend üblen Vorahnungen geplagt, drehten wir uns zur Projektionsfläche, während Stefan nach der Fernbedienung fischte.
Das Bild flimmerte kurz auf um einem gestochen scharfen Abbild von Senator Huber Platz zu machen. Dieser blickte nun, scheinbar herablassend, auf uns nieder. Als hätte mir diese widerliche Visage nicht schon genügt, fing er dann auch prompt an, seinem Pseudointerviewpartner den verabredeten „Dialog“ aufs Auge zu drücken.
»… ja natürlich unterstütze ich die Bemühungen der Abwehr, und das müssen sie mir glauben, in dieser wirklich dramatischen Situation und die Situation ist wirklich mehr als nur dramatisch, ist es das mindeste was die Bürger von ihren politischen Führern erwarten können. … über die entsprechenden Gebiete den Ausnahmezustand zu verhängen, war wirklich sinnvoll - um nicht zu sagen dringend notwendig. Auch die Nachrichtensperre ist sicherlich angebracht, sonst könnte es, angesichts der Vorkommnisse, zu Übergriffen auf gewisse, möglicherweise sogar unbeteiligte Randgruppen kommen …«
Damit wollte er wohl klar machen, dass er sehr wohl über die „Vorkommnisse“ informiert war. Wer die „gewissen Randgruppen“ waren, darauf würde er sicherlich auch noch angesprochen werden, auch wenn jedem hier klar war, wen er meinte.
»Entsprechenden Gebiete? Ist außer Sektor-17 sonst noch ein Sektor überfallen worden?«, wunderte sich Eric.
»Nein, das machen solche Typen immer so, er will nur noch mehr zur Verunsicherung beitragen. Pass auf, gleich kommt bestimmt das Monster-Synonym«, knurrte Stefan.
Und als wäre er der Regisseur dieser Sendung hörten wir sogleich: »… Nein, noch wäre es zu früh alle auffällige Personen, oder solche zweifelhaften Aussehens, automatisch als Mutanten zu bezeichnen. Aber Tatsache ist, und das ist unbestritten, dass es Überfälle dieser Monster auf die Wohnungen unserer Mitbürger gegeben hat. Es gab einige Tote und sehr viel Zerstörung, bedauerlicherweise gelang es der Abwehr erst nach einigen Stunden, die Lage annähernd unter Kontrolle zu bekommen ...«
Klar, die Abwehr kam ja auch erst Stunden nach dem Überfall, aber da hatten die Drachen und wir die Lage längst unter Kontrolle. Und Tote gab es auch, aber nur auf Seiten der Angreifer. Wie üblich log der Senator nicht direkt, nur zeichnete seine Beschreibung ein völlig anderes Bild.
In dem nachfolgenden Gemurmel hätte ich beinahe die eigentliche Nachricht verpasst: »Wir dürfen die Augen vor dieser Bedrohung nicht länger verschließen, ..., in den rechtsfreien Räumen der Sektorstädte hat sich ein enormes Bedrohungspotenzial angehäuft – Mutanten sind keine Hirngespinste, die Monster, die letzte Nacht in Sektor-17 gewütet haben waren Realität!«
Schon wieder die Mutanten-Monster, wenn der Kerl kein Darwinianer war – Aber worauf waren die aus, was wollte er erreichen? Als hätte er meine stumme Frage gehört fuhr Senator Huber mit Pathos fort: »Noch ist es nicht zu spät!«
Ah, jetzt ja eine Insel. Habe ich schon erwähnt? – Ich kann den Kerl nicht leiden und seinen bescheuerten Sohn noch weniger. Ungerührt meiner stillen Verwünschungen kam, was kommen musste:
»Nur schärfere Gesetze und massive staatliche Kontrolle können die Gefahr jetzt noch eindämmen! Ich werde mich mit meiner ganzen Kraft dafür einsetzen und nicht eher ruhen bis „das Gesetz zur Zwangsregistrierung aller Mutanten“ durch alle Instanzen gegangen ist! – Zur Zeit bin ich im ständigen Kontakt mit den entsprechenden Stellen des Staatsschutzes, um alle dafür geeigneten Maßnahmen vorzubereiten.« Mit vertrauensheischenden Blick fügte er abschließend hinzu: »Die Lage ist ernst, aber wir werden sie gemeinsam meistern!«
»Gesetz zur Zwangsregistrierung?! – Stefan, hast du davon gewusst?«, Franks bestürzte Frage hing wie eine dunkle, drohende Gewitterwolke in der Luft.
»Wie soll das überhaupt gehen? Ich meine, nur Mutanten können doch feststellen, wer Mutant und wer Normalo ist«, brummte Tom überrascht.
Stefan stöhnte unterdrückt und ließ sich tief in seinen Sesel sinken. Nachdenklich spielte er mit dem Salir in seiner Hand, bevor er ihn mit einer entschlossenen Bewegung um seinen Hals hängte: »Das Gesetz zur Zwangsregistrierung ist eines von Senator Hubers Steckenpferden!
Nach allem, was wir wissen, damit meine ich auch die Abwehr, gibt es keine Möglichkeiten, Mutanten so einfach aufzuspüren. Er und seine Freunde vom Staatsschutz wollen einfach noch mehr Macht. Wir glauben, dass sie das Gesetz nur benutzen wollen, um unliebsame Leute aus dem Weg zu schaffen. – Stell dir vor, du wärst ein Normalo und müsstest plötzlich beweisen, dass du kein Mutant bist! – Das geht einfach nicht, je nachdem, wie sie das dann weiter ausgestalten, können sie dich dann unbefristet wegsperren. Der Überfall gestern muss für den Senator wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk gewesen sein.«
»Und wenn er selbst Darwinianer ist?«, machte ich meiner Befürchtung Luft.
Stefan sah mich überrascht an, schüttelte dann aber den Kopf: »Glaube ich nicht, bei den Darwinianern steckt mehr dahinter, Senator Huber will einfach nur Macht. Die Darwinianer wollen, soweit wir wissen, eine andere Welt.«
Auf dem Dach eines Wohnblocks in Sektor-11
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 8 Uhr
Der Wind pfiff kalt über das Dach des Wohnblocks, und Thimo benötigte einige Sekunden, bis er die gesuchte Gestalt am Rande des Daches entdeckte. Langsam, die Umgebung sondierend, ging er auf den Wartenden zu.
»»So misstrauisch geworden, Thimo?««
Der leise Spott hallte in seinem Kopf nach, doch diesmal ließ sich Thimo nicht beirren: »»Wir leben in unruhigen Zeiten, Paul. – Das sollte selbst dir nicht entgangen sein.««
Ein leises Lachen, dann drehte sich der Angesprochene um: »»Nur Paul? – Dann bist du also nicht mehr mein Schüler?««
Ein bitteres Gefühl durchfuhr Thimo und er konnte sich eine entsprechende Antwort nicht verkneifen: »»Lässt ein wahrer Meister seinen Schüler in der Gefangenschaft eines Irren – oder überlässt es anderen, ihn zu befreien?««
Der verbale Hieb saß, das konnte Thimo daran erkennen wie sein alter Meister und Mentor zurückzuckte.
»»Du weißt genau, dass ich das nicht wollte! Der Große Rat war der Meinung …««
Thimo war herangekommen und stand jetzt dicht vor dem Mann, für den er einmal unter allen Freien Mutanten am meisten Bewunderung empfand. Paul Winter trug wie üblich eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und angesichts der Kälte einen knielangen schwarzen Ledermantel. Anders als die anderen Heiler trug er nie ausschließlich weiß, immer war da auch noch etwas Schwarzes an ihm. Inzwischen vermutete Thimo, dass Paul damit sein Mutantentum unterstreichen wollte, denn Paul war einer der wenigen Heiler, der auch andere PSI-Fähigkeiten besaßen. Überhaupt war er in vielen Punkten anders als die übrigen Heiler. Umso schlimmer empfand Thimo deshalb den Verrat. Paul hatte nichts unternommen, ihn aus der Gefangenschaft von King Roy zu befreien, statt dessen fügte er sich den Wünschen des Großen Rates.
Entsprechend wütend unterbrach Thimo Pauls Rechtfertigungen mit einer knappen Geste: »»Du wolltest mich treffen? – Gut, ich bin gekommen, erwarte aber nicht zu viel!««
Traurig suchte Paul nach Worten, bis sein Blick auf Thimos Cadoc fiel, dem quadratischen Anhänger mit den nach innen gewölbten Seiten, der ihn als Mitglied der Bruderschaft auswies: »»Dann sind die Gerüchte also wahr, ihr habt es getan?««
Ein spöttisches Lächeln erschien auf Thimos Gesicht, während er die fernen Lichter von Paradise City betrachtete: »»Wir? – Nein! Die Bruderschaft selbst hat sich erneuert. Es waren die „Alten“, die es initialisierten, sie haben uns zu Mitgliedern gemacht.««
»»Aber diese Anhänger? – Diese Form gab es früher nicht!««
Thimo schüttelte verblüfft aber vor allem enttäuscht den Kopf: »»Ist das nicht typisch? Paul – Die Bruderschaft! Es gibt die Bruderschaft wieder, alle Mutanten sind aufgeregt, viele freuen sich wirklich! – Aber du und der Große Rat debattieren über die Form der Anhänger! Das ist doch wieder typisch, und ich dachte wenigstens du seist anders.««
Ein müdes und ein wenig gequält wirkendes Lächeln huschte über Pauls Gesicht: »»Keiner kann aus seiner Haut, auch ich nicht. Sieh es als Zeichen meines Alters und der zermürbenden Wirkung zu vieler Ratssitzungen.««
Ärgerlich schüttelte Thimo den Kopf und betrachtete Paul, der nicht älter als Anfang 30 wirkte, abschätzend: »»Diesmal nicht Paul, diesmal kokettierst du nicht mit deinen 124 Jahren. Es ist nicht die Zeit, die euch alt macht, es sind eure Ansichten! Ich habe gestern Dinge erfahren, die ich lieber von dir erfahren hätte.««
»»Was für Dinge?««, in Pauls Stimme mischte sich Besorgnis.
»»Wie wäre es zum Beispiel mit eurer Rolle beim Verschwinden der Bruderschaft?!««
»»Wir haben nichts gegen sie unternommen!««
»»Ihr habt ihnen einen Weg gewiesen, ihnen aber nichts von den Gefahren erzählt, die dort auf sie lauern.««
»»Sie waren mächtige Mutanten die keine Hilfe brauchten, niemandem ist etwas passiert.««
»»Paul! Du machst es dir zu einfach! Viele sind nicht mehr zurückgekehrt, und …««
»»… und jetzt wollen sie Rache?««
»»Rache?««, Thimo lachte schallend. »»Ist es das, wovor ihr euch fürchtet? Die Rache der Bruderschaft?««
»»Einige im Großen Rat fühlen sich unwohl bei dem Geda…««
»»So was nennt man schlechtes Gewissen! – Es überrascht mich allerdings, dass solche Gefühlsregungen bei den Mitgliedern des Großen Rates überhaupt noch vorhanden sind.««
Wieder zuckte Paul zurück, als habe ihn nicht nur ein verbaler Schlag getroffen. Für ihn war es schockierend zu sehen, wie weit Thimo von den Idealen der Freien Mutanten abgerückt war. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Thimo so über den Großen Rat sprechen würde. Aber am meisten traf ihn die Tatsache, dass er Thimo verstand.
»»Du bist stark geworden, sie haben dich viel gelehrt!««
Thimo wurde langsam ungeduldig: »»Warum wolltest du mich WIRKLICH sprechen?«« Er spürte, dass Paul auf den eigentlichen Grund noch immer nicht gekommen war.
»»Der Große Rat will eine Sondersitzung wegen dem, was gestern geschehen ist.««
Wieder konnte sich Thimo ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen: »»Wegen des Morlock-Überfalls? – Oder des Eingreifens der Bruderschaft? – Oder wegen der Wiederauferstehung der Bruderschaft?««
Paul seufzte tief: »»Thimo, ich bin nicht dein Feind! Im Prinzip finde ich es sogar gut, dass die Bruderschaft wieder existiert. Aber ihr müsst euch zurückhalten, keine solche PSI-Fluten wie gestern Nacht und schon gar keine solchen offenen Kämpfe zusammen mit den – mit den Normalos!««
»»Du verstehst nicht! Das gestern war eine gezielte Aktion der Darwinianer! Ich habe euch doch diese Pseudo-Morlocks gezeigt. Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wäre der ganze Sektor verwüstet worden.««
»»Der Rat sieht das anders!««
»»Du meinst Mareck sieht es anders!««
»»Ja! Er behauptet, dass nur so viele Morlocks erschienen sind, weil ihr eingegriffen habt. Die Morlocks hätten sich sofort zurückgezogen, wenn sie bekommen hätten, was sie wollten. Nur weil ihr dazwischen gegangen seid, hätten sie so massiv angegriffen.««
»»Ist das auch deine Meinung?««, nachdem Paul zögerte, hakte Thimo nach: »»Frag doch mal deinen oberschlauen Mareck, was die Pseudo-Morlocks denn unbedingt haben wollten. In dem ganzen Sektor gab es nichts, was die brauchen konnten. Außerdem sind es keine „echte“ Morlocks, sondern künstliche Kreaturen!««
»»Du kennst doch Mareck, er bestimmt, was die anderen zu denken haben, er weiß einfach mehr als alle anderen und er …««
»»… er ist ein altes Fossil! Ein alter Mann, der den richtigen Zeitpunkt für die höhere Stufe verpasst hat. Er hätte schon längst seinen Körper aufgeben und anderen das Ruder überlassen sollen.««
»»Da widerspreche ich dir nicht, aber dennoch hat er sehr viel Einfluss. Er besteht darauf, dass du am Donnerstag erscheinst …««
»»Tot oder lebendig?««
»»… und dich von der Bruderschaft lossagst. Er will notfalls alle Freien Mutanten mobilisieren, um die Bruderschaft zur Vernunft zu zwingen.««
»»Vernunft? Der Kerl ist doch völlig irre! Kein Freier Mutant wird gegen uns kämpfen! Hast du eigentlich eine Ahnung, was seit gestern los ist? Die Freelancer, der Freundeskreis und praktisch jede größere Gruppierung hat uns ihre Unterstützung zugesagt.««
»»Du darfst Marecks Einfluss nicht unterschätzen, wenn …««
»»Camelot und der Campus sind nahezu uneinnehmbar! Kein unerwünschter „Besucher“ kann dort erscheinen, das hat mir Fred gestern noch einmal in aller Deutlichkeit klar gemacht. So unantastbar das Conventiculum bisher für jeden „Besucher“ war, so sicher sind nun auch Camelot und der Campus.««
»»… wenn sich der Große Rat hinter ihn stellt, werden auch viele der Freien Mutanten …««
»»Aber es wird diesmal keine Sitzung hinter verschlossenen Türen geben!««
Überrascht brach Paul ab und sah Thimo ins Gesicht: »»Was, was meinst du damit?««
»»Das Recht der Freien Mutanten! Jeder Freie Mutant hat das Recht an der Sitzung des Großen Rates teilzunehmen! Nur weil es seit über 90 Jahren keiner mehr eingefordert hat, heißt es nicht, dass es dieses Recht nicht mehr gibt. Am Donnerstag werden viele der Freien Mutanten kommen die ich kenne und einige werden auch Freunde mitbringen! Ich fürchte, der Bunker wird ziemlich voll werden und Mareck könnte vor großen Problemen stehen, wenn er alle überzeugen will««, grinste Thimo spöttisch und etwas herausfordernd. Dass er irgendwann vor den Großen Rat zitiert werden würde, damit rechnete er schon lange.
Paul brauchte sichtlich einige Sekunden, das zu verarbeiten. Eine Sitzung mit Beiwohnern hatte er selbst nie erlebt. Seit er im Großen Rat war, waren immer nur die Ratsmitglieder zusammen gekommen.
Nachdenklich sah er zu Thimo: »»Es könnte klappen. Damit dürfte er, zumindest anfangs, etwas überfordert sein.««
»»Was ist mit dir? Stehst du auf seiner Seite?««
Ein müdes Lächeln huschte über Pauls Gesicht: »»Wenn du wirklich Zweifel hast, dann hättest du mir das nicht sagen dürfen. Überraschung ist noch immer eine der gefährlichsten Waffen, und wenn dein Plan klappt, dann wird Mareck sehr überrascht sein. Um ehrlich zu sein, mir gefällt es nicht, wie schnell sich die Dinge entwickeln. Hast und übertriebene Eile waren schon immer schlechte Baumeister.««
»»Manchmal liegt es aber nicht in unserer Hand, wie schnell sich etwas entwickelt.««
Nachdenklich nickte Paul und sah seinen ehemaligen Schüler stolz an: »Ich denke du hast den richtigen Weg gefunden, jetzt können wir nur hoffen, dass es auch mir und den anderen gelingt.««
Thimo zögerte einige Sekunden bevor er in die Tasche griff und etwas daraus hervorholte: »»Anfangs konnte ich es nicht glauben, aber jetzt denke ich, dass der dir deinen Weg weisen wird.«« Dann übergab er Paul einen Anhänger – es war ein Telin und er trug Pauls Signatur. »»Du musst wissen, Paul, nicht du findest die Bruderschaft, sondern die Bruderschaft findet dich.««
Kims Apartment - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 kurz nach 12 Uhr
Ein widerliches Zirpen drang langsam in Kims Bewusstsein vor, und nach einigen Augenblicken identifizierte er es als das seltsam entstellte Signal seines Weckers. Noch völlig verschlafen versuchte er die Quelle des unangenehmen Geräusches zu orten.
Mit einem Rundblick aus seinen übermüdeten Augen musste er, nicht zum ersten Mal, feststellen, dass Zack eine richtige kleine Schlampe war. Überall am Boden verstreut lagen Zacks Kleidungsstücke und Teile seiner Ausrüstung.
Ganz dunkel konnte sich Kim erinnern, dass da unten im Chaos auch sein Wecker liegen musste. Bis gestern stand er ordentlich auf dem kleinen Regal über ihrem Bett, doch dann musste er unverschuldet in Zacks Hände geraten sein. Damit erlitt der Wecker dasselbe Schicksal wie alles, was in Zacks Pfoten geriet: es verschwand im Chaos.
Grummelnd fragte sich Kim, wo denn jetzt Zacks vielgerühmtes Gehör blieb, ausgerechnet den Wecker wollte er offenbar nicht hören. Kaum aufgestanden stolperte Kim auch schon über Zacks schwere Stiefel, die der bisher nur einmal getragen hatte. Taumelnd stolperte er weiter bis sein nackter Fuß etwas metallisches berührten, das sogleich anfing leise zu summen. Mit einer bösen Ahnung versuchte Kim im Halbdunkel zu erkennen, auf was er getreten war.
»Pass doch auf – du stehst auf meiner Waffe, der Wecker ist weiter rechts«, brummte Zack plötzlich aus der Tiefe des Bettes, wo er unter einer Decke vergraben lag.
Leise fluchend bückte sich Kim, und ihn traf fast der Schlag, als er realisierte, dass das Magazin voll und die Waffe entsichert war. Durch die Berührung war die Zuführautomatik aktiviert worden, daher kam das summende Geräusch. Die Abschussfreigabe leuchtete auf Grün und signalisierte damit, dass eines der ThermoRack-Projektile im Lauf war und nur noch auf den Zündimpuls lauerte. Das rote Blinken daneben, warnte dem Eingeweihten, dass die Waffe auch noch auf Dauerfeuer eingestellt war.
Kim grübelte verschlafen eine Sekunde, hatte Eric gestern nicht erwähnt, in geschlossenen Räumlichkeiten sollte man die Waffe maximal auf Triple-Loop stellen; also so, dass bei Betätigung des Abzugs nur drei Geschosse den Lauf verließen. – Anscheinend war Zack da bei einem der Punkte nicht so ganz aufmerksam gewesen, kein Wunder, wo er doch die „Dinger“ überhaupt nicht mochte.
»Äh, ich glaube die Aufschlagszündung ist auch noch aktiv, war mir nicht so ganz sicher, wie man diesen Schwachsinn wieder abstellt«, kicherte Zack, der sich natürlich schon die ganze Zeit bei Kim eingeklinkt und sich über dessen Grummeln köstlich amüsiert hatte.
Vorsichtig kippte Kim die Waffe noch mehr nach links und tatsächlich dicht neben dem Magazin leuchtete der purpurfarbene Signalstreifen. Jedes der 40 Geschosse würde beim Aufschlag wie ein kleiner Thermaldetonator reagieren. Resignierend seufzte Kim, sicherte die Waffe, stellte die Vorwahl auf Einzelschuss und deaktivierte den Aufschlagszünder, genau so, wie Eric es ihnen im Unterricht erklärt hatte. Mit dem ihr gebührenden Respekt legte er die MikroRak neben seine eigene Waffe in das Regal und machte sich weiter auf die Suche nach dem immer leiser fiependen Wecker.
Zacks „warm, wärmer, heiß“ Hinweisen folgend fand er wenig später den inzwischen kaum noch hörbar fiependen Wecker. Ein kurzer Blick genügte Kim, um festzustellen, dass Zack es auch noch geschafft hatte, den Alarm um vier Stunden auf 12 Uhr zu verstellen.
Zack war eben ein Nachtmensch und beschwerte sich schon die letzten Tage über die unmenschlichen Zeiten. Zwei Sekunden zögerte Kim, dann schmiss er das Teil wohlgezielt zu der Erhebung unter der Decke, unter der er Zacks Kopf vermutete. Jedoch kurz vor dem Ziel erschien plötzlich eine Hand in der Flugbahn und ein knirschenden Geräusch ließ ihn erkennen, dass für den Wecker die letzte Stunde angebrochen war.
Nur wenige Sekunden später tauchte Zacks grinsendes Gesicht unter der Decke hervor und ließ dabei achtlos die Überreste des Weckers zu Boden fallen. Empört zischte Kim: »Gleich neben dir steht der Papierkorb, wirf das gefälligst dort rein!«
Erstaunt und etwas betroffen sah Zack ungläubig zu Kim, bevor er etwas Unverständliches grummelnd, tatsächlich die Überreste des gemeuchelten Weckers wegräumte. Kim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er auf das Bett sprang und Zack durch das Haar wuschelte: »Du bist wirklich eine kleine Schlampe! Alles lässt du fallen wo du gerade stehst.«
»Gar nicht wahr! Ich liege«, grummelte Zack, zog aber dennoch schuldbewusst den Kopf ein. Er grinste aber schon wieder unverschämt, als er Kim zu sich zog und küsste: »»Morgen, mein großer tapferer Held. Ich bin nicht unordentlich! – Du bist einfach ein unglaublicher Ordnungsfanatiker!««
»»Doch, du bist unordentlich, alles liegt verstreut am Boden!«
»»Hm, ich habe noch nie mehr besessen als das, was ich gerade trug. Ist schon ziemlich ungewohnt, plötzlich auf so viel Zeug aufzupassen««, murmelte Zack nachdenklich und schielte schuldbewusst zu seinen verstreuten Sachen.
Sanft streichelte Kim über Zacks muskulöse Brust. »Aber das mit der Waffe geht wirklich nicht! Die verfeuert 1200 Schuss in der Minute und …«
»Tut sie nicht!«
»Tut sie doch, Eric hat gesagt …«
»Dass sie theoretisch 1200 Schuss pro Minute verfeuert – aber im Magazin sind doch nur 40 Schuss.«
»Okay, und diese 40 Schuss wären in zwei Sekunde draußen und hätten das Zimmer dank der aktiven Aufschlagszündung in einen Glutofen verwandelt.«
»Ich sag ja immer, das sind idiotische Dinger! Wozu braucht man so 'nen Mist?«, grinste Zack mit entwaffnender Offenheit.
Kim jedoch stöhnte unterdrückt: »Wenn 20 Pseudo-Morlocks auf mich zustürmen, dann fände ich so eine MikroRak schon ganz nützlich.«
Zweifelnde Augen sahen Kim an: »Du würdest auf die Morlocks mit so einem Ding schießen?«
»Natürlich, oder sollte ich versuchen sie von Hand aufzuhalten? Du hast doch gesehen, alleine mit Telekinese können wir nicht so viel ausrichten. Die Typen waren teilweise verdammt schnell.«
»Trotzdem, die haben auch keine Waffen – So was ist unfair.«
»Die haben keine Waffen, die sind Waffen. Das sind ja nicht einmal wirkliche Lebewesen. Die sind doch Roboter mit etwas Fleisch darum.«
Nachdenklich brummte Zack seine Zustimmung und wälzte sich sogleich mit einer geschickten Bewegung auf Kim: »Hab dich, was bekomme ich jetzt?«
Kim grinste breit und zupfte telekinetisch an Zacks Schweif, so dass der überrascht herumfuhr und empört kreischte, als er realisierte was da geschah. Die Gelegenheit nutzte Kim natürlich sogleich und wälzte sie beide herum. Zacks Arme über dessen Kopf fixierend lachte er jetzt auf Zack hinunter: »Tja, meine kleiner Chaot, jetzt bin ich oben.«
Normalerweise wäre es für Zack ein leichtes gewesen Kim wieder abzuwerfen, denn Körperlich war er ihm weit überlegen. Da er aber spürte, dass Kim heute oben sein wollte, ließ er sich nur zu gerne bezwingen, bereute den Entschluss aber fast schon wieder, als Kim heiser flüsterte: »Und danach räumen wir auf, ich will mir nicht noch den Hals brechen.«
@Mike
Stefans Büro - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 12 Uhr 30
»Hallo Jungs, ich bin wieder da«, wie aus dem Nichts erschien Thimo, und er war ganz offensichtlich nicht alleine, was Stefan mit einem Knurren zur Kenntnis nahm. Mochte er es schon nicht, wenn ein Teleporter ungefragt bei ihm erschien, so mochte er es überhaupt nicht, wenn der besagte Teleporter auch noch einen unbekannten Besucher mitbrachte.
Wobei unbekannt auf diesen Besucher nicht so ganz zutraf, denn zumindest Frank kannte ihn ganz offensichtlich: »Paul? Was bringt dich den hier her?«
»Ganz offensichtlich Thimo, würde ich sagen«, scherzte Lukas. Wobei sein Grinsen recht schnell verschwand, als er bemerkte wie zwiespältig die Schwingungen waren, die von Frank ausgingen.
Paul hingegen schien alles andere als überrascht zu sein. Neugierig, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung, sah er sich im Büro um. Die Präsenz, die von ihm ausging, war genauso ungewöhnlich wie seine Kleidung. Eindeutig war, dass er ein Mutant war, aber noch nie hatte ich einen gesehen, der vom üblichen Farbschema abwich.
»»Du hast auch noch nie einen Heiler gesehen!«« Die Aufregung, von der Julian erfasst schien, war fast schon überwältigend. Der Kerl war also ein Heiler? – Hm, kein Wunder, dass Frank etwas seltsam reagierte, sein Verhältnis zu den Heilern war schließlich mehr als nur zwiespältig.
»Ich möchte euch meinen ehemaligen Meister und Mentor vorstellen. Paul Winter ist ein Heiler, Mitglied im Großen Rat und neuerdings auch, als Telin-Träger, ein Mitglied der Bruderschaft.«
Zu sagen, dass Thimos Erklärung wie eine Bombe einschlug, wäre eine glatte Untertreibung. Besonders Frank erweckte den Eindruck, eines jeden Moment detonierenden Dampfkessels, aber auch wir anderen waren „etwas“ irritiert. Wie konnte der Kerl ein Mitglied der Bruderschaft sein und woher stammte das Telin? Diese und andere Fragen gingen in dem Moment jedem von uns durch den Kopf.
Beschwichtigend hob Thimo die Arme und erklärte: »Als wir, also Mike, Julian, Zack und Kim, gestern zusammen das Conventiculum verließen und zu Fred gingen, da bist du, Mike, zusammen mit Julian durch den Obelisken hier her gegangen. Ich wollte euch folgen, aber Fred hat mich aufgehalten und zurück in das Conventiculum geschickt.«
Ups, davon hatten wir nichts mitbekommen. Aber jetzt wo er es sagte fiel mir ein, dass wirklich nur noch Kim und Zack uns zum Campus gefolgt waren, und die kamen per Teleportation.
»Als Marty uns verließ, ließ er die Salir-Anhänger für die Normalos zurück. Jeder der Anhänger trug die Signatur seines zukünftigen Besitzers, so wie der von Stefan seine Signatur trägt. Aber unter den Salir-Anhängern befanden sich noch andere Anhänger, Anhänger für insgesamt drei nicht anwesende Mutanten!
Noch in der Nacht haben Frank, Robin und ich alle Anhänger grob sortiert. Von den meisten Hood-Normalos kannten wir die Signatur und konnten die Anhänger entsprechend zuordnen. Bei der Gelegenheit habe ich dann auch den von Stefan an mich genommen, weil ich sowieso hier her kommen wollte.
Von den Mutanten-Anhängern erkannte ich einen sofort. Paul ist mein Mentor gewesen und natürlich würde ich seine Signatur unter tausenden erkennen. Doch ich hatte ein Problem, denn unser Verhältnis war nicht mehr so gut, seit ich von King Roy festgehalten wurde und niemand etwas unternahm. Niemand außer euch!«
Betretenes Schweigen auf ganzer Front. Auf unserer Seite, weil uns nie so ganz klar geworden war, wie sehr das Verhalten des Großen Rates ihn erschüttert haben musste, und bei Paul, weil er wieder daran erinnert wurde, wie sehr er Thimo im Stich gelassen hatte.
»Vorhin meldete sich Paul bei mir und wir haben uns ausgesprochen. Es gibt, wie nicht anders zu erwarten, neue Komplikationen, aber das wird er euch jetzt selbst erzählen.«
Thimo schwieg und wir alle sahen Paul jetzt gespannt an, bis Frank wütend zischte: »Du hättest es uns sagen müssen, bevor du einem Heiler und einem Mitglied des Großen Rates einen Telin übergibst! Du hattest kein Re…«
»Stopp Frank! Sag jetzt nichts unüberlegtes!«, unterbrach Julian Franks Ausbruch ungewohnt scharf.
Als Julian sich unserer Aufmerksamkeit sicher sein konnte, sprach er gewohnt ruhig weiter: »Genau das ist das Problem, weswegen die Bruderschaft auch die Salir-Anhänger ausgegeben hat. Die Bruderschaft sagt, wer Mitglied ist und wer nicht! Und die Bruderschaft hat beschlossen, dass Paul ein Mitglied ist, deshalb gibt es für ihn einen Anhänger. Wir haben nicht das Recht zu bestimmen, ob er den Anhänger bekommt oder nicht. Der Anhänger war da und Thimo hat ihn nur dem Eigentümer überreicht.«
Frank schnaubte wütend, aber seine Wut galt weder Julian noch Thimo. Ihn ärgerte es einfach, dass er keinen Einfluss darauf hatte, wer zur Bruderschaft gehörte und wer nicht. Wobei ich mir auch nicht sicher war, ob es mir gefallen sollte oder nicht. Einerseits ließ sich so eine Vielzahl von Problemen vermeiden, denn niemand konnte ein neues Mitglied ablehnen. Mir gefiel andererseits nicht, dass wir keine Ahnung hatten, nach welchen Gesichtspunkten neue Mitglieder ausgewählt wurden. Im Moment mussten wir einfach darauf vertrauen, dass die „Alten“ wussten was sie taten.
»Das ist wie in einer Familie. Da kannst du auch nicht sagen, den neuen Bruder mag ich nicht und deshalb gehört er nicht zu uns«, brummte Tom und legte Frank beruhigend die Hand auf die Schulter.
Paul räusperte sich und sah Frank traurig an: »Ich weiß, warum du so wütend bist. Ich hätte mich einfach gegen Mareck durchsetzen müssen …«
»Etwas mehr Rückgrat deinerseits hätte auch meinem gut getan«, giftete Frank zurück.
Die Situation war alles andere als angenehm, bis Robin sich auch noch neben Frank stellte und ihm ebenfalls besänftigend die Hand auf die Schulter legte: »Ihr müsst wissen, dass nach Franks Unfall Paul als einziger der Heiler bereit war, ihm als Freelancer und ohne Bedingung zu helfen. Doch kurz bevor sie sich treffen konnten, verbot Mareck, der auch Vorsitzender des Großen Rates ist, die Heilung. Wie üblich mit der Begründung, dass sich die Freelancer nicht an die bestehende Ordnung hielten und deshalb keine Hilfe bekommen dürften.«
Damit war mir klar, warum Frank so reagierte, Paul war der Einzige, der bereit war zu helfen, das sprach ja eigentlich für ihn. Dann aber beugte er sich den Anordnungen dieses Mareck und damit verurteilte er Frank dazu, sich mehr als zwei Jahre nur mit mehr oder weniger guten Hilfsmitteln durchzuschlagen. Denn erst als wir aus dem Labor kamen, wurde Frank von uns mittels Reiki geheilt. Bis dahin war er auf die Hilfe eines Bionischen-Korsetts und seinen Rollstuhl angewiesen.
Was nun folgte, war eine sehr lange und teilweise extrem emotionale Aussprache. Paul und Thimo berichteten auch von der Sondersitzung des Großen Rates, die am Donnerstag in einem Tiefbunker etwas außerhalb von Sektor-16 stattfinden sollte.
Mit zum Überraschendsten gehörte für mich, dass Paul, den ich auf Anfang 30 geschätzt hätte, 124 Jahre alt war, aber immer noch zu den jüngeren Mitgliedern des Großen Rates zählte. Jetzt wurde mir auch klar, warum Marty vom Ältestenrat gesprochen hatte.
Nachdenklich sah ich zu Julian, und wieder verstanden wir uns ohne Worte und ohne Telepathie. Bevor Thimo vor dem Großen Rat erscheinen würde, wollten wir ihn zu einem echten Iratus Lemurum machen. »»Und etwas Conturbation könnte auch nicht schaden, wenn er es will««, meldete sich Julian doch noch zu Wort.
Kims Apartment - Campus Occursus
Mittwoch,02.01.2036 gegen 13 Uhr
Eng umschlungen lagen Zack und Kim auf dem Bett. Wenn sie einmal angefangen hatten, konnten die beiden kaum noch von einander lassen. Immer wieder fiel einem der beiden ein neues neckisches Spiel ein, mit dem sie ihr Zusammensein verlängern konnten.
Sanft streichelte Zack über Kims Rücken, während der noch immer auf ihm lag und mit seiner Zunge mal wieder seine Eckzähne sondierte. Ganz offensichtlich geht von denen eine besondere Faszination aus, so oft wie er sich mit ihnen beschäftigt, überlegte Zack gerade. Im selben Moment spürte er ein vorsichtiges telepathisches Tasten und wenig später den typischen Doppelimpuls einer Teleportation.
»He, ihr könntet euch wenigstens zudecken«, stöhnte Nico und bemühte sich einige Sekunden, nicht auf die zwei Nackten zu sehen.
»Wieso denn, dann hättest du nachher doch keine Vorlage, wenn du dich abreagierst«, spottete Zack. Als er spürte wie sehr er damit Nicos wunden Punkt traf, tat es ihm aber sofort unheimlich leid. »»Sorry Nico, war wirklich nicht so gemeint, aber du hast uns auch kaum Zeit gelassen, uns entsprechend vorzubereiten««, entschuldigte sich Zack, während Kim die Decke über sie zog und sich neben Zack legte.
Noch immer war Nico solo, und die beiden Freunde wussten, wie sehr er sich einen Partner wünschte. Besonders, seit Kim mit Zack zusammen war, kam sich Nico sehr einsam vor.
Einem plötzlichen Impuls folgend sprang Zack auf und huschte auf Nico zu, stolperte dabei aber über seine eigenen Stiefel und riss Halt suchend Nico zu Boden. Während Kim sich vor Lachen und Schadenfreude nicht mehr einkriegte, denn normalerweise war er es, der immer über Zacks Ausrüstung stolperte, zog Zack den sichtlich verwirrten Nico zum Bett.
Dort angekommen kümmerten sich beide ein wenig um Nicos seelisches Gleichgewicht. Mehr als ein paar sehr intensive Streicheleinheiten und ein wenig Kuscheln bekam der zwar nicht ab, aber für Nico war das schon sehr viel. Kim und Zack hatten sich auch einmal überlegt, Nico in ihre Beziehung einzubeziehen, aber ihnen war sehr schnell klar geworden, dass sie es nie schaffen würden, eine richtige Dreierbeziehung aufzubauen.
Nachdem nun auch Nico von seinem größten Leidensdruck befreit war, gingen die drei duschen, und Zack musste sich nun auch von Nico anhören, wie unordentlich hier alles war. Letztlich gab er sich dann geschlagen und gemeinsam begannen die drei Freunde, das Zimmer aufzuräumen.
Erst danach begaben sie sich zur Trainingshalle, wo sie eigentlich schon vor Stunden ihr Teleportationstraining absolvieren sollten. Nur weil die beiden Verliebten nicht zum vereinbarten Termin erschienen waren, war Nico auf die Idee gekommen sie abzuholen. Doch schon nach zwei Stunden intensiven Trainings, bei dem Zack Sprünge von mehr als dreißig Metern schaffte, beschlossen die drei, sich eine Pause im Schwimmbad zu gönnen.
Obwohl unter den Hoods viel über Zack, Katzen und Wasser gelästert wurde, war das Schwimmbad einer von Zack absoluten Lieblingsplätzen. Was eigentlich nur bewies, dass nicht alle Katzen wasserscheu waren, wenigstens war das Zacks Ansicht zu diesem Thema.
Otto-Hahn-Schule bei Paradise City
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 13 Uhr
Bis jetzt ging es ja ganz gut, dachte Benny, während er zusammen mit Carlo in Richtung Mensa schlenderte. Ein Wagen hatte ihn heute Morgen zur Schule gebracht. Bis zur Straße, die am Campus vorbei führte, durfte er den schwarzen Van sogar selbst fahren, doch dann übernahm das automatische Leitsystem die Kontrolle und brachte ihn bis zum Parkplatz der Schule. Benny störte das nicht sonderlich, der Van war ihm allemal lieber, als bei diesem Wetter mit seinem Quad zu fahren. Das hatten ihm einige der Hoods zwar wieder weitgehend hergerichtet, doch alleine der Gedanke an den „Unfall“ jagte ihm den kalten Schweiß auf die Stirn.
Als er dann auf dem Weg zur Schule war, begegneten ihm natürlich sofort Boris, Manuel und einige der anderen Drachen. Doch wie ihm von Louis schon prophezeit wurde, ignorierten sie ihn einfach. Wobei Manuel ihm sogar im Vorbeigehen zugezwinkert hatte, was für Benny schon mehr als ein gutes Zeichen war.
Carlo musste er dann natürlich berichten, was inzwischen alles geschehen war und es fiel ihm nicht leicht, seinem einzigen Freund gegenüber einige Details zu verschweigen. Dass er selbst in Wirklichkeit ein Mutant war, schien für Carlo jedenfalls keine Überraschung zu sein. Carlos Blick schien an diesem Punkt sagen zu wollen „Hast du wirklich daran geglaubt, ein Werwolf zu sein?“.
Was es mit Mike und den Jungs auf sich hatte, durfte er Carlo leider nicht erzählen, doch der schien da auch schon eine gewisse Ahnung zu haben. Zu Bennys Leidwesen trug Carlo neuerdings einen Blockadechip, so dass er nicht erfahren konnte, wie weit Carlo mit seinen Überlegungen schon gekommen war.
Allzu sehr fürchtete Benny die möglichen Überlegungen von Carlo auch nicht. Zwar hatte er Mike versprechen müssen, niemandem etwas über die Jungs zu erzählen, doch Benny war sich sicher, dass Carlo dichthalten würde, wenn er etwas mitbekommen sollte. Schließlich hatte Carlo bisher niemandem etwas über seine „wölfischen Anwandlungen“ erzählt. Aber im Moment aber war sowieso alles, was mit dem Drachen-Sektor zusammenhing, das Gesprächsthema Nummer eins.
Noch völlig in sein Gespräch mit Carlo versunken betraten sie die Mensa, und Benny stockte mitten in ihrem Gespräch: »Was ist den hier los?«, völlig irritiert betrachtete er die neue Raumaufteilung.
Carlo brauchte einige Sekunden bevor er begriff, was Benny meinte: »Ach das! Das ist einer der neuen Einfälle von Direktor Schmitt, damit sollen in Zukunft „Konflikte“ vermieden werden. Konfliktvermeidung durch Trennung! Noch nie etwas davon gehört?«, der bittere Spott in Carlos Stimme war nicht zu überhören.
Sichtlich geschockt betrachtete Benny den runden Mensaraum, der nun in zwei Hälften geteilt war. Man konnte so eine Teilung auf unterschiedliche Arten vollziehen, dies hier war sicherlich eine, die klarstellte, wer willkommen war und wer nicht.
Den Schüler aus Sektor 20, die mindestens 40 Prozent der Schüler ausmachten, waren gerade einmal 25 Prozent der verfügbaren Fläche zugebilligt worden. Mehr oder weniger dicht gedrängt saßen alle im hinteren Teil der Mensa. Von den ursprünglich zwei Eingängen war nun einer für die Schüler aus Sektor 20 und der andere für die aus Paradise City. Stangen mit dicken roten Kordeln trennten die beiden Bereiche voneinander.
»Das hat der Direx zwei Tage nach deinem „Unfall“ und dem „Felix-Zwischenfall“ so angeordnet«, flüsterte Carlo, während er Benny zu den Essensautomaten zog. Enttäuscht musste Benny erkennen, dass es in dem Sektor 20 Bereich nur die einfachen Automaten gab. Gerade jetzt, wo er von Mike eine Eurocredits-Karte bekommen hatte, sollte er sich nicht an den besseren Automaten bedienen dürfen?
Während Carlo und er sich in die unvermeidliche Schlange einreihten, denn natürlich war zufälligerweise die Hälfte der Automaten außer Betrieb, schweifte Bennys Blick in die andere Hälfte der Mensa. Die teils neugierigen, spöttischen aber auch verächtlichen Blicke ignorierte er gewohnheitsmäßig. Keine zehn Meter von ihm entfernt stand einer der Bezahlautomaten. Irgendetwas machte bei ihm Klick – und den eingeschüchterten und zurückhaltenden Benny gab es nicht mehr.
Ohne auf Carlo zu achten stieg Benny gelassen über die Absperrung. Die plötzliche Stille angesichts dieses unerhörten Verstoßes gegen die Schulordnung ignorierte er genauso wie die Blicke, die sich plötzlich alle auf ihn richteten. Seelenruhig ging er zu dem Automaten seiner Wahl und orderte das Putensteak mit Pommes, einen grünen Salat, so wie eine doppelte Portion Eiscreme. Ihm war nicht ganz klar, was seine Mitschüler mehr verblüffte, der Regelverstoß des Nobodys oder die Tatsache, dass er tatsächlich bezahlen konnte.
Genauso seelenruhig wie er gekommen war, stieg Benny mit seiner Beute wieder über die Absperrung und setzte sich zu dem entgeisterten Carlo an den Tisch: »Hier, ich hab dir eine Portion Eis mitgebracht, Schoko-Vanille – das magst du doch?«, grinste Benny frech und widmete sich seinem Essen, wiederum ohne auf die ihn fixierenden Blicke zu achten.
»Bist du verrückt geworden?«, zischte Carlo noch immer völlig fassungslos. »Direktor Schmitt kann dich deswegen von der Schule werfen!«
Gelassen blickte Benny von seinem Essen auf: »Kann er nicht! Außerdem wäre es mir egal, ich könnte auch woanders meinen Abschluss machen.«
Benny war selbst nicht so ganz klar, woher er diese neue Sicherheit nahm, aber er war sich sicher, dass er diese Schikanen nicht akzeptieren würde. Die Stiftung bezahlte für die Schüler aus dem Sektor genau die gleiche Summe wie die Eltern der „besseren Schüler“. Für die Schule gab es somit keinen Grund Unterschiede zu machen.
Auch der Rest des Tages verging, zu Carlos großer Verwunderung, ohne das Benny zum Direktor gerufen wurde. Beiden war klar, dass der von diesem „unerhörten“ Vorgang längst erfahren haben musste, denn das Zuträgersystem funktionierte eigentlich sehr effektiv.
Gegen 16 Uhr verabschiedete sich Benny von Carlo, der noch eine Sonderveranstaltung Robotik besuchen wollte, und schlenderte gemütlich den geschwungenen Pfad zum Parkhaus. Als er gerade um eine im Schatten der Bäume liegende Kurve kam, traten ihm plötzlich vier Mitschüler einer bekannten Gang aus Paradise City in den Weg: »Hallo Sektorlaus, du machst aber einen verdammt zufriedenen Eindruck! Dabei bist du doch schuld das Sigi jetzt solche Probleme hat!«
Unsicher, aber keineswegs panisch, sah sich Benny um, auch ein kurzes Sondieren zeigte ihm, dass sonst niemand in der Nähe war, der ihm helfen könnte. Louis oder Selbstverteidigung? Während er noch abwägte, erkannte er an der Reaktion der vier, dass sie doch nicht so alleine waren wie er bisher glaubte.
»Hallo Benny, Probleme irgendwelcher Art?«
Erschrocken zuckte Benny zusammen, die Stimme kannte er, konnte sie im Moment jedoch niemand zuordnen. Sich einfach umzudrehen erschien ihm auch nicht gerade sinnvoll, zumal die vier Schläger nicht den Eindruck erweckten, als wären sie von dem Unbekannten sonderlich beeindruckt.
Vergeblich versuchte er, den Unbekannten anhand der Signatur zu erkennen, doch diese war ihm nicht bekannt. Erst als Gerald neben ihn trat, erkannte er in ihm einen früheren Schüler seines Pflegevaters Takashi. Jetzt verstand er auch die beunruhigende Gelassenheit, die Gerald an den Tag legte. Benny erinnerte sich nur zu gut daran, wie sehr Takashi Geralds Entscheidung nach London zu gehen bedauert hatte. Wahrscheinlich war Gerald einer der besten Schüler Takashis gewesen, und mit so einem sollte man sich wirklich nicht anlegen.
»Oh, hallo Gerald, du bist wieder hier?«
Bennys zur Schau gestellte Coolness beeindruckte die vier Schläger jetzt schon mehr. Denn keiner, der ihn an der Schule kannte, würde ihn für übertrieben mutig halten. Über Geralds Gesicht huschte ein übermütiges Grinsen. Er hatte nie verstanden, warum Takashi ausgerechnet den eigenen Pflegesohn nie in Kampfsport unterrichten wollte, aber Takashis Wahl, wen er als Schüler akzeptierte, war noch nie leicht zu verstehen gewesen.
»Es gab Probleme in London, ein paar Leute haben mich verwechselt. Wenn ich es mir recht überlege, war die Situation ähnlich wie jetzt.«
Jetzt musste Benny wirklich lachen. Das Mienenspiel der vier waren doch zu komisch. Er brauchte keine Telepathie um zu erkennen, wie sehr die Typen darüber grübelten, ob das jetzt Coolness war, oder ob sie etwas Entscheidendes nicht mitbekommen hatten. Die Unsicherheit stand ihnen jedenfalls wahrlich ins Gesicht geschrieben. Doch mit einem Mal hellten sich ihre Mienen wieder auf. Offensichtlich war jemand eingetroffen, von dem sie sich echte Unterstützung versprachen.
»Hallo Benny, Probleme irgendwelcher Art?«
Déjà-vu? – Doch diesmal erkannte Benny die Stimme jedoch sofort. Nur fiel es ihm recht schwer, die Stimme von Boris mit der Frage in Einklang zu bringen. Aber nicht nur Benny tat sich damit schwer. An den entgleisten Gesichtszügen der vier Schläger erkannte er, dass auch die damit gewisse Probleme hatten.
»Oh, der Chefdrache himself?«, knurrte Gerald von der Seite.
»Hallo Gerald, ich dachte sie hätten dich in einen Käfig gesteckt?«
»Ach Boris, von was träumst du sonst noch? Aber dir könnte so was ja nie passieren, es gibt keinen Käfig der dich und dein Ego aufnehmen könnte.«
»Ja ja, der gute alte Gerald, immer zu Scherzen aufgelegt.«, witzelte Boris zu Manuel, der neben ihm stand und brummte dann, »Wir könnten bei Gelegenheit ja mal über alte Zeiten reden oder so. Aber was ist jetzt mit diesen Witzfiguren?«
Vorsichtig drehte Benny sich um, hinter ihm stand Boris zusammen mit Manuel und Donk. Den wahren Namen von Donk kannte er nicht, alle nannten den zwei Meter Riesen mit 130 Kilogramm Kampfgewicht, der aussah als wäre er einem Comic entsprungen, einfach nur Donk.
So wie Manuel ihm jetzt wieder zuzwinkerte, war Benny klar, dass dies nicht einer der üblen Scherze von Boris war. Auch wenn er es sich kaum vorstellen konnte, aber seit letzter Nacht musste sich Boris’ Einstellung ihm gegenüber radikal geändert haben.
»He Boris, was soll der Scheiß, seit wann beschützt du die kleine Ratte?«
Wütend fuhr Benny herum, wurde dann aber von Gerald zurückgehalten der leise flüsterte: »Greif nie mit Wut an, das macht dich blind für die wirklichen Gefahren!«
Mühsam um seine Selbstbeherrschung kämpfend, hörte er unterdessen Boris antworten: »Er steht unter dem Schutz der NeckTech-Jungs – schon vergessen?«
»Ja und? – Die sind doch nicht da!«
»Wir schulden denen mehr als nur einen Gefallen, also steht er jetzt auch unter unserem Schutz. Ist doch ganz einfach, das solltest selbst du verstehen.«
»Hä?«
Langsam trottete Donk an Benny vorbei und baute sich vor der Gruppe auf. Allein die physische Präsenz war eine Drohung. Dabei unterschätzten alle, wie schnell Donk sein konnte, wenn es wirklich darauf ankam.
Angesichts des ungünstigen Zahlenverhältnisses und der reichlich unübersichtlichen Situation hielten die Schläger einen taktischen Rückzug für angebracht. Unter Verwendung der üblichen Drohgebärden und Verwünschungen verzogen sie sich auffallend schnell.
Ohne auf die Provokationen zu achten, sah Gerald zu Benny: »NeckTech-Jungs? Wer ist denn das schon wieder?«
Boris lachte auf: »Oh, ich bin sicher du hast schon von ihnen gehört. Aber vermutlich in „deinen Kreisen“ unter einem anderen Namen.« Ohne weiter darauf einzugehen liefen die drei Drachen zum Parkhaus. Nur Manuel drehte sich noch einmal um: »He Benny, sag Eric bitte Bescheid, dass wir ihn nachher noch sprechen müssen. – Und grüß Zack von mir, er ist wirklich jederzeit willkommen.«
Noch ein Mitglied für Zacks Fanclub, dachte Benny und fragte sich, wie Boris das wohl verkraften würde, wenn Zack wirklich mal vorbei käme. Ihn hatten die Drachen, nur weil Boris ihn mal als Werwolf zu sehen bekam, die ganze Zeit über verfolgt und Zack, der nun wirklich „tierisch“ aussah, den schlossen alle sofort ins Herz. Benny fand das schon ein wenig ungerecht, aber es war schließlich nicht Zacks Schuld, dass die Leute so doof waren.
Mehr als nur irritiert sah Gerald zwischen Benny und den Drachen hin und her: »Äh Benny, kannst du mir mal erklären, was da gerade lief?«
»Was meinte Boris mit „in deinen Kreisen“?«, murmelte Benny eine Gegenfrage, da nicht wusste wie er Geralds Frage beantworten sollte.
Da sich Geralds Gesicht verschloss begann Benny, mehr gewohnheitsmäßig als geplant, ihn vorsichtig zu sondieren. Mehr und mehr konzentrierte er sich auf Gerald, bei dem er einen leichten Widerstand aufkommen fühlte, bis er plötzlich einen elektrischen Schlag erhielt.
»Lass das! Ich kann diese telepathischen Schnüffeleien nicht ausstehen. Seit wann bist du überhaupt ein Telepath?«
Mindestens genauso überrascht wie Gerald realisierte Benny erst jetzt, was ihn an dessen Signatur schon die ganze Zeit irritierte. Der Signatur nach musste Gerald ein Mutant sein! Entsprechend erstaunt reagierten nun beide. Da Gerald über keinerlei telepathische Fähigkeiten verfügte, konnte er überhaupt nicht bemerken, dass Benny ein Mutant war. Benny hingegen beherrschte zwar die Telepathie, aber zu der Zeit, als Gerald zu seinem Pflegevater kam, waren seine Fähigkeiten so schlecht ausgebildet, dass er von Geralds Mutantentum nie etwas bemerkt hatte.
»Damit dürfte klar sein, was Boris mit „in deinen Kreisen“ meinte. Er wusste wohl, dass du ein Mutant bist – oder?«
Nicht sonderlich erfreut nickte Gerald mit dem Kopf: »Er hat mal erlebt, wie ich Ärger mit ein paar Sektorwölfen hatte. Du kennst ja sicherlich seine Einstellung zu Mutanten, na ja – wir haben uns auch zuvor nicht sonderlich geschätzt.«
Benny grinste breit: »Den meisten fällt es schon schwer, Boris zu mögen. Ich denke, außer Manuel kann das keiner. Ich meine so richtig mögen – du weißt schon …«
Gerald legte den Kopf schief und sah zu Benny fragend an: »Boris und Manuel? Verstehe ich das richtig? Die beiden sind zusammen?«
Benny kicherte jetzt richtig: »Die Jungs sind sich sicher!«, als er Geralds fragenden Blick realisierte wurde sein Grinsen noch breiter, »He, du musst unbedingt mit zum Campus Occursus kommen, Takashi wird sich unheimlich freuen dich wieder zu sehen.«
»Takashi ist jetzt auf dem NeckTech-Campus? Zuletzt hörte ich, dass ihr beide bei diesen Iratus Lemurum untergekommen seid«, dabei musste er automatisch an sein Weihnachtsabenteuer mit Angel denken. Nur zu gerne hätte er ihn wieder getroffen, doch seit damals war Angel wie vom Erdboden verschwunden.
»He, lass dich einfach überraschen. Ich darf dir nicht zu viel erzählen, außerdem ist es auch etwas kompliziert. Komm einfach mit oder soll ich dich zu deiner Wohnung fahren?«
Frustriert verzog sich Geralds Gesicht: »Meine Wohnung? Da ist nicht mehr viel übrig. Sagt dir der Name Janus etwas? Der wollte mich anwerben und einer seiner Helfer hat mich gewarnt. Ich bin dann kurzzeitig bei David untergekommen, aber inzwischen hat jemand die komplette Wohnung auseinander genommen. Da ist jetzt nichts mehr zu retten.«
»Dann kommst du jetzt erstmal mit, glaub mir, meine Freunde werden dir helfen können.« Dabei freute sich Benny unheimlich. Endlich konnte er auch einmal jemand helfen. Er war sicher, Mike und die Jungs würden sehr überrascht sein, was für einen Fang er da anschleppte. Wie überrascht die Jungs sein würden, konnte er nicht ahnen.
@Mike
Schwimmbad - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 16 Uhr 30
Platschend fiel der Wasserbogen über Tom zusammen, so dass der mit einem Schlag wieder wach wurde. Lukas grinste hinterhältig, war er doch diesmal der Baumeister der Wasserskulptur gewesen. Zusammen mit der Elektrokinese hatten die beiden von uns auch die Hydrokinese bekommen, doch bisher ergab sich kaum eine Gelegenheit mit dieser Fähigkeit zu üben. Offensichtlich fanden Lukas und Julian das dies ein günstiger Zeitpunkt wäre – Tom hingegen schien da allerdings anderer Meinung zu sein.
Nach der Besprechung, die sich noch bis weit über den Mittag hinzog, hielten wir alle es für angebracht mal eine kleine Auszeit zu nehmen. Und welcher Ort wäre dafür geeigneter als unser „Strand-Hallenbad“. Nur Thimo war schon wieder unterwegs. Er wollte Paul zurück bringen, und danach noch ein paar Freien Mutanten treffen.
»Ich bin sowieso dafür, dass wir in Zukunft unsere Sitzungen hier im Pool abhalten. Hier lässt sich das ewige Gequatsche viel besser ertragen«, brummte Tom und ließ die restlichen Wassertropfen in seiner Hand zusammenlaufen.
»Du meinst hier fällt es weniger auf, wenn du einschläfst?«, spottete Robin.
Zu meiner Beruhigung hatten er und Frank sich unserer Runde angeschlossen. Nach der kurzen Auseinandersetzung wegen Paul waren mir schon Befürchtungen gekommen, Frank könnte mit der Entscheidung der Bruderschaft nicht klarkommen. Was aber wäre, wenn jemand Mitglied würde, mit dem er überhaupt nicht klar kommt? Bei Paul waren seine Gefühle ja nicht total ablehnend, da der immerhin nicht zu den extrem Konservativen des Großen Rates gehörte.
»»Wenn ich Frank und Thimo richtig verstanden habe, dann ist dieser Paul aber auch nicht unbedingt das, was man einen sicheren Partner nennen kann. Er lässt sich anscheinend relativ leicht von diesem Mareck umstimmen!««
Sanft kraulte ich Julians Kopf, während er sich an mich lehnte. Sicherlich schien Paul mehr als nur einmal auf die Meinung von diesem Mareck eingeschwenkt zu sein. Insofern gefiel mir der Gedanke auch nicht sonderlich, dass Thimo sich am Donnerstag so sehr auf Paul verlassen wollte.
»»Wir sollten einen „Plan-B“ in Erwägung ziehen. Mal sehen was Frank davon hält.««
Julians Plan-B glich schon fast einer Kampfansage an den Großen Rat. Nicht nur, dass wir Thimo ein wenig aufstocken wollten, zumindest die Larualisation und Conturbation sollte er erhalten. Julians Plan sah außerdem vor, dass Ralf zusammen mit Gloria in unmittelbarer Nähe des Versammlungsortes warten würde, um Thimo gegebenenfalls beizustehen. Wenn beide dicht zusammen blieben waren sie weder zu sehen noch zu orten. – Allerdings, und das war das Problem, nur nach unserem Informationsstand waren sie nicht zu orten. Wir wussten nicht, ob es nicht doch einen Freien Mutanten gab, der sie entdecken konnte.
Fragend sah ich zu Frank, den wir, wie die anderen, nicht von unseren Überlegungen ausgeschlossen hatten. Doch es war Eric, der seine Bedenken äußerte: »»Ich denke, das ist zu riskant. Zu viel steht auf dem Spiel, als das wir so ein Risiko eingehen sollten. Thimo verlässt sich schließlich nicht alleine auf Paul, er hat ja auch noch seine Freunde unter den Freien Mutanten, die an der Sitzung offiziell teilnehmen. Vergiss nicht, was Paul über Ralf gesagt hat – dieser Mareck sieht in Ralf einen Handlanger von Janus.««
Frank schüttelte nachdenklich den Kopf: »»Etwas von dem, was Paul und Thimo heute gesagt haben, geht mir nicht aus dem Kopf. So wie beide erklärt haben, will Mareck Thimo dazu auffordern, sich von der Bruderschaft loszusagen!««
Verwundert zuckte ich mit der Schulter, was Julian ein wenig grummeln ließ. Klar, so etwas in der Art hatten sie berichtet. Aber was war daran so bemerkenswert, außer der Tatsache, dass es meilenweit an der Realität vorbei ging?
Frank runzelte die Stirn: »»Ich fürchte ihr alle habt die Bedeutung von „Freie Mutanten“ vergessen! Freie Mutanten gehören per Definition zu keiner Gruppe, man könnte höchstens sagen, dass sie selbst wieder etwas wie eine Gruppe bilden. Wenn sich ein Freier Mutant einer Gruppe anschließt, dann ist er kein Freier Mutant mehr!««
»»Du meinst Thimo ist nach Marecks Ansicht jetzt schon kein Freier Mutant mehr und dürfte seine Freunde deshalb nicht mitbringen?««, fragte Ralf überrascht.
»»Nein, das Recht an einer Sitzung teilzunehmen, also als Zuhörer, das hat anscheinend jeder Freie Mutant. Da kann Mareck wahrscheinlich nichts manipulieren««, wegen meines zynischen Grinsens schob Frank noch schnell erklärend ein, »»Geheime Sitzungen gibt es bei den Freien Mutanten nicht, also da geht in so fern wirklich nichts.««
»»Aber wo ist dann das Problem?««, brummte Tom.
»»Was mich nachdenklich macht ist, dass Thimo vor dem Rat erscheinen soll, obwohl er kein Freier Mutant mehr ist. Denn schließlich gehört er offiziell zur Bruderschaft!««
»»Du meinst, wenn Thimo dort erscheint, dann sieht es so aus, als würde die Bruderschaft den Großen Rat als übergeordnete Instanz anerkennen?«« fasste Julian zusammen.
Das wäre aber bestimmt nicht in unserem Interesse, schoss es mir durch den Kopf, bevor Frank weiter erläuterte: »»Mareck könnte das Ganze auch als eine Art „Tribunal“ veranstalten, das wäre so etwas wie eine Anklage wegen Verrat an den Freien Mutanten. Ich fürchte, dass genau das der Hintergedanke von Mareck ist. Er ist ein wirklich alter Mann. Aber das Alter hat ihn nicht weiser, sondern nur starrsinniger gemacht.««
»»Dann sollte Thimo dort nicht erscheinen, bis dieser Punkt geklärt ist. Er muss schließlich wissen, auf welcher Grundlage er vor den Großen Rat treten soll««, gab Robin seinen Standpunkt bekannt.
»»Wenn er vor einem Tribunal erscheinen soll, hätte er die Möglichkeit zwei Fürsprecher mitzubringen. Allerdings würde er sich dann auch dem Risiko einer Verurteilung aussetzen.««
Ralf sah mich böse grinsend an: »»Darauf würden ich es ankommen lassen, oder was meinst du? Wir lassen doch unsere Leute nicht im Stich!?««
Eric fuhr herum und starrte Ralf an, der jetzt fast wieder so kalt wirkte wie der Angel, den Eric uns beschrieben hatte: »»Du willst sie provozieren? Gemeinsam mit Mike dort hingehen?««
Entschieden schüttelte ich den Kopf: »»Nein Jungs, das wäre sicher nicht der richtige Weg! Die Versuchung wäre groß, das gebe ich zu. – Aber das Risiko ist mir zu hoch, da die Folgen einfach nicht abzusehen sind. Natürlich ist es zum Teil auch Thimos Entscheidung, wir müssen ihn auf jeden Fall zuerst informieren.
Ich persönlich bin der Meinung, dass er weder zu einem „Tribunal“ kommen sollte noch sich als Mitglied der Bruderschaft vor den Großen Rat zitieren lassen darf. Entweder es wird eine Einladung zu einer Aussprache ausgesprochen oder er sollte nicht erscheinen.««
Julian brummte zustimmend und gab dann auch noch zu bedenken: »»So weit ich weiß, wurde er noch nicht offiziell eingeladen. Es war Paul, der ihn anscheinend vorab informiert hat. Und dann wäre noch die Frage, wie sich das auf Paul selbst auswirkt. Noch weiß zwar niemand vom Großen Rat, dass er zur Bruderschaft gehört, doch wenn sie es erfahren, dann würde er wohl ganz automatisch nicht mehr zu ihnen gehören. – Oder?««
Plötzlich legte Lukas den Kopf schief und grinste: »Oh, ich glaube wir bekommen Besuch!«
Otto-Hahn-Schule
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 16 Uhr 30
Schwer ließ sich Gerald in den bequemen Sitz des Vans sinken und beobachtete Benny, der neben ihm auf dem Fahrersitz saß und nun den Autopiloten aktivierte. Nur zu gut konnte sich Gerald vorstellen, wie gerne Benny selbst gefahren wäre, aber anscheinend fehlte ihm noch die entsprechende Lizenz. Sanft fuhr der Wagen an und auch Benny lehnte sich nun entspannt zurück.
Schon halb im Land der Träume wurde Gerald abrupt von Benny zurück in die Realität geholte: »Was wollte Janus eigentlich von dir?«
Gerald überlegte ein paar Sekunden bevor er murmelte: »Ich sollte mich ihm anschließen, so wurde es mir wenigstens mitgeteilt.«
»Dann hat Angel dich besucht?«, Benny platzte fast vor Neugier. Er hatte schon viel darüber gehört, höchst unterschiedliches wohlgemerkt, wie so ein Gespräch verlief. Hier bot sich die Gelegenheit aus erster Hand mehr zu erfahren.
»Du kennst Angel? Hat er dich etwa auch anwerben sollen?«
Benny prustete hinaus: »Ich für Janus angeworben? He, der sieht in mir doch höchstens einen Energy-Shake!«
»Einen WAS?«
Etwas unsicher geworden murmelte Benny: »Na ja, Janus saugt schwächeren Mutanten die PSI-Energie ab, wenn er sie tötet.«
»Wer erzählt den so ein Blödsinn, wie sollte so was den überhaupt gehen? Energieabsaugen? – Also wirklich!«, Gerald konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, die Vorstellung alleine fand er schon absolut lächerlich.
Als er dann jedoch den ernsten Blick von Benny sah, wunderte er sich schon ein wenig: »Wer erzählt denn so etwas?«
Benny überlegte was er sagen durfte und entschloss sich für den Mittelweg: »Wir haben Kontakt mit ein paar Leuten, die längere Zeit mit Janus zusammen waren, Zack, sein Bruder Tommy, dessen Freundin Gloria und eben auch Angel.«
Bestürzt sah Gerald ihn an. Er kannte Angel schließlich von Weihnachten. Auch wenn sie nur drei Tage zusammen gewesen waren, war er sich dennoch sehr sicher, dass Angel keinen Unsinn erzählen würde. »Und Angel hat das bestätigt?«
Benny nickte heftig: »Er hat es nicht nur bestätigt, er konnte es auch sehr genau beschreiben. Janus foltert seine Gefangenen, und erst zum Schluss, wenn sie sterben, saugt er ihre Energie ab.«
Fassungslos sah Gerald zu Benny: »Aber wie? Wie soll das gehen? PSI-Energie ist doch nichts physikalisches wie Blut oder Wasser, das man dem Körper einfach entziehen kann.«
»Hast du die Energiewelle gestern nicht gespürt?«,
»Welche Energiewelle?«
»Hm, also Sammy, das ist ein Parapsychologe und Physiker von NeckTech, der hat uns mal erklärt, dass jeder Mutant PSI-Energie an sich bindet. Je mehr Energie du hast, desto stärker bist du. Wenn du stirbst, dann wird diese Energie frei. Er vergleicht das immer mit einem Stausee, das Wasser ist die Energie und du bist die Staumauer. Als King Roy starb, da ging zum Beispiel eine solche Energie-Welle von ihm aus und jeder Mutant im Umkreis hat das dann gespürt.«
»Jeder Telepath im Umkreis!«, zischte Gerald etwas angesäuert, »Es soll sogar Mutanten geben, die keine Telepathen sind! Auch wenn das einige Telepathen oft vergessen. Was King Roy betrifft, so habe ich das von David erfahren.«
Betroffen sah Benny seinen Mitfahrer an, offensichtlich war Geralds Vorurteil gegenüber Telepathen größer als befürchtet. Dann aber lenkte Benny ein: »Also gut, jeder Telepath im Umkreis spürte die Welle. Jedenfalls gab es gestern auch so eine Welle, die entstand allerdings, weil die Bruderschaft wiedererstanden ist.«
Geralds Kopf ruckte herum: »Die Bruderschaft existiert wieder? Angel erwähnte, diese „Iratus Lemurum“ hätten etwas derartiges vor.«
»Jep, und gestern ist es passiert, tolle Sache – oder?«, Benny wollte jetzt unbedingt erfahren wie Gerald zur Bruderschaft stehen würde.
»Aber wer? Aus wem besteht die „neue Bruderschaft“ jetzt?«
»Natürlich aus den Iratus Lemurum und noch ein paar anderen Mutanten«, Benny wusste, dass er damit an die Grenze dessen ging, was er erzählen durfte. Mike wäre sicherlich nicht erfreut, wenn er noch mehr verraten würde. Noch sollte niemand erfahren, wie eng die Beziehung zwischen NeckTech und der Bruderschaft wirklich war.
Offiziell war Camelot nach wie vor das Hauptquartier der Bruderschaft und Campus Occursus eine Forschungseinrichtung von NeckTech. Angeblich machte hier NeckTech neben den Biomechs auch Studien zum Lernverhalten und rekrutierte die „Forschungsobjekte“ aus dem Sektor. Dies jedenfalls war die offizielle Erklärung, weswegen sich so viele Leute aus dem Sektor dort aufhielten.
Gerald ließ sich sehr nachdenklich zurück in den Sitz sinken, schließlich beinhalteten die, von Benny so beiläufig herausgeplauderten, Informationen schon sehr gravierende Veränderungen. Von David war nie etwas derartiges erwähnt worden, und der war doch sonst immer bestens informiert. Gerade, als er mehr darüber erfahren wollte, woher Benny das alles wusste, und was er damit zu tun hatte, verlangsamte der Wagen seine Fahrt und bog von der regulären Straße ab.
Langsam rollte der Van in eine weiträumige Einfahrt, die von einem großen befestigten Tor, welches in eine acht Meter hohe Mauer eingelassen war und ein wenig an ein Burgtor erinnerte, dominiert wurde. Rechts und links davon befanden sich je ein achteckiger Turm, somit wurde die Assoziation zu einem Burgtor noch verstärkt. Vor allem, da diese Türme offensichtlich mit verschiedenartigen Abwehrsystemen bestückt waren und nur zur Hälfte aus der Mauer hervor ragten. Eine ganze Phalanx unterschiedlichster Sensorsysteme befand sich über dem Tor und an den Türmen. In einigem Abstand konnte Gerald dann auch weitere dieser, mindestens 20 Meter hohen, achteckigen Türme ausmachen, die aus dem umstehenden Wald herausragten.
Gerald schloss daraus, dass das ganze Gelände von dieser beeindruckenden Mauer umschlossen war. Jenseits des Tores und etwas abgesetzt, konnte Gerald einen größeren Bunker ausmachen. Anscheinend beherbergte dieser die Wachmannschaft.
Summend flog eine wie ein großer metallischer Käfer aussehende Aufklärungsdrohne näher und kontrollierte den Innenraum ihres Wagens. Langsam schwebte sie dann zur Fahrerseite und erfasste die biometrischen Daten von Benny, um sie mit den gespeicherten abzugleichen.
Der Test schien zu ihren Gunsten ausgefallen zu sein, denn ohne weitere Verzögerung setzte sich gleich darauf der Wagen wieder in Bewegung und passierte das zur Seite gewichene Tor. Nur beiläufig registrierte Gerald, dass Benny nun auf manuelle Steuerung schaltete, als er den Wagen neben dem Bunker stoppte. »Ich muss noch schnell zum Wachbunker und einen Besucherausweis für dich holen, dauert nur ein paar Minuten«, murmelte Benny undeutlich und hastete zu einer Nische nahe dem Eingang.
Mit Interesse stellte Gerald fest, dass sich dort ein Terminal befand, aus dessen Ausgabefach Benny jetzt eine grüne Kunststoffscheibe von drei Zentimeter Durchmesser entnahm. Wieder im Wagen gab er diese ID-Plakette, die Geralds Bild zierte, diesem in die Hand. Offensichtlich hat die Aufklärungsdrohne mehr als nur Bennys biometrische Daten erfasst, stellte Gerald nüchtern fest und befestigte nachdenklich die Plakette wie einen Button an seiner Jacke.
Mit hochgezogenen Brauen murmelte Gerald: »Ziemlich viel Aufwand für eine einfache Forschungseinrichtung, oder?«
»Na ja, es ist schon ein wenig mehr als nur ein Labor«, grinste Benny, der nebenbei damit beschäftigt war, Louis über seinen „Fang“ zu informieren.
»Oh und ein paar Hoods sind ja auch da«, stellte Gerald ironisch fest, als er ein paar der Normalo-Hoods in ihren neuen grauschwarzen Uniformen erkannte. Langsam interessierte es ihn wirklich, was hier gespielt wurde. Nichts von dem, was Benny anfangs erzählte, ließ darauf schließen, dass hier noch mehr Mutanten herumliefen. So wie Gerald ihn vor der Einladung verstand, wohnten er und Takashi auf dem Gelände. Warum war ihm jetzt noch immer nicht klar und nun gab es hier sogar einige Hoods.
»Oh, du kennst die Hoods?«, fragte Benny erstaunt und winkte fröhlich zu der Patrouille, die gerade zurück in den Bunker ging.
»An Weihnachten bin ich ein paar von ihnen begegnet, die gerade von ein paar Catchern angegriffen wurden. Wegen der Uniformen dachte ich zuerst, es wäre eine der Bürgerwehren. Bei der Gelegenheit traf ich dann auch Angel«, murmelte Gerald etwas abwesend und versuchte noch immer zu verstehen, wie das alles zusammen passen konnte.
Langsam bog der Wagen um eine Kurve, und als nun die umstehenden Bäume zurückwichen, sah man das Hauptgebäude von Campus Occursus in seiner vollen Größe. Der strahlend weiße Bau mit der golden schimmernden Zentralkuppel sah schon sehr beeindruckend aus. Die Seitentrakte mit den roten Dächern, die in allen vier Himmelsrichtungen aus dem runden Zentralbau ragten, waren auch nicht gerade klein. Dahinter konnte man das fünfstöckige, bogenförmige Gebäude des Wohntraktes mit der blauen Kuppel des Schwimmbades erkennen.
Sichtlich beeindruckt murmelte Gerald: »Ja, in der Tat. – Wirklich ein wenig mehr als nur ein Labor.«
Benny strahlte als wäre das alles sein Besitz und ließ den Wagen langsam auf das Hauptportal zurollen. Kaum war der Wagen richtig zum Stehen gekommen, als er Gerald auch schon die Stufen des Hauptportals hinaufscheuchte. Wenige Augenblicke später standen sie in der großen Halle, in der die Weihnachtsfeier veranstaltet worden war.
Von rechts näherte sich ihnen eine Person, und als Gerald sie erkannte stieg seine Verwirrung noch mehr. Stürmisch begrüßte Louis seinen „Kleinen“, und Gerald musste darüber schmunzeln, wie sehr Louis seine „Besitzansprüche“ auf Benny deutlich machte.
»Du warst doch einer aus der King Roy Truppe oder?«
Benny noch immer im Arm haltend lächelte Louis freundlich, musterte dabei Gerald dennoch sehr eingehend: »Ja, ich wurde zusammen mit einigen anderen von den Iratus Lemurum befreit. Ein junger Hypno, der ganz unter King Roys Einfluss stand, hatte uns einen „Block“ verpasst, der uns zum Gehorsam zwang.«
Bei Erwähnung des Hypno huschte ein Schatten über Geralds Gesicht, auch die Hypnosuggestion war eine der Fähigkeiten, die er nicht leiden konnte. Dann verdrängte er die aufkommende Erinnerung wieder und murmelte: »An Weihnachten haben wir uns auch noch kurz gesehen – oder?«
Der Schalk blitzte in Louis Augen auf: »Das lag ja nur an dir, du hast dich so schnell zurückgezogen, dass wir keine Gelegenheit zum Kennenlernen bekamen.«
Gerald legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die gewaltige Decke die sich in 25 Meter Höhe über ihm wölbte und murmelte nachdenklich: »Ich war über ein Jahr nicht mehr im Sektor und die neuen Gepflogenheiten haben mich doch etwas überrascht. Da hielt ich es für sinnvoll, mir erst entsprechende Informationen zu besorgen.«
»Ja, es hat sich in den letzten Monaten wirklich einiges getan. Benny erwähnte, du suchst eine neue Unterkunft?«
Wieder gelang es Gerald nur mit Mühe seinen Unmut über Telepathen zurück zu halten. Immer taten die so überheblich, allwissend und überhaupt … Warum konnten die sich nicht wie zivilisierte Menschen verständigen? Immer diese Heimlichkeiten – wie er das hasste.
Louis hielt Geralds Schweigen für Zurückhaltung, denn von Benny wusste er, dass Gerald auf Sondierungen allergisch reagierte und unterließ es deshalb. »Mike und die anderen Jungs sind noch in einer Sitzung …«
Benny kicherte, als er von Louis „erschnüffelte“ wo die Sitzung stattfand.
»… wir können dir ja in der Zwischenzeit ein wenig die Anlage zeigen. Takashi hält übrigens gerade im Keller Unterricht …«
Schon wieder! Grummelte Gerald im Stillen, als er bemerkte, dass Louis und Benny Informationen austauschten. Warum immer diese Heimlichkeit? Aber der Gedanke Takashi zu treffen ließ ihn darüber hinwegsehen. Und so folgte er den beiden in den Keller.
Schon von außen war das Campus-Gebäude beeindruckend, doch die wirklichen Dimensionen konnte Gerald erst jetzt so richtig erahnen. Der Besuch bei Takashi war zunächst sehr erstaunlich gewesen. Acht Schüler standen im Raum und lauschten aufmerksam den Erläuterungen des Meisters. Die Präzision der anschließenden Demonstration war sehr beeindruckend, doch die Wirkung der Schläge und Tritte war über alle Maßen bemerkenswert. Leider hatte Takashi nur wenig Zeit, wie er in seiner zurückhaltenden Art mitteilte. Dennoch war die Freude auf beiden Seiten groß gewesen und Takashi bestand darauf, dass Gerald so bald als möglich zeigen musste, dass er nicht alles verlernt hatte.
Nach einigen weiteren Stationen gelangten sie in die große Halle, die durch die Kuppel des Zentralbaus gebildet wurde. Erst hier begann Gerald die Dimension dessen zu erahnen, was hier gemacht wurde. Natürlich war es ihm auf dem Rundgang nicht entgangen, dass sich auf dem Campus einige Mutanten herumtrieben. Aber da er die soziale Einstellung der Neckler-Stiftung kannte und selbst auch schon erleben konnte, dass die sich nicht an Mutanten störte, maß er dem keine so große Bedeutung zu.
Das Training jedoch, das er hier unter der Kuppel zu sehen bekam, hatte ganz offensichtlich nichts mehr mit „Normalos“ zu tun. Während drei Jungs sich mit dem Fliegen mittels Levitation beschäftigten, trainierten eine Station weiter einige Telekineten mit Stahlkugeln. Auch zwei Elektrokineten übten, und das faszinierte ihn als Elektrokinet besonders, mit seltsamen blauen Energieentladungen, die anscheinend aus ihren Handschuhen kamen.
»Ihr trainiert hier Mutanten?«, der Gedanke erschien Gerald derart ungewöhnlich, dass er sich kaum traute das Offensichtliche auszusprechen. Dies war doch eine Einrichtung von NeckTech, wie konnten die dann Mutanten trainieren und vor allem wieso? Warum schritten die Freien Mutanten nicht ein, dies alles muss für sie doch völlig inakzeptabel sein? Innerhalb weniger Augenblicke überschlugen sich regelrecht die Gedanken, die durch Geralds Kopf schossen.
Stumm, nur mit einem hintergründigen Lächeln sahen Benny und Louis zu, wie Gerald fassungslos versuchte, das offensichtliche zu begreifen. Dass er die ForceFight-Übungen von Takashis Schüler einfach als beeindruckend abtat, war von Benny noch schnell erschnüffelt und an Louis weitergeleitet worden. Aber erst durch Geralds grenzenloses Erstaunen wurde Louis klar, wie enorm das bisher Erreichte war. Soweit er wusste gab es noch nie eine Gruppe von Mutanten, die gezielt Aufbautraining betrieb. Er selbst war auch immer stolz auf seinen „Mutant erster Klasse“ Status gewesen. Schwache Mutanten galten einfach als Belastung; und nun war hier alles anders.
Während sie langsam zu den Elektrokineten schlenderten, erläuterte Louis: »Bei der Bruderschaft sollen keine Mutanten abgelehnt werden, nur weil sie schwach sind. Jeder Mutant kann durch Training seine Fähigkeiten verbessern, das haben uns Mike und die Jungs gezeigt. Aber es geht auf dem Campus nicht nur darum, Mutanten auszubilden, hier sind auch sehr viele Normalos.«
Mit heiserer Stimme murmelte Gerald: »Und was sagt der Große Rat dazu?«
Louis winkte ab: »Es interessiert uns nicht mehr sonderlich, wir sind jetzt die Bruderschaft und lassen uns von denen nicht bevormunden. Die Zeiten haben sich geändert und früher, aber wahrscheinlich eher später, wird dies auch der Große Rat begreifen.«
»Dann stimmt es, was an der Schule erzählt wurde? Den Morlock-Überfall gab es wirklich? Die „Iratus Lemurum“ und Hoods haben tatsächlich offen zusammen mit Normalos gekämpft?«
Benny nickte grinsend, während Louis ergänzte: »Es waren keine echten Morlocks, aber ansonsten stimmt es. Die Drachen haben uns um Hilfe gebeten, und als wir kamen war da eine ganze Horde von künstlichen Morlocks. Danach ist die Bruderschaft wiedererstanden.«
Louis und Benny benötigten einige Minuten um Gerald das volle Ausmaß dessen zu erläutern, was da auf sie zu kommen konnte. Es ging dabei nicht nur um die Morlocks sondern auch um die Auswirkung des Überfalls auf alle Mutanten.
»Ihr redet die ganze Zeit von der Bruderschaft, aber dies hier ist doch eine NeckTech Einrichtung. Wo ist da der Zusammenhang?«
Benny und Louis sahen sich an, und wieder war es Louis, der das Antworten übernahm: »Ich denke, das solltest du mit Mike und den Jungs besprechen. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass wir nicht für jeden so eine Führung veranstalten?«
Gerald nickte, die Frage nach diesem „Warum“ hatte er sich auch schon gestellt, aber immerhin hegte er da eine gewisse Ahnung.
Louis grinste: »Auch wenn es dir nicht gefällt, als Benny mir mitteilte, wen er da anschleppt, habe ich mich mit den Jungs besprochen und wir denken, es wäre eine gute Idee, dir ein wenig von der Anlage hier zu zeigen, – bevor wir dir einen Vorschlag machen.«
»Einen Vorschlag, den man auch ablehnen kann?«, fragte Gerald grinsend.
»He, wir sind die Bruderschaft und nicht die „ehrenwerte Gesellschaft“ – wir zwingen niemand. Es ist wirklich nur ein Vorschlag«, empörte sich Louis ein wenig, musste dabei aber auch grinsen.
Gemeinsam verließen sie den Kuppelraum und machten sich auf den Weg zum Schwimmbad. Natürlich nicht, ohne dass Gerald sich schon wieder über die Telepathen-Bande ärgerte, die hinter seinem Rücken über ihn diskutierte.
@Mike
Schwimmbad - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 17 Uhr
Natürlich sollte Lukas Recht behalten, denn nur wenige Sekunden nach seiner Ankündigung erschienen Nico, Zack und Kim wenige Meter von uns entfernt.
»Oh Gott, die Wasserkatze mit Anhang! Jetzt ist es vorbei mit der beschaulichen Ruhe«, stöhnte Tom auf.
»Wer oder was ist eine Wasserkatze?«, staunte Robin, der nicht allzu oft hier im Schwimmbad war.
Mit einem fiesen Grinsen deutete Tom auf Zack: »Es kann nur einen geben!«
Wir alle mussten lachen, den Lukas war ein erklärter Fan von Zack, weshalb es Tom offensichtlich besonders viel Spaß machte Zack ein wenig zu necken. Angeblich musste er sich ständig anhören, was für einen prächtigen Schweif Zack doch hatte und überhaupt fand fast alles, was Zack tat, bei Lukas uneingeschränkten Zuspruch. Lukas war einfach in Katzen an sich und in Zack im Besonderen vernarrt.
Dementsprechend verteidigte Lukas auch augenblicklich „den kleinen Zack“, als ob Tom ihm wirklich etwas Böses wollte: »Du bist wiedereinmal unglaublich fies! Zack kennt eben keine Schwimmbäder, so was gibt es im Untergrund von Sektor 20 nicht. Außerdem gönn ihm doch auch einmal ein wenig Spaß.«
Tom rollte in gespielter Verzweiflung nur noch die Augen nach oben und verzog das Gesicht zu dem üblichen „Habe ich es euch nicht gesagt“ Ausdruck.
Anfangs war ich wirklich mal besorgt gewesen, doch inzwischen wusste ich, dass die beiden sich nur gegenseitig auf den Arm nahmen. Natürlich war Lukas tatsächlich in Zack vernarrt, aber er sah in ihm eher den kleinen Bruder. Auch Zack gefiel es offensichtlich, in Lukas einen derart wohlwollenden Fürsprecher und Trainingspartner gefunden zu haben und ignorierte Toms spöttische Bemerkungen regelmäßig. Besonders wenn Lukas mit ihm und Tommy den Kampf mit direktem Körpereinsatz übten lebte Zack unglaublich auf, da konnte Tom so viel sticheln wie er wollte. Denn die meisten Mutanten vermieden derartige körperliche Auseinandersetzungen, dies galt als viel zu „Gewöhnlich“. Ein wahrer Mutant „prügelt“ sich nicht wie ein gewöhnlicher Normalo. So etwas widersprach einfach dem Standesdünkel. Um so mehr liebte es Zack mit Tommy gegen Lukas im ForceFight zu kämpfen.
Inzwischen häuften sich in schöner Regelmäßigkeit Lukas’ Bemerkungen, wie schön es doch wäre, wenn auch Tommy Telekinet werden würde. Bisher gelang es Julian und mir, diese Bemerkungen schlicht zu überhören. Doch wenn wir wirklich noch vor Donnerstag Thimo aufstocken wollten, würden wir um Tommy wohl nicht herum kommen.
»»Nicht ohne mich wirklich zu verärgern!««, meldete sich Lukas wiedereinmal ungefragt in meine Überlegungen.
»»Selbst schuld, du denkst wiedereinmal zu offen««, kommentierte nun auch noch Tom.
Schicksalsergeben sah ich auf Julian herunter, der sich an mich gekuschelt hatte: »»Was soll ich sagen, die Jungs haben Recht! Allerdings denkst du nur für uns vier offen, alle anderen hast du im Moment ausgesperrt.««
Behutsam wischte ich ihm ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht: »»Dann ist es ja OK, ihr seid doch sowieso immer „eingeladen“.««
Mit einem furchtbaren Gegröle sprang der nackte Zack an uns vorbei ins Wasser und ich muss zugeben, der Kerl sah wirklich klasse aus.
»»Zugegeben, aber er macht Lärm für fünf!««, grummelte Tom schon wieder.
Als Kim und Nico genauso lautstark Zack verfolgten, musste ich mir ein Lachen wirklich verkneifen. Nicht zum ersten Mal assoziierte ich Tom mit einem Bär. Meist etwas träge, oft sehr brummig und vor allem mochte er es nicht, wenn es laut oder hektisch wurde.
»»Dann ist er aber ein Waschbär!««, kicherte Lukas, »»Denn er mag das Wasser auch.««
»Was ist den nun mit Bennys ominösem Begleiter?«, murmelte Eric und streckte sich träge im Whirlpool.
»Louis hat gesagt, es würde eine Überraschung, es wäre ein alter Bekannter. Lassen wir uns also überraschen«, murmelte Lukas und sah den herumtobenden drei zu.
»Was die Sache mit Thimo betrifft …«, Tom sah jetzt Frank ziemlich ernst an, »was halten die Anwesenden von der Idee?«
»Welche der vielen im Umlauf befindlichen Ideen meinst du denn genau?«, gab sich Frank unwissend.
Julian richtete sich auf und sah jetzt auch zum großen Pool, wo Zack erste Tauchversuche unternahm, dabei aber vorwiegend sein Hinterteil exponierte, was von Kim und Nico feixend kommentiert wurde.
»Es geht um die Idee, Thimo zumindest die Larualisation beizubringen, es wäre wahrscheinlich sinnvoll, wenn er vor dem Großen Rat erscheint.«
»Es wäre aber auch eine große Provokation, oder?«, gab Robin zu bedenken.
»Schon!«, gab ich zu und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, »Aber ist das, was sie machen, nicht auch eine Provokation? Ich persönlich verbinde damit drei Ziele: Erstens geht es um zusätzliche Sicherheit für Thimo. Wie nützlich es als Teleporter ist, notfalls in Phase zu gehen, muss ich wohl keinem erklären. Zweitens könnten wir damit unterstreichen, wie ernst wir es meinen. Drittens wäre es auch ein Zeichen für die restlichen Freien Mutanten. Denen sollte dann wirklich klar sein, wie weit wir gehen können und wie sehr wir Thimo vertrauen.« Etwas herausfordernd fuhr ich an Frank gewand fort: »Wir alle vertrauen Thimo doch, oder?«
Der wurde sogleich rot, schüttelte dann etwas ärgerlich den Kopf: »Ich gebe zu, mich hat das heute Morgen sehr geärgert! Da gibt es wirklich nichts abzustreiten. Aber ich kenne Thimo nun auch schon einige Zeit und vertraue ihm. Vieles von dem, was du oder Julian schon gemacht habt, fand auch nicht ausnahmslos meine Zustimmung. – Um es mal sehr zurückhaltend zu formulieren!« Jetzt grinste er mich wirklich richtig unverschämt an, kam dann aber zum Schluss: »Dennoch vertraue ich euch und würde, wenn es eilig wäre, bedenkenlos das tun, was ihr wollt. – Aber, auch wenn ich jetzt Toms Geduld sehr strapaziere, im Moment haben wir Zeit und darum sollten wir darüber reden.«
Trotz Toms demonstrativem Aufstöhnen taten wir es dann auch. Wir diskutierten alles, was dafür oder dagegen sprach und überhaupt … Letztlich kamen wir zu dem Schluss, dass wir es Thimo anbieten sollten und er sich entscheiden musste, ob er es für sinnvoll hielt oder nicht.
An diesem Punkt angelangt, drehte Lukas den Kopf und rief: »Oh, den kennen wir aber auch schon.«
Ich sah in die von Lukas vorgegebene Richtung und erkannte neben Benny und Louis den Mutanten, der zusammen mit Ralf unserer Patrouille an Weihnachten zur Hilfe gekommen war.
Dann hörte ich Ralf rufen: »Hallo Gerald, jetzt hast du also doch noch hierher gefunden!«
Schwimmbad - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 kurz nach 17 Uhr
Überrascht sah Gerald in die Richtung, aus der Angels Stimme gekommen war. In einem Whirlpool neben dem Zentralpool saß eine Gruppe nackter Jungs, unter denen er Angel sofort erkannte. Ein kleiner Stich durchfuhr seine Brust, als er sah, das ein anderer sich an Angel anschmiegte und von ihm umarmt wurde.
Zwar sprach Angel über die Weihnachtstage davon, dass es da jemand in seinem Leben geben könnte, doch war sich Angel damals noch nicht so sicher gewesen. Instinktiv spürte Gerald, dass dies nun anders war. Also doch „nur Freundschaft“, wie sie es damals vereinbart hatten?
Fast augenblicklich rief er sich selbst zur Ordnung, und während er weiter auf den Pool zuschritt, studierte er die anderen Anwesenden. Da waren zunächst Mike und Lukas, die er nun aufgrund von Davids Beschreibung wiedererkannte. Beide kannte er von dem Catcher-Zwischenfall, nur damals wusste er noch nicht, wer sie waren.
Als nächstes waren da noch Robin, der Chef der Hoods, dem er bisher auch nur ein oder zwei mal begegnet war. Nicht sonderlich erstaunt war er, auch Frank unter den Jungs zu erkennen. Mit dem Freelancer hatte er sogar schon ab und zu gesprochen, man kannte sich eben, und anscheinend stimmten auch Davids Informationen, dass Frank wieder gehen konnte. Die anderen beiden im Pool schienen die jeweiligen Partner von Mike und Lukas zu sein, obwohl David in diesem Zusammenhang von sehr wilden Gerüchten zu berichten wusste.
Langsam schweifte sein Blick zu dem großen Pool, wo drei weitere Jungs herumtollten und einer davon sah sehr außergewöhnlich aus. Gerald sah noch einmal hin bevor er zu Louis sagte: »Der Kerl hat einen Schwanz!?«
»Klar, hast du keinen?«, kicherte Louis zurück und amüsierte sich köstlich über Geralds Erstaunen.
»Schon, aber nicht hintenraus.«
»Och, vorne hat er auch einen, keine Sorge.« lachte Louis fröhlich. »Das ist Zack, er kam mit Angel, Gloria und seinem Bruder Tommy. Sie mussten mit …«
»… Janus zusammenarbeiten, Benny hat es erwähnt. Aber ich meine ist er ein, ein …«, Gerald wollte jetzt nichts Falsches sagen. Ihm war klar, dass Zack kein stumpfsinniger Morlock war, aber doch wohl auch keiner der Mutanten, den der Große Rat akzeptieren würde.
»Seine Eltern waren beide Mutanten, darum würden ihn einige als „negativen Mutanten“ bezeichnen. – Aber er ist auch ein Biomet, er kann also wie ein normaler Mensch herumlaufen, was du jetzt siehst ist nur seine Vorzugsform. – Du weißt was das bedeutet?«, Louis hatte nun ruhig und sachlich gesprochen. Wenn Gerald mit Zack Probleme hätte, wäre er bestimmt nicht sehr willkommen.
»Ich kannte mal einen Biomet, er bevorzugte allerdings den Begriff Gestaltswandler. Der meinte, die Vorzugsform wäre das Bild, das ihm bei der Geburt eingeprägt wurde. Es soll Biomets geben, die fast hundertprozentig wie ein Hund aussehen, weil die Mutter während der Geburt so ein Bild vor Augen hatte. Ich hielt das aber nur für ein Gerücht und ziemlichen Unfug.«
Beruhigt atmete Louis auf, er mochte Gerald und wäre enttäuscht gewesen, wenn er anders reagiert hätte: »Wenn du Zack kennen lernst, wirst du ihn mögen, jeder hier mag ihn, auch wenn er ein absoluter Chaot ist.«
Nachdenklich nickte Gerald, schließlich hatte er heute mitbekommen wie Manuel zu Benny sagte, dass Zack jederzeit willkommen wäre. Wenn Zack also auch bei den Drachen Sympathisanten fand, dann sollte er bestimmt keine Probleme mit ihm haben. Allerdings kannte Gerald zu diesem Zeitpunkt Zacks direkte Art noch nicht.
Inzwischen waren sie bei dem Whirlpool angekommen, um den die Kleidung der Jungs auf einzelnen Haufen verteilt herumlagen. Einladend wies Louis auf den Pool und begann wie auch Benny sich auszuziehen. Kurz entschlossen folgte Gerald ihrem Beispiel und gesellte sich danach zu den anderen in den Pool.
@Mike
Schwimmbad - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 kurz nach 17 Uhr
Überrascht sah ich zu Ralf: »Du kennst ihn?«
Während Ralf nickte, antwortete Eric für ihn: »Das war der letzte Mutant, den Ralf für Janus anwerben sollte. Der, der sich dann zu David abgesetzt hat, wir hatten darüber gesprochen als es um Zack ging«. Fast ein wenig eifersüchtig fügte er noch hinzu: »Die beide waren auch über Weihnachten zusammen.«
Doch Ralf grinste nur und sah Eric spöttisch an: »Du warst in der Zeit ja mit Julian, Mike, Lukas, Tom und wer weiß ich noch alles beschäftigt.«
Etwas rot werdend grummelte Eric: »Da war nur noch Kim.«
So verschmitzt wie Ralf grinste, hatte er das natürlich auch gewusst. Besorgt sah ich jetzt zu Gerald, so, wie der zu den beiden sah, war er nicht ganz so erfreut über Ralf und Erics Glück. Hoffentlich gab das keine Probleme, Eifersüchteleien waren das Letzte, was wir gebrauchen konnten.
Inzwischen informierte uns Benny über das wesentliche, was er über Gerald wusste und auch Ralf fügte einige Ergänzungen hinzu. Demnach war Gerald ein Elektrokinet und Parasprinter. Dies war eine Fähigkeit, von der wir bisher noch nie etwas gehört hatten. Nach Ralfs Kenntnisstand galt Gerald auch als „der Einzige seiner Art“, gerade deshalb schien Janus besonders an ihm interessiert gewesen zu sein. Ralf erklärte die Fähigkeit zusammenfassend so, dass es ähnlich wie das Parasurfen wäre, nur dass Gerald keine Leitungen benötigte.
Benny riss mich aus meinen Gedanken, als er berichtete, dass Gerald früher ein Schüler von Takashi war. Seit seinem 10 Lebensjahr war er regelmäßig bei Takashi gewesen, um sich in diversen Kampfsportarten unterrichten zu lassen. Vor einem Jahr war er nach London gegangen, musste aber aufgrund einer Auseinandersetzung die dortige Schule verlassen. Inzwischen ging er auf unsere geliebte Otto-Hahn-Schule und erfreute sich an den neuesten Gemeinheiten von Direktor Schmitt.
»»Der sieht aber auch ganz schön lecker aus««, grinste Julian und riss mich aus den Gedanken.
»»Direktor Schmitt?««
»»Idiot! – Gerald natürlich.««
»»Ach so. Jep der sieht wirklich lecker aus««, stimmte ich meiner besseren Hälfte zu.
»»Aber er mag eigentlich keine One-Night Sachen. Da muss es ihm schon sehr mies gehen««, fühlte sich Ralf sogleich genötigt zu warnen. Warum grinste er mich dabei so an?
»»Hm, ich will ja nichts sagen, – außer vielleicht: Louis?««, grinste Tom geradezu boshaft.
»»Mann Tom! War heute morgen die Milch schlecht, oder warum bist du so sauer?««, grummelte ich ein wenig beleidigt. Na ja, das mit Louis war schon schön gewesen, aber das heißt doch nicht, dass ich mich gleich an jeden heranmache.
Ralfs nächste Frage an Gerald nahm dann meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch: »Und wie geht es David? Hat er sich nach dem Theater gestern Nacht wieder beruhigt?«
Gerald machte einen nicht sonderlich glücklichen Gesichtsausdruck: »Keine Ahnung, ich bin vor zwei Tagen abgehauen.«
»Du weißt aber, dass Janus noch immer hinter dir her ist?«
»Denke ich nicht. Nach deiner letzten Aktion hat er sich nur noch tiefer in den Untergrund zurückgezogen. – Er glaubt, du suchst ihn«, murmelte Gerald den Kopf schüttelnd.
Ralf verzog nur die Augenbraue: »Wir hatten hier Wichtigeres zu tun, aber was war mit David?«
»Er ist ein Telepath! – Ein typischer neugieriger Telepath, der zudem nicht nur seine telepathischen Tentakeln nicht bei sich behalten kann. – Falls du verstehst was ich meine.«
Ups, da war einer aber überhaupt nicht gut auf Telepathen zu sprechen. Und dieser David wurde handgreiflich?
»»Wohl eher zudringlich, je nachdem gibt sich David mit einem „Nein“ nicht zufrieden. Er probiert es immer wieder, wenn sich die „Beute“ lohnt««, informierte uns Frank. »»So wie ich David kenne, fällt Gerald absolut in sein Beuteraster.««
»Und wo wohnst du jetzt?«, versuchte sich Lukas in die Unterhaltung einzubringen.
»Etwas außerhalb, ist zwar sehr spartanisch aber man hat seine Ruhe«, antwortete Gerald sehr ausweichend.
Julian sah ihn offen an und versuchte es mit etwas Humor: »Wie du dir denken kannst, ist es für uns im Moment auch nicht gerade einfach. Wir hier sind alles Telepathen und sind es gewohnt auch telepathisch zu kommunizieren, dass du damit Probleme hast ist uns natürlich nicht entgangen.«
»In der Tat, das ist auch mir nicht entgangen«, nickte Gerald jedoch ernsthaft. »So lange ich nicht sondiert werde, kann ich es ertragen.«
Da wurde mir klar, dass es wirklich ein Problem geben könnte. Aus welchen Gründen auch immer, er schien die Telepathie absolut abzulehnen. An sich machte er einen wirklich sympathischen Eindruck. Auch die von uns, die ihn kannten, schätzten ihn sehr. Nur eben das Problem mit der Telepathie schien für ihn ein wirkliches Hindernis zu sein.
Nachdenklich musterte ich ihn: »Wie dir Louis inzwischen erklärt hat, ist die Bruderschaft wieder aktiv. Wir suchen immer neue Mitglieder und von Benny haben wir erfahren, dass du vielleicht Interesse hättest.«
Gerade als Gerald antworten wollte erschien Thimo neben dem Pool. Grinsend setzte er sich an den Rand und sah zu Gerald: »Wird das jetzt eine Sammelbewegung für einsame Freelancer?«
Doch der verstand das wohl etwas anders: »Ich denke nicht, dass die Freien Mutanten hier ein Mitspracherecht haben, oder sollte ich Louis da falsch verstanden haben?« Offensichtlich glaubte er, Thimo sei im Auftrag des Großen Rates hier, um ihn vor einem Beitritt zu warnen oder abzuhalten.
Lachend schüttelte Thimo den Kopf und holte seinen Cadoc-Anhänger unter dem T-Shirt hervor: »Kleines Missverständnis Gerald, ich gehöre zu dem Verein!«
»Aber du, aber …«, offensichtlich passte das nicht so ganz in Geralds Vorstellungswelt.
»Ja, ich war Freier Mutant und Abgesandter des Großen Rates, aber jetzt gehöre ich zur Bruderschaft. Ich werde dich also bestimmt nicht mehr ermahnen, in Zukunft mit deinen Kräfte zurückhaltender in Gegenwart von Normalos zu sein.«
Noch immer irritiert pendelte Geralds Blick abwechselnd zwischen uns und Thimo bis Ralf erklärte: »Wie Thimo gesagt hat, er gehört zu uns und hat bestimmt nichts dagegen, falls du unserem „Verein“ beitreten willst.«
Jetzt fühlte sich Frank mal wieder berufen für Ordnung zu sorgen: »Also ich schlage vor, dass Gerald für ein paar Tage hierher kommt und sich etwas umschaut, dann kann er selbst entscheiden, ob er sich mit den Telepathen hier arrangieren kann.«
Vom Zentrumspool kam nun Nico herübergeschwommen und setzte sich neben Robin. Dabei fiel mir ein, dass sie zwar auch wie Zack und Tommy Brüder waren, jedoch weder vom Aussehen noch von den Fähigkeiten her Ähnlichkeiten vorhanden waren.
»»Wieso, beide sind Telepathen, Nico eben noch Teleporter und Robin Telekinet. Übrigens hat Robin in letzter Zeit sehr zugelegt was die Kapazität betrifft««, korrigierte mich Julian sofort.
»»Okay, aber ähnlich sehen sie sich wirklich nicht!««, brummte ich zurück.
»»Dafür hat Gerald aber Nicos Interesse geweckt!««, machte mir Julian klar.
Tatsächlich war es drüben im Zentralpool merklich ruhiger geworden seit Gerald eingetroffen war, weil Nico anscheinend mehr auf Gerald als auf die Faxen von Kim und Zack geachtet hatte. Gerald schien dann auch der Grund gewesen zu sein, warum er zu unserer Runde gestoßen war.
»»He Jungs, passt auf««, kam ein Warnimpuls von Lukas, »»Louis möchte, dass Gerald auch beim Training mitmachen kann, aber Frank will sich da wohl quer legen.««
Gerade endete Louis Rede mit dem Vorschlag, Gerald könne mit ihm am Training teilnehmen, als Frank zum Sprechen ansetzte. Zwei telepathische Warnimpulse, Julian und ich hatten da wohl gleichzeitig reagiert, ließen ihn jedoch verstummen, noch bevor er etwas sagen konnte.
»»Frank bitte nicht! Er hat schon mit der Telepathie seine Probleme, lass ihn doch beim Training hereinschnuppern. Ralf ist sich sicher, dass Gerald es nicht weiter verbreiten wird, selbst wenn er nicht der Bruderschaft beitritt««, Julians Erklärung schien Frank nur halbwegs zu überzeugen, aber er entschied sich dann doch, einmal seine Bedenken beiseite zu schieben. Was bei Ralf für einen Augenblick Erstaunen hervorrief.
Habe ich schon mal erwähnt, dass Frank störrischer als ein Maulesel sein konnte? – Wirklich, nun man kann es einfach nicht oft genug wiederholen. Er ist manchmal wirklich unglaublich stur.
Plötzlich schlug sich Benny mit der flachen Hand vor die Stirn: »Eric! – Ähm, ich habe Manuel getroffen und der sagte er wolle dich noch sprechen. Ich hab das jetzt beinahe total verpennt.«
Verwundert zog Eric die Augenbrauen hoch: »Hat er gesagt um was es geht?«
Benny schüttelte den Kopf und wir beratschlagten schnell, in einer telepathischen Runde was es bedeuten könnte.
»»Das einfachste wird sein, du gehst hin!««, brummte Tom als Pragmatiker.
Ich sah zu Ralf: »Gehst du mit? Es ist vielleicht besser wenn ihr zu zweit dort auftaucht.«
Bewusst hatte ich auf Telepathie verzichtet, da Gerald uns schon wieder so misstrauisch musterte. Dabei war es doch viel einfacher sich telepathisch zu verständigen. Einfacher, schneller und vor allem präziser.
Langsam fragte ich mich, wie das mit Gerald funktionieren sollte, wenn er überall, wo Telepathie im Spiel war, gleich so misstrauisch wurde. Ralf, dem das natürlich nicht verborgen geblieben war, schließlich war er auch Empath, sagte beim Aufstehen: »Gerald, ich würde mir an deiner Stelle ernste Gedanken über einen Blockadechip machen. Die Jungs hier wollen dich nicht aushorchen, für uns ist die Telepathie nur die effizienteste Kommunikationsform.«
Während Gerald etwas betreten hinter Ralf und Eric hersah, die ihre Kleidung zusammenrafften, um dann in ihr Apartment zu verschwinden, nutzte Frank die Gelegenheit, um Thimo unseren „Aufstockungsvorschlag“ zu unterbreiten. Zuerst hielt er nicht viel davon, doch als er die Begründung hörte, wurde auch er sehr nachdenklich. Bis jetzt hatte man ihn nicht offiziell vorgeladen, doch jeder seiner Freunde unter den Freien Mutanten wusste schon, dass er kommen „musste“.
Nachdem er nun Franks Überlegungen kannte, stieß ihm dieses „musste“ auch sehr bitter auf. Das war wahrscheinlich der Hauptgrund, weshalb er „es“ dann doch tun wollte. »»Wenn ihr es mir anbietet, dann werde ich es sicher nicht ausschlagen««, murmelte Thimo und erneut wurde uns klar, wie sehr ihn das Verhalten des Großen Rates verletzte.
»Dann sollten wir die Zeremonie aber so bald als möglich durchführen, damit Thimo noch etwas Zeit zum Üben hat,« und mit einem feisten Grinsen fügte Lukas, allerdings telepathisch, noch hinzu: »»Im Übrigen wäre es schön, wenn Tommy die Telekinese erhalten könnte.««
Ein resignierender Blick von Frank und sein müdes Nicken ließen Lukas erstrahlen. Steter Tropfen höhlt den Stein. In Beharrlichkeit konnte es Lukas durchaus mit Frank aufnehmen, wie sich jetzt schon wieder gezeigt hatte. Andererseits spielte es wirklich keine so große Rolle mehr, ob wir nun Thimo alleine oder auch noch Tommys Fähigkeiten „Aufstockten“. Die PSI-Energie würden die Freien Mutanten so oder so registrieren. Und im Verhältnis zu dem, was gestern frei gesetzt wurde, wäre diese Menge sicherlich fast schon wieder beruhigend klein.
»»Trotzdem wird es ihnen nicht gefallen. Mareck wird auch darin eine Provokation sehen. Aber ich denke, dass wir darauf nicht mehr all zu viel Rücksicht nehmen sollten.«« Das waren ja völlig neue Ansichten, die Thimo da äußerte. Und ich muss zugeben, mir gefielen sie besser als die Alten.
Nur damit Gerald nicht noch mürrischer wurde, wendete sich Nico verbal an seinen Bruder: »Metin hat sich vorhin gemeldet, die neue Ausrüstung und einige andere „Dinge von Nützlichkeit“ sind jetzt in Camelot eingetroffen. Du oder Frank, einer von euch solltet sich darum kümmern.«
Die „Dinge von Nützlichkeit“ waren diverse Gerätschaften, die von Stefan, Martin und Arne zusammengestellt worden waren. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Waffen, aber auch Sensoren und einige Robot-Systeme waren darunter. Sie würden den Schutz von Camelot erleichtern, falls so ein Angriff der Pseudo-Morlock gezielt gegen uns erfolgen sollte. Außerdem musste auch „Sandros Asyl“ entsprechend abgesichert werden. Darüber hinaus mussten die Aufzugsschächte und Lüftungssysteme einfach besser gegen diese Art von Angreifern gesichert werden.
Dementsprechend verschwanden gleich darauf, mit einem kurzen Wink, Frank und Robin aus unserem Pool. Platschend nahm das Wasser den von ihren Köpern bisher beanspruchten Platz ein und mit hochgezogener Augenbraue sah Gerald nun zu mir. Offensichtlich ahnte er, dass auch wir gleich „verschwinden“ würden.
»Hm, versteh das jetzt bitte nicht falsch, aber wir müssen jetzt auch gleich nach Camelot«, wandte ich mich an ihn.
»He Gerald, das hat jetzt wirklich nichts mit dir zu tun. Die Sache ist nur relativ dringend. Schau dir doch unseren Laden mal in Ruhe an, so schlimm ist das hier nicht«, versuchte Tom etwas beruhigendes zu sagen.
»»So schlimm ist das hier nicht?««, Lukas schaffte es tatsächlich telepathisch zu kreischen.
»»Klar was hätte ich sonst sagen sollen? – Hier laufen zwar überall Telepathen rum die du nicht magst, aber es wird dir sicher gefallen?««
Nun ja, so unrecht hatte Tom in diesem Punkt sicherlich nicht.
Mensa - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 18 Uhr
Völlig in seine Gedanken vertieft lief Gerald neben Benny, Zack, Kim und Nico her und versuchte Ordnung in seinem Kopf zu schaffen. Nach dem doch recht plötzlichen Aufbruch der Jungs waren nur noch sie übrig geblieben, und so war er Bennys Vorschlag gefolgt, in die Mensa und danach zum Wohnbereich zu gehen. Alle anderen waren jetzt wohl in Camelot oder wo auch immer.
Typisch Telepathen eben, nur nie mit offenen Karten spielen, ärgerte sich Gerald zum wiederholten Male. Wobei er zugeben musste, dass Angel oder eben Ralf wie er sich jetzt nannte, nicht ganz unrecht hatte, denn ein Blockadechip wäre kein wirkliches Problem. Gerald ging es aber um das Prinzip, jedenfalls redete er sich das immer ein.
Franks Angebot war auch nicht wirklich sonderlich überraschend gewesen, mehr oder weniger hatte er damit gerechnet. Vorerst könnte er also hier bleiben und sich den Laden, wie Tom es genannt hatte, einmal in Ruhe ansehen. Die Warnung von Mike, dass die überwiegende Zahl der Leute hier Telepathen waren, machte ihm die Entscheidung jedoch nicht gerade leicht.
Dass jetzt sogar ein Freier Mutant zur Bruderschaft gewechselt war, erstaunte Gerald jedoch sehr. Drei Mal war er Thimo bisher begegnet, zuletzt kurz vor seiner Reise nach London, und immer war Thimo im Auftrag des Großen Rates gekommen.
Beim ersten Mal wollten sie, dass er sich den Freien Mutanten anschloss. Das ist jetzt mindestens drei Jahre her, dachte Gerald schmunzelnd. Danach hatte er sich als Freelancer durchschlagen müssen. Dennoch unternahm der Große Rat noch zwei Versuche ihn zu bedrängen, sich den Zielen der Freien Mutanten unterzuordnen. Jedes Mal nach einem Zwischenfall, an dem auch Normalos beteiligt waren. Doch nun hatte Thimo selbst den Freien Mutanten den Rücken gekehrt. Für Gerald war dies schon eine sehr erstaunliche Entwicklung, wie überhaupt vieles von dem, was hier geschah.
Einiges an diesem Projekt war wirklich sehr interessant, das musste sich Gerald immer wieder eingestehen. Die Entscheidung, dass auch Normalos zur Bruderschaft gehörten, störte ihn nicht wirklich, er fand es sogar konsequent, wenigstens aus Sicht der Hoods. Die Idee und die Umsetzung der PSI-Schulung fand er schon wirklich außerordentlich bemerkenswert.
An Franks Verhalten war Gerald sofort klar geworden, dass ihm die Idee, dass er die Schulungen ansehen durfte, nicht behagte. Anscheinend war das auch nicht normal, denn sogar Ralf war einen Augenblick erstaunt gewesen. Dementsprechend fragte er sich, warum sie bei ihm eine Ausnahme machten?
Fröhlich plapperte Benny mit den anderen und sie alle ließen Gerald Zeit sich zu sammeln. Auf ihrem Weg fiel Gerald auf, wie freundlich und offen die Jungs hier alle waren. Jeder begrüßte jeden und immer war Zeit für einen kurzen Plausch oder ein paar launige Bemerkungen.
Als sie die Mensa erreichten, musste Gerald fast lachen, im Gegensatz zu der in der Schule war hier alles offen und die Atmosphäre sehr angenehm. Mit den Worten: »Such dir aus was du magst, hier ist alles frei,« führte ihn Benny zu einem der Automaten.
Schmunzelnd realisierte Gerald, dass auch hier wieder sichtbar wurde, wer der Hauptsponsor dieses Unternehmens war. So hervorragende Automaten konnte man sich nur dank NeckTech erlauben. Die Auswahl und die gelieferte Qualität übertraf alles was Gerald je aus so einer Quelle bekommen hatte. Schmerzlich erinnerte er sich an seine Kindheit. Mit Martas Essen konnte sich der Automat natürlich nicht messen. Sie war die Köchin seiner Pflegeeltern gewesen. Damals war eben alles anders …
Doch ein sanftes Ziehen in seinem Kopf erinnerte Gerald daran, dass er mit Telepathen zusammen war. Das wütende Funkeln in seinen Augen erlosch aber sofort, als er beinahe in zwei großen grünen Augen versank. Sanft vernahm er Zacks besorgte Stimme wie aus weiter Ferne: »… nicht gut Gerald? Schlechte Erinnerungen?«
Gerald brauchte noch einige Sekunden um sich zu sammeln, bevor er den Kopf schüttelte: »Nein, es waren schöne Erinnerungen. Es ist nur traurig, dass es nur noch Erinnerungen sind. Alles längst vorbei …«
Mitfühlend sah ihn Zack an: »Ich wollte dich wirklich nicht stören – nur du hast angefangen zu zittern und dein Herzschlag erhöhte sich.«
Noch einmal sah Gerald in Zacks besorgte Augen und ihm wurde klar, dass die anderen wahrscheinlich überhaupt nichts bemerkt hatten. Für sie war er nur etwas in Gedanken versunken gewesen, was im Prinzip ja auch zutraf, nur Zack konnte eben mehr wahrnehmen als die übrigen Anwesenden …
Gerald fühlte weiterhin Zacks Blick auf sich ruhen und spürte, dass der ihn etwas fragen wollte, sich aber nicht so recht traute. Langsam sah er auf und fragte freundlich: »Was willst du wissen?«
Dennoch druckste Zack einige Augenblicke herum: »Warum schirmst du dich nicht ab, wenn du es nicht magst?«
»Wie sollte ich das machen?«, jetzt klang Gerald schon nicht mehr ganz so freundlich.
»Du spürst doch offensichtlich wenn ein Telepath dich sondiert, so war es anscheinend auch bei Eric. Der hat dann gelernt sich bewusst abzuschirmen. Das können sogar einige Normalos.«
Gerald brummte etwas Unverständliches. Ihm war das Thema alles andere als sympathisch. Warum sollte er sich abschirmen? Es waren doch die Telepathen die seine Privatsphäre absichtlich angriffen. Und sondieren war seiner Meinung so etwas wie ein Angriff.
Zack lächelte ein wenig spöttisch: »Du willst dich gar nicht abschirmen! Das ist auch der Grund, weshalb du keinen Blockadechip trägst! Aber das ist nicht fair!«
»Was soll das heißen? Ist es vielleicht „fair“, dass ihr Telepathen ständig die Leute in eurer Umgebung belästigt?«
Zack schüttelte empört den Kopf: »Wenn Dirk, ein blinder Teleorter, seine Fähigkeit einsetzt um sich zu orientieren, fühlst du dich dann auch „angefasst“?«
»Natürlich nicht, aber ihr Telepathen könnt auch verbal kommunizieren, ihr macht aber alles heimlich. Das ist es, was mich stört!«
»Du solltest dich hören! He, Gerald es ist zum Beispiel unheimlich schön, wenn ich mit Kim telepathisch verbunden bin. Es geht weit über das Sprechen und Hören hinaus. Du könntest dich abschirmen, aber stattdessen verlangst du von uns, auf etwas sehr Schönes und Nützliches zu verzichten. Und das ist nicht fair!«
Gerald wusste das Zack nicht ganz unrecht hatte, aber im Moment war er viel zu stur es zuzugeben. Stattdessen grummelte er etwas vor sich hin und aß weiter. Zack jedoch wusste, dass der erste Schritt gemacht war, er war sich sicher, dass sein „Opfer“ seine Position überdenken würde.
Gerald rechnete es den Jungs hoch an, dass keiner weitere Fragen stellte. Er war es gewohnt, alleine mit seinen Problemen fertig zu werden und mochte es nicht, wenn sich jemand zu sehr einmischte. Inzwischen fand er es schon fast erstaunlich, dass er überhaupt auf Bennys Vorschlag eingegangen war.
Als er wenig später jedoch den Wohntrakt betrat, fand er, dass es womöglich doch eine gute Entscheidung gewesen sein könnte. Selbst die zu renovierenden Räumlichkeiten boten mehr Komfort als seine kleine Hütte im Wald, in die er sich nach seiner Flucht vor Davids Zudringlichkeiten geflüchtet hatte.
Das Problem seiner Begleiter war nur, jetzt einen passenden Raum zu finden. Die jüngeren Schüler waren in Mehrbettzimmern untergebracht, die eigentlich kleine Apartments waren. Hier gab es zwar auch noch einige Einzelzimmer, doch der Lärmpegel war auf dieser Etage beträchtlich. Die nächste Etage musste noch komplett renoviert und ausgebaut werden, schließlich stand der ganze Campus über mehrere Jahre leer. Erst seit Mitte November liefen die Umbauten und selbst das wurde mit möglichst wenig Personal durchgezogen.
Schließlich wurde es Nico zu blöde und er zog Gerald einfach mit sich zu seinem Apartment. Eigentlich teilte er es sich mit seinem Bruder Robin, doch der verließ Camelot nur noch sehr selten: »Hier ist genügend Platz, wenn es dich als Freelancer nicht stört, mit einem einfachen Hood in einem Zimmer zu nächtigen …«
»He, jetzt mal halblang! Ich habe mich nie für was Besonderes gehalten. Außerdem bist du doch jetzt auch ein „Frater“ und …«
»Ein was?«
Irritiert sah Gerald zu Nico dann zu Kim und Zack: »Ein „Fratres Iurati“, ein „geschworener Bruder“ kennt ihr den Begriff etwa nicht?«
Einvernehmliches Kopfschütteln war die Antwort und jetzt musste Gerald lachen: »Als ich zum ersten Mal von der Bruderschaft hörte, da war ich 15 oder so …«, wieder schweifte Gerald ein wenig in die Vergangenheit ab, »… nun jedenfalls lebte ich bei einer Pflegefamilie, eigentlich waren es die ehemaligen Arbeitgeber meiner Mutter, die mich nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen haben.«
»Aber du kanntest deine Eltern?«, fragte Benny zaghaft.
»Ja schon, ich war aber gerade erst sieben geworden als meine Eltern während der Novemberunruhen 2022 umkamen. Mein Vater war Arzt im Sektorkrankenhaus, er und meine Mutter waren verhaftet worden … Immerhin fand man ihre Leichen, viele andere sind ja einfach für immer verschwunden.«
Nico zog Gerald zu sich aufs Bett und hielt ihn einfach umschlungen. Auch Benny, Zack und Kim lümmelten sich auf Nicos Liegewiese, am liebsten hätten sie jetzt einen telepathischen Block gebildet, um sich gegenseitig zu trösten, doch bei Geralds Telepathenallergie schien das nicht angebracht.
Es macht keinen Sinn darüber nachzugrübeln was wäre wenn …, rief sich Gerald zur Ordnung. Also gab er sich einen Ruck und fuhr fort: »Jedenfalls nahm mich die Familie auf, als wäre ich ihr eigenes Kind. Mit ihrem Sohn hatte ich schon früher immer spielen dürfen, er ist genauso alt wie ich, und als wir so um die 14 knapp 15 waren, entdeckten wir unsere Begabung.«
Gerald lachte als er die erstaunten Gesichter der Jungs sah: »Ja, auch er ist ein Mutant. Schon wesentlich früher als bei mir war ein Teil seiner Fähigkeit zu Tage gekommen. Er kam unheimlich gut mit Tieren zurecht, jedes noch so wilde Tier wurde handzahm wenn er sich nur näherte. Später traf das auch auf Menschen zu.« Den Jungs blieb nicht verborgen, dass da viel Trauer und Zorn mitschwangen.
Auch Gerald wollte jetzt endlich den Teil der Geschichte abschließen, am liebsten sogar vergessen, so beeilte er sich: »Jedenfalls als uns klar wurde, dass wir Mutanten sind, versuchten wir an Informationen heran zu kommen. Ich meine, man hörte immer wieder davon, dass es welche geben sollte, aber wirkliche Informationen waren für Außenstehende nur sehr schwer zu bekommen. Zu der Zeit trainierte ich schon einige Jahre bei Meister Takashi und war deshalb auch mindestens drei mal die Woche im Sektor. Damals gab es die Bruderschaft zwar auch schon nicht mehr, aber im Sektor konnte man überall noch von ihr hören, wenn man es wollte.«
Lächelnd sah Gerald in die gespannten Gesichter seiner Zuhörer, er hätte nie gedacht, dass sie sich so sehr für seine Geschichte interessierten. Noch einmal holte er tief Luft und erklärte dann: »Als ich von den Gerüchten erfuhr, versuchte ich an alles heranzukommen was mit der Bruderschaft zusammenhing. Die ganze Sache geht wahrscheinlich auf einen alten christlichen Ritus zurück. In der christlich-orthodoxen Kirche gab es den Ritus des „Brüdermachens“ „Adelphopoiesis“ genannt, eine Verbindung zwischen zwei Freunden für ihre Liebe, die bis in den Tod anhalten sollte.
Wie gesagt, das war wahrscheinlich die Idee, die dahinter steckt, geschworene Brüder gab es auch unter den Rittern, und da wurde dann wohl die Verbindung zu den Templern gezogen. Das Ganze hat also keinen geschlossenen historischen Hintergrund, es sind viel mehr etliche Anleihen aus diversen historischen Quellen verknüpft worden. Es passte eben relativ gut zusammen, oder wurde passend gemacht. Sie selbst nannten sich angeblich nur „Frater“, also das Lateinische Wort für Bruder.«
»Hört sich an wie ein Mönch«, lachte Kim.
»Daher kommt es auch!«, blieb Gerald völlig ernst, »Im Prinzip gibt es ja gewisse Ähnlichkeiten, darum kam man ja wohl auch auf die Verbindung zu den Templern. Mönche und Ritter. – Nur eben mit der Enthaltsamkeit …«
Hier wurde Gerald vom Feixen der Jungs unterbrochen. Lachend murmelte er: »Nun ja, nichts auf der Welt ist perfekt.« Erst jetzt realisierte er, dass er halb auf Nico lag, der aber nicht den Eindruck erweckte, als würde es ihn stören – ganz im Gegenteil.
@Mike
Conventiculum – Camelot
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 19 Uhr
Etwas müde, aber wie gewohnt euphorisch sah ich in die Gesichter unserer drei neuen Geister. Es war mehr ein spontaner Einfall von mir, Gloria auch noch mit einzuladen. Von Julians letztem Kampf wusste wir schließlich, dass sie ein ernstzunehmender Gegner sein konnte. Nun aber würde sie wirklich sehr gefährlich sein.
Bisher schon beherrschte sie Occultation, Indeprenther, Empathie und Autopoiese, eine sehr schwache Form der Biometabolie. Bei ihr beschränkte sich die Autopoiese weitgehend darauf, dass sie wie ein Chamäleon ihre Hautfarbe anpassen konnte.
Inzwischen war sie aber Dank der Larualisation und Occultation ein wirklich unsichtbarer Geist, der durch die Indeprenther Fähigkeit auch nicht aufgespürt werden konnte. Wirklich übel konnte es für ihre Gegner werden, wenn sie erst die neu erworbene Telekinese und Elektrokinese richtig beherrschte. Da sie im Nahkampf schon gegen Julian sehr überzeugen konnte, würde sie nun beim Erlernen des ForceFight sicherlich entsprechend zulegen.
Dank Lukas’ Beharrlichkeit war nun auch Tommy zur Telekinese gelangt und bei der Gelegenheit direkt zum Ghost geworden. Bei Thimo hatten wir wie besprochen nur die Larualisation und die Elektrokinese „nachgerüstet“. Eigentlich hätten wir, Dank seiner als Teleporter sowieso sehr hohen Kapazität, auch noch mehr „Hineinpumpen“ können. Doch Thimo wollte sich zuerst mit den neuen Fähigkeiten vertraut machen bevor er sich weiter aufstocken ließ.
In diesem Punkt waren Julian und ich eben kein besonders gutes Vorbild. Immer wieder mussten wir feststellen, dass wir uns bei unserem Training verzettelten. Jede der Fähigkeiten barg in sich so viele Nuancen, dass wir praktisch 30 Stunden am Tag üben müssten. Gab es da nicht eine Fähigkeit, mit der wir unsere Zeit etwas ausdehnen könnten?
»»Jetzt spinnst du aber völlig««, grummelte Julian und lehnte sich an mich.
»»Wieso etwas mehr Zeit könnte doch wirklich nicht schaden!««, stimmte mir Lukas zu.
»»Außerdem hast du Ralf bei deiner „Geister-Zählung“ vergessen!««, lenkte Julian vom Thema ab.
»»Habe ich nicht! Ich sprach von neuen Geistern, wobei die Betonung auf neu liegt. Als Parasurfer geht er aber in Phase, also war die Fähigkeit ein Ghost zu sein schon vorhanden.««
»»Warum konnte ich es dann nicht so wie ihr?««, Ralfs blaugraue Augen schienen mich festzunageln.
»»Hm, sicher bin ich mir natürlich nicht, aber wie du sicherlich bemerkt hast, mussten wir bei dir kaum Energie aufwenden. Auch deine Signatur hat sich nur minimal verändert. Die Ghost-Phase unterscheidet sich anscheinend nur geringfügig von deiner Parasurfer-Phase««, versuchte ich eine Erklärung.
Eric, der heute wie Tommy die Telekinese abbekommen hatte, analysierte: »»Wenn ein Parasurfer in Phase geht, dann wird er völlig unsichtbar, während bei der Larualisation der Ghost-Effekt auftritt, man ist also als halbtransparenter Geist zu sehen. Daher kam ja schließlich der Spitzname. Ich denke, es hat etwas mit der Energie zu tun. Als Parasurfer bist du auf einem höheren Energieniveau und deshalb nicht zu sehen.««
»»Dafür ist die Bewegungsfähigkeit des Parasurfers stärker eingeschränkt. Es fühlt sich an, als würdest du in zähflüssigem Sirup stecken. Nur sobald du surfst bemerkst du davon nichts««, erklärte uns Ralf.
»»Du kannst also als Parasurfer nicht in Phase gehen und durch die Gegend laufen?««, vergewisserte sich Lukas, unser erster Ghost.
»»Klares Jein!««, grinste Ralf. »»Wenn ich bisher in Phase ging, dann immer nur, wenn ich mir sofort eine Trägerwelle, also das was mich wegträgt, holen konnte. Man kann das mit einem Skilift vergleichen. Ich spüre, dass da dieser Mitnehmer ist, wechsle in Phase und schon geht die Reise los. Wenn ich dann abspringe spüre ich eben diese Zähigkeit, da gehst du dann ganz von alleine aus der Phase raus.««
»»Wow, wieder was gelernt. – Jetzt kannst du nur noch hoffen, dass das auch noch mit Sammys PSI-System vereinbar ist. Sonst erlebst du ungemütliche Zeiten!««, grinste Tom.
Okay, das war ein wirklich schlagendes Argument. Wenn Sammy etwas nicht leiden konnte, dann waren es Unstimmigkeiten in seinem PSI-System, mit dem er inzwischen fast alles einigermaßen erklären konnte.
»»Immerhin deckt sich Ralfs Beschreibung mit der von Heiko««, untermauerte Julian Ralfs Aussage.
Von Heiko, unserem Marshmallow, äh ich meine Pseudometabolist, war das schon einmal ähnlich beschrieben worden. Nur ging seine Phase bis zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit. Sammy behauptete sogar, dass Heiko in einer Art Stasis wäre, da sein echter Körper in dieser Zeit anscheinend keinerlei „Verbrauch“ hatte. Er benötigte also weder Luft, noch Wasser oder sonst etwas so lange er in Phase war.
Die Überlegungen dazu, waren von Eric angestoßen worden. Wenn einer von uns Ghosts in Phase ging, benötigte er Energie, um in Phase zu bleiben. Nicht wirklich viel, aber immerhin etwas. War der Energievorrat erschöpft, fiel man wieder zurück. So weit so gut.
Bei Heiko war es aber so, dass er den Großteil seiner PSI-Energie benötigte um einen Pseudokörper zu erschaffen. Wurde dieser Pseudokörper zerstört, dann war diese Energie für Heiko verloren. Wenn Heikos gesamter Energievorrat verbraucht war, fiel er aber nicht aus seiner Phase. – Er blieb verschwunden!
Anders als wir benötigte Heiko Energie um von seiner Phase wieder zurück zu kommen. Gelang es ihm nicht, diese Energie aufzubringen, dann blieb er so lange verschwunden, bis er wieder genug Energie angesammelt hatte. Deshalb war es so wichtig, zu wissen wie lange er in Phase bleiben konnte. Bisher rettete sich Heiko mit den letzten Energiereserven wieder in den Normalzustand, aber das gelang ihm manchmal nur sehr knapp oder auch erst nach einigen Minuten. Nach Sammys neuer Theorie bestand nun aber keine Gefahr, dass Heiko dabei ersticken konnte, da sein Körper während dieser Phase eben nichts benötigte.
Da die anderen meine Überlegungen mitverfolgt konnten, hakte Gloria nach: »»Dann gibt es also drei verschiedenen Phase-Stufen? Die transparente Ghost, die Sirup-Phase der Parasurfer und die Winterschlaf-Phase der Pseudometabolisten?««
Anerkennend lächelte ich ihr zu. Nicht jedoch wegen ihrer Zusammenfassung, sondern weil sie damit zeigte, dass sie die Telepathie mittels ihres Cadoc-Anhängers beherrschte. Denn eigentlich war sie Empathin und beherrschte die Telepathie überhaupt nicht. Stillschweigend hatten wir uns der Telepathie bedient ohne daran zu denken, dass sie eigentlich „nur“ Empathin war. War das die Arroganz der Telepathen, wie Gerald es immer nannte?
»»Keine Angst Mike, ich hätte mich schon gemeldet wenn ich mich ausgeschlossen gefühlt hätte««, lächelte Gloria.
Okay, ihr glaubte ich das sofort. So schnell ließ sie sich bestimmt nicht abdrängen oder übergehen.
»»Bestimmt nicht, eher kratzt sie dir die Augen aus!««, lästerte Tommy um sogleich unterdrückt aufzustöhnen.
Bisher war mir entgangen, dass sein Schweif auch Funken sprühen konnte. In der Dunkelheit des Conventiculum sah es wirklich faszinierend aus. Jetzt wussten wir außerdem, dass Gloria auch die Elektrokinese einigermaßen im Griff hatte. Auch wenn uns Tommy mit anklagenden Blicken dafür abstrafte.
Unter fortgesetztem Fluchen und dem Ausstoßen unzähliger Verwünschungen gegen uns und Gloria brachte Tommy seinen Schweif wieder in Ordnung. Manchmal war es eben doch sehr vorteilhaft ein Biometabolist zu sein, musste ich mir neidlos eingestehen. Andererseits hätte Gloria sonst auch nicht ihre Elektrokinese an Tommy ausprobiert.
»»Sammy nennt diese drei Phasen einfach Phase 1, 2 und 3 oder erste, zweite und dritte Phase. Wobei „Ghost“ dann die erste und Heikos „Stasis-Phase“ dann die dritte Phase ist««, nahm Eric schmunzelnd den Faden wieder auf. »»Bei Gerald muss aber noch ein anderer Mechanismus im Spiel sein. Denn er bewegt sich in der zweiten Phase, also im Sirup.««
»»Gerald nennt es manchmal auch Quickstepp oder „distanzlosen Schritt“. Denn für ihn ist es so, als würde er mit einem Schritt, eine große Distanz überbrücken««, bestätigte Ralf. »»Es ist anscheinend eine Stufe zwischen den Phasen, denn alles scheint wie bei den Parasurfern zu sein, nur dass er kein Magnetfeld eines elektrischen Leiters als Schlepplift benutzen muss. Er schätzt die Entfernung ab und macht dann einen Schritt und schon ist er an der Stelle.««
»»Hört sich seltsam an, fast wie eine Art Teleportation, oder?««, fragte Lukas.
»»Ja schon, aber es ist definitiv keine! Gerald muss das Ziel sehen, er kann nicht wie ein Teleporter sich nur das Ziel vorstellen und dann springen««, unterstrich Ralf den Unterschied. »»Außerdem geht seine „Reise“ nicht in Nullzeit, wie bei einem Teleporter. Das hat er schon ausprobiert. Also selbst, wenn er einen „sieben Meilen Schritt“ macht, vergeht dabei wirklich Zeit. Ein Teleporter hingegen legt die Strecke in Nullzeit zurück.««
Vorsichtig schielte ich zu Julian, doch der schien nur darauf gewartet zu haben und schüttelte kam merklich den Kopf. Also gönnte er mir weder die Teleportation, auf die ich schon lange spekulierte, noch den Quickstepp.
»»Das hat nichts mit „nicht gönnen“ zu tun, wie viele Fähigkeiten willst du denn noch ansammeln? Wir kommen doch auch so nicht mit dem Training nach««, argumentierte Julian auf einem privaten Kanal. »»Und – aber trotzdem – ist kein Argument!««, fügte er grinsend hinzu, bevor ich meine Standardantwort geben konnte.
Nicht einmal das gönnte er mir, grummelte ich ein wenig vor mich hin. Dann musste ich mich aber auf Eric und Ralf konzentrieren, die noch schnell über ihr Treffen mit Boris und Manuel berichteten.
Die Drachen hatten sich unter anderem erhofft, dass Eric als „Abwehroffizier“ etwas Druck ausüben könnte, damit sie wieder mehr Kontrolle über ihren Sektor bekämen. Natürlich konnte ihnen Eric da nicht all zu viel helfen, eigentlich überhaupt nicht, da er ja kein Abwehroffizier war. Doch dies den Drachen beizubringen hielten wir für aussichtslos, es sei denn, wir hätten dann auch noch mehr über unsere Verbindung zu NeckTech preisgegeben.
Eric sprach zwar noch mit dem verantwortlichen Offizier, doch erreichen konnte er da wohl nichts. Selbst unser Agent „M“, den er anschließend kontaktierte, konnte da nicht viel versprechen. Er war nicht mehr für den Sektor verantwortlich, da es sich jetzt primär um eine militärische Angelegenheit handelte. Es war also der militärische Teil der Abwehr, der nun das Sagen hatte und die waren anscheinend nicht sehr kooperativ.
Der zweite Grund für das Treffen war für uns wesentlich interessanter. Ein paar von Boris' Leuten war es gelungen, das Gebiet des mutmaßlichen Pseudo-Morlock Stützpunktes einzugrenzen. Sie waren da recht pragmatisch herangegangen und hatten per Ausschluss alles ausgegrenzt, von dem sie sicher sein konnten, dass er dort nicht lag.
Dennoch war das Gebiet sehr groß und dummerweise gab es ausgerechnet dort auch sehr viele unterirdische Anlagen aus der Gründerzeit von Sektor 20. Diese Anlagen waren im Laufe der Zeit x-mal umgestaltet und verändert worden. Es gab wohl niemanden mehr der sich dort wirklich auskannte.
Wir mussten uns also überlegen, wie wir an bessere Daten herankamen, denn dieses Labor durfte nicht länger existieren. Einen weiteren Morlock-Überfall wie den auf Sektor-17 konnten wir nicht riskieren. Das sagte mir nicht nur mein Verstand, sondern auch mein Magen, der schon wieder so seltsam zuckte.
Nicos Apartment - Campus Occursus
Mittwoch, 02.01.2036 gegen 20 Uhr 30
Noch immer kringelten sich Zack und Kim auf dem Bett, offensichtlich fanden sie den Begriff „Enthaltsamkeit“ äußerst amüsant. Nach dem sich alle wieder etwas beruhigt hatten, richtete sich Zack auf und sah sich demonstrativ um: »Sag mal Gerald, hast du eigentlich noch Kleidung?«
»Warum? Mache ich den Eindruck ich sei nackt? – Oder gefällt dir nicht was ich anhabe?«
»Zack hat erst heute beim Aufräumen entdeckt, wie viel Klamotten er inzwischen erbeutet hat. Aber ich fürchte fast, er will schon wieder über Martins Kleiderdepot herfallen«, kicherte Kim.
Zack sah ihn trotzig an: »Von wegen! Mir ist nur eingefallen, was Benny gesa…«, schnell sah er schuldbewusst zu Gerald, aber da er sich schon verplappert hatte, fuhr er grinsend fort, »… gesagt hat, also dass Geralds Wohnung demoliert und alles kaputt ist. Und ich glaube nicht, dass ihm die Sachen von Nico passen.«
Wieder schüttelte Gerald innerlich den Kopf. Diese Telepathen konnten auch nichts für sich behalten. Jede Information wurde sofort weitergereicht. Okay, diesmal war es nicht verkehrt, gestand sich Gerald ein. Er besaß wirklich nichts außer dem was er im Moment trug und den paar Sachen, die noch in seiner Hütte waren.
Kichernd hielt Nico unterdessen eine seiner Hose hoch und allen war klar, dass die Gerald niemals passen würde. Gerald war schließlich 1 Meter 89 groß und sehr sportlich, während Nico nur 1 Meter 75 maß und sehr schlank war. Erst seit ein paar Wochen machte er etwas Kraftsport.
»Dann haben wir wohl keine andere Wahl«, freute sich Zack und stand auf.
Etwas irritiert sah Gerald zu ihm auf und Nico lachte: »Martin ist hier der Sicherheitschef und hat das ungewöhnliche Talent, immer die benötigte Kleidung parat zu haben. Zack liebt es in Martins Depot zu plündern – ist schon fast zwanghaft.«
Alle außer Zack lachten, der spielte lieber den Beleidigten. Doch wer ihn kannte, wusste, was der nervös zuckende Schweif zu bedeuten hatte. Zack freute sich schon diebisch darauf, wieder einmal „Besorgungen“ machen zu können. Als er noch im Untergrund lebte, war das selbstverständlich. Nachts besorgten sie sich in den Depots und Lagerhäusern, was sie zum Leben benötigten. Doch hier konnte er im Prinzip alles bekommen was er wollte. Da kam sein Beutetrieb einfach zu kurz.
So zogen sie los, um im Keller des Wohnblocks, das Kleider- und Ausrüstungsdepot zu überfallen. Als Kim sie in den ersten von fünf hintereinander liegenden Räume teleportierte staunte Gerald laut: »Wollt ihr eine Armee einkleiden?«
»Och da hinten gibt es noch mehr«, grinste Zack, »Schau mal Nico, sogar Thermaldetonatoren sind wieder auf Lager!«, dabei funkelte in Zacks Augen der Schalk.
Gerald verstand die Anspielung jedoch erst, als ihn Kim über das erste Zusammentreffen der Iratus Lemurum mit Nico unterrichtete. Nico grummelte unterdessen: »Ich glaube da hinten habe ich auch ein Hundehalsband gesehen, das müsste dir doch passen, für Katzen haben sie ja nichts spezielles.«
Gleich darauf kam Gerald in den Genuss, Zacks Gebiss in seiner ganzen Pracht zu bestaunen, als der Nico mit seinem „lieblichsten“ Lächeln anstrahlte. Wahrscheinlich wäre jeder andere auf der Stelle geflohen, doch Nico trug es mit Gelassenheit.
Fasziniert sah sich Gerald unterdessen in dem riesigen Lager um, die Auswahl an Kleidung war sehr beeindruckend und vielfältig, die Farbauswahl jedoch sehr eingeschränkt. Getreu dem Mutantenmotto: „Egal welche Farbe, Hautsache es ist schwarz!“ herrschte diese Farbe auch mit geradezu erdrückender Dominanz vor. Benny, dem nicht entgangen war, dass Gerald eine wirkliche „Blue Jeans“ trug raunte: »Wenn du andere Farben bevorzugst, musst du warten bis Chris wieder eine samstägliche Einkauftour startet, das macht er immer einmal im Monat, aber da haben sich schon einige auf der Liste eingetragen.«
»Chris? – Kenn ich den?«
»Christian Neckler! – Der Sohn des Alten!«
Für einige Sekunden war Gerald fassungslos: »Der geht mit euch einkaufen? Ich meine der kennt euch? – Persönlich?«
Benny kicherte vergnügt: »Klar Chris ist mit Mike und den Jungs befreundet. Mike und Julian haben ihn auch nach seiner Entführung befreit. Er liebt es …«
»Christian Neckler wurde entführt?«
»Äh, ja. Aber eigentlich hätte ich das jetzt nicht sagen dürfen«, mehr um sich selbst als um Gerald abzulenken fuhr Benny fort: »Also Chris geht unheimlich gerne shoppen und jetzt nimmt er immer ein paar Jungs von uns mit nach Europolis und dann kannst du kaufen was du willst. Natürlich kann er nicht alle mitnehmen, aber es gibt ein Losverfahren und wer nicht mitkommen kann, der gibt den anderen seine Bestellung mit …«
»Moment! Geht er einkaufen und nimmt euch mit oder geht er mit euch einkaufen um Sachen für euch zu besorgen?«
»Äh? Nun, also für sich kauft er nur sehr selten etwas. Wir sind nicht dabei um ihn zu beschützen, falls du das meinst. Wir würden das natürlich trotzdem machen, aber das ist nicht der Grund weswegen er uns mitnimmt. Er mag uns wirklich!«, Bennys Stimme klang da schon fast ein wenig empört.
Beschwichtigend hob Gerald die Hände: »He, ist ja gut. Ich konnte mir das nur nicht so recht vorstellen. Ich meine, er ist der Sohn eines der reichsten Männer Europas und …«
»Er ist unheimlich nett und kein bisschen eingebildet!«, ergänzte Benny trotzig.
Staunend nahm Gerald auch diese Information zur Kenntnis. Dass der Kontakt zu NeckTech so weit ging, hätte er nicht im Traum gedacht. Allgemein versuchten Normalos sich von Mutanten fernzuhalten, sofern sie überhaupt glaubten, dass es „positive Mutanten“, also solche mit PSI-Fähigkeiten, gab. Dass ausgerechnet eine der reichsten Familien der Republik solche Kontakte pflegte, war für ihn ein kleiner Schock. Bisher war er der Ansicht, dies alles sei mehr oder weniger ein Versuch oder eben ein Projekt, das sich ein paar Leute bei NeckTech ausgedacht hatten. Jetzt jedoch wurde ihm klar, dass dies alles von ganz oben abgesegnet, wenn nicht sogar initiiert war.
Nach einem fast zweistündigen Beutezug hatten die fünf „das Nötigste“, wie Benny meinte, zusammen. Wieder einmal war Gerald über das Ausmaß und die Großzügigkeit der NeckTech Unterstützung erstaunt, selbst wenn man davon absah, dass die Jungs sich im Moment einfach bedienten, so war Gerald klar, dass sie das selbe auch offiziell bekommen hätten. Aber das Räubern machte Zack und den anderen einfach nur viel mehr Spaß.
Kaum waren sie wieder in Nicos Apartment, half dieser Gerald demonstrativ beim Einräumen der Beute. »Hier soll ja alles ordentlich sein«, grinste er mit einem hämischen Seitenblick zu Zack.
Benny kicherte unterdessen fast ununterbrochen, er mochte es wie sich die beiden ständig gegenseitig aufzogen, während Gerald schon Bedenken kamen.
Kim, dem das nicht verborgen blieb stichelte: »He Gerald, wir sind eben Telepathen, wir wissen wie weit wir gehen dürfen. Falls einer doch mal etwas eingeschnappt ist, dann lässt sich das auch sehr schnell wieder in Ordnung bringen.«
Gerald verstand zwar, was Kim damit meinte, aber der Gedanke an sich gefiel ihm nicht sonderlich. Doch bevor eine Diskussion entstehen konnte, stand Benny auf: »Ich bin langsam müde und Morgen ist wieder Schule, ich gehe ins Bett. – Äh, übrigens Gerald? Morgen laufen wir mit großer Besetzung auf!«
Interessiert sahen ihn die Jungs an und Benny erläuterte: »Ich habe es vorhin von Stefan erfahren, die Schule hat die Suspendierung aufgehoben. Ab Morgen müssen Mike, Julian, Tom und Lukas auch wieder erscheinen. Das wird sicherlich interessant!«
Mit einem unauffälligen Seitenblick zu Nico, der völlig in Gedanken versunken Gerald anstarrte, brummte Kim: »Ich denke wir gehen dann auch mal, morgen wollen wir etwas früher aufstehen«, dabei zwinkerte er Zack verschwörerisch zu und beide verschwanden auf der Stelle, als wären sie nie da gewesen.
»Jo, dann werde ich mal mein Bett beziehen, langsam bin ich auch müde«, brummte Gerald und musste ein Gähnen unterdrücken.
»Von mir aus kannst du auch bleiben, mein Bett ist groß genug«,flüsterte Nico schüchtern.
Langsam drehte sich Gerald zu ihm um: »Bist du sicher?«
Heftiges Nicken war die Antwort, mehr brachte Nico nicht heraus. Noch immer sah er Gerald mit großen Augen an. Seit er ihn im Pool zum ersten Mal gesehen hatte, schwirrte er durch seinen Kopf. Natürlich war es den anderen nicht verborgen geblieben, aber darüber würde keiner von ihnen Witze machen.
Gerald ließ sich wieder auf das Bett sinken und sah Nico nachdenklich an: »Sieh mal Nico, ich mag dich wirklich. Aber ich halte nicht viel von so überstü…«
Nicos Kopf ruckte hoch, dann lächelte er Gerald an: »He, versteh mich nicht falsch! Man kann auch zusammen im Bett liegen, ohne gleich zu poppen. Ich meine, ich würde schon gern mal aber …«
»Du hast noch nicht? – Bei all der Auswahl?«, grinste Gerald wenig zurückhaltend.
Nico schüttelte traurig den Kopf: »Ein bisschen rumgemacht schon, aber den Richtigen, mit dem ich mehr will, habe ich noch nicht gefunden.«
»Dann sehen wir das anscheinend ähnlich. Ich schlafe nicht gerne allein, aber es muss nicht immer gleich Sex sein.«
Nico strahlte und schlug demonstrativ die Decke zur Seite. Als er dann realisierte, dass er auch noch vollständig angezogen war, mussten beide lachen.
»OK, ich denke etwas Körperhygiene könnte zuvor nicht schaden«, schlug Gerald vor und begann sich auszuziehen. Als er dann grinsend im Bad verschwand, wachte Nico auch langsam aus seinen Träumereien auf. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass Gerald vielleicht der war, auf den er bisher gewartet hatte.
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