Stories
Stories, Gedichte und mehr
Innocent
Teil 1
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Innocent
- Autor: Vaines
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Diverses
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Kapitel 1 – David
- Kapitel 2 – Andy
- Kapitel 3 – David
- Kapitel 4 – Andy
- Kapitel 5 – David
- Kapitel 6 – Andy
- Kapitel 7 – David
Vorwort
Diese Geschichte entsteht in Zusammenarbeit mit einer Freundin, also stammen nicht alle Ideen von mir und auch jedes zweite Kapitel stammt nicht von mir (alle Kapitel mit ungerader Zahl sind nicht von mir). Ich hoffe trotzdem auf Feedback und natürlich erst einmal auf Leser! Euer Feedback werden natürlich beide Autoren lesen! P.S.: Wer Slowmotion kennt, wird hier eine ganz mysteriöse Person aus der Geschichte wiedersehen! ;)
Kapitel 1 – David
Ich dachte nie, dass ich einmal in meinem Leben so etwas erleben würde, so wie ich das nun tat. Immer wenn ich von so etwas zuvor gehört hatte, hatte ich nur lächeln müssen, in dem guten Glauben, dass so etwas weit von mir entfernt wäre. Ich meine, mein Vater war doch ein netter Mann. Immer freundlich, immer lustig und immer liebte er seinen einzigen Sohn. Mich.
Aber seit er vor knapp zwei Monaten seinen Job verloren hatte, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Er hatte angefangen zu rauchen und zu trinken. Eine Sache, die er früher immer verabscheut hatte. Dass er es nun tat, verletzte mich. Wo war sein gutes Benehmen geblieben? Er war immer angesehen gewesen, doch jetzt glich er mit seinen gammeligen Klamotten, dem Dreitagebart und seiner Bierflasche in der Hand eher einem Asozialen. Nicht nur ihm schadete er mit seinem unmöglichen Benehmen. Nein, auch ich litt darunter. Sehr sogar. Ich hatte niemanden außer ihn. Eine Mutter hatte es nie in meinem Leben gegeben, da sie bei meiner Geburt gestorben war. So hatte ich mich umso mehr an meinen Vater geklammert. Er war immer für mich da gewesen. Aber jetzt war alles anders. Er schien keinen Sinn mehr in seinem Leben zu sehen, erst einmal, da er keine Aussichten auf einen weiteren Beruf bekam und zweitens, weil ich in der Schule immer schlechter wurde.
Ich war ziemlich am Ende. Einerseits wollte ich meinem Vater helfen, doch gleichzeitig hatte ich Angst vor seinem neuen Gesicht, sodass ich die meiste Zeit um die Häuser zog, ohne Perspektive. Ich gab mich neuerdings mit Menschen ab, die ich früher nicht einmal mit dem Arsch angeschaut hätte. Doch nun war sowieso alles anders. Ich fing an zu klauen, drehte einige krumme Dinge, und immer wieder war da diese schreckliche Furcht, ich könnte eines Tages komplett auf der Straße landen. Meinem Vater traute ich momentan alles zu. Wüsste er Bescheid von meinem neuen, kaputten Leben, würde er mich auf die Straße setzen.
Lästig war ich ihm ohnehin geworden.
Doch diese Gedanken waren Tatsachen, die ich selten in meinen Kopf rufen wollte. Kaum dachte ich daran, wünschte ich mich am liebsten ganz weit weg an einen Ort, an dem all diese derzeitigen Ereignisse von mir abprallen würden.
Ich war ein Junge von 15 Jahren. Reichlich jung für all diese Begebenheiten. Die meisten Typen auf der Straße, mit denen ich mich neuerdings abgab, waren viel älter als ich. Und das bekam ich auch zu spüren. Sie behandelten mich grob, wie ein kleines Kind eben. Eigentlich wollte ich nichts mit ihnen zu tun haben, aber ich hatte keine Wahl. Entweder saß ich den ganzen Tag zuhause bei einem betrunkenen Vater, der herumbrüllte, als gäbe es keinen Morgen mehr oder aber ich entging all dem und ließ mich von Typen herumschikanieren, bei denen es mir nichts ausmachte, wenn sie mir Schimpfworte an den Kopf knallten. Eigentlich war es klar, was ich bevorzugte.
Heute war der 16. September. Ein Tag, den ich einerseits verabscheute, andererseits jedoch herbeisehnte, wie keinen anderen Tag. Heute fing die Schule nach endlos lang erscheinenden Sommerferien wieder an. Ich wusste bereits jetzt, dass ich dieses Jahr nicht bestehen würde, dass ich einige Male schwänzen würde und dass ich meinem Vater schlechte Noten verschweigen würde. All das, was mir noch vor gut einem Jahr niemals in den Sinn gekommen wäre, war nun Realität geworden. Es machte mir einfach nur Angst.
Ich wusste, dass ich an diesem Morgen erst gar nicht hätte aufstehen müssen, denn was nützte es schon, gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Ich hatte mich verändert, langsam sollte ich es akzeptieren. Meine ehemaligen Klassenkameraden, die mich einst gemocht hatten, hatte ich durch meine neue Art verschreckt, sodass ich sicher sein konnte, mich auf ein einsames, neues Schuljahr einstellen zu müssen.
Ich riss meinen Kleiderschrank auf und wühlte in meinen Klamotten herum. Schwarz war momentan meine Lieblingsfarbe geworden. Sie passte zu meiner finsteren Stimmung einfach am besten. Auch hatte ich einen Gefallen an Nietenbändern gefunden, die ich neuerdings um Hals und Arme band, um mich für andere als unnahbar zu geben. Sie sollten nicht glauben, dass ich mich nach Nähe sehnte. Wenigstens nach außen hin wollte ich stark aussehen.
Nachdem ich mich für diesen unheilvollen Tag fertig gemacht hatte, lief ich mit meiner Tasche die Treppen hinunter und stellte erleichtert fest, dass mein Vater noch nicht zu so früher Zeit wach war. Umso besser. Ich schnappte mir von ihm eine Zigarette und zündete sie auf dem Weg zur Schule an. Wollte ich cool aussehen? Wollte ich das wirklich?
Vielleicht. Vielleicht sollte eine Zigarette genauso wie mein neues Aussehen von all dem ablenken, das tief in mir schmerzte zu jeder Zeit, in der ich meinem Vater in die Augen sah, zu jeder Zeit, wenn ich von meinen neuen Freunden getriezt wurde und zu jeder Zeit, wenn ich mich einsam fühlte und all die Sehnsüchte nach Anerkennung und Liebe zu groß wurden. Immer dann half es eine Maske aufzusetzen, so wie ich das nun auch tat.
Ohne jegliche Erwartungen kam ich nach gut einer Viertelstunde an der Schule an. Ein Ort, der sicher war, jedoch gleichzeitig wie ein Gefängnis wirkte und den ich nicht unbedingt besuchen wollte. Einen kurzen Moment kam in mir ein Gedanke auf, den ich normalerweise jedes Mal zu Beginn eines neuen Schuljahres dachte. Wer würde unser neuer Lehrer werden?
Ich musste lächeln, weil tief in mir tatsächlich noch der alte David Portian lebte, der ab und zu noch einmal in mir aufkam und mich an solche Fragen, Gedanken und Stimmungen erinnerte.
Ein wenig sicherer schritt ich über den Hof mit einigen abschätzenden Blicken der anderen Schüler im Nacken und machte mich auf den Weg in mein neues Klassenzimmer. Doch bevor ich mich dort niederlassen würde, wollte ich noch ein wenig alleine sein. Ich würde weitere geschockte oder ängstliche Blicke nicht ertragen. Also führte mich mein Weg auf die Schultoilette in eine Kabine. Dort angekommen schmiss ich meine Tasche vor mir auf den Boden, schloss ab und atmete tief durch. Na, das konnte ja etwas werden dieses Jahr.
Ich versank wieder in meine Gedanken, die ich so gerne wenigstens einmal abgeschaltet hätte, sodass ich die Schulklingel gar nicht wirklich wahrnahm. Erst als ich einen Blick auf meine Uhr warf und zu meinem Schreck bemerkte, dass ich bereits zehn Minuten zu spät war, machte ich mich schließlich auf in mein Klassenzimmer zu kommen. Ich hetzte durch die leeren Gänge, und vor meinem Ziel angekommen versuchte ich meinen schnellen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
Okay, ich sollte nicht so tun, als wäre ich in Eile gewesen. Einen desinteressierten Blick und eine abweisende Haltung anzunehmen wäre deutlich klüger, jetzt da ich sowieso nicht mehr derselbe David war, den meine Klasse bisher gekannt hatte. Mit diesem Vorsatz öffnete ich schließlich die Türe, blickte zu Boden und wartete ab, bis ich bemerkt wurde. Ich hörte jemanden sprechen, scheinbar war es unser Lehrer. Er verstummte und ich konnte deutlich die vielen Augenpaare spüren, die nun alle auf mich gerichtet waren. Na super, jetzt hatte ich noch mehr Aufmerksamkeit! Konnte ich es eigentlich nie richtig machen?
„Und wer bist du?“ wurde ich plötzlich gefragt.
Langsam sah ich von meinen Schuhen auf und blickte in das Gesicht eines mir fremden Lehrers.
„Wer sind Sie denn?“ fragte ich zurück mit einer versteckt aggressiven Stimme.
Der Typ war deutlich überrascht von meiner Wortwahl. Er zog seine Stirn ein wenig kraus, entspannte sich jedoch gleich wieder und lächelte gemächlich.
„Ich bin Mr. Courten. Der neue Englischlehrer. Und darf ich jetzt erfahren, mit wem ich das Vergnügen habe?“
Ich schluckte schwer. Mein Gott! Was bildete sich dieser aufgeblasene Lehrer eigentlich ein? Ich war es keineswegs gewohnt, dass ein Lehrer so locker mit einem Schüler sprach. Vielleicht lag es daran, dass er noch so jung war?
Ich hatte keine Ahnung, ich wusste nur, dass mir dieser Mr. Courten bereits jetzt unsympathisch war.
„David“, hörte ich mich selbst reden. „Ich heiße David Portian.“
Kapitel 2 – Andy
Ich hatte nie erwartet, dass ich dieses Gefühl je wieder spüren würde. Es fühlte sich ein wenig an wie eine Mischung aus der Angst vor der Abschlussprüfung am College und der Vorfreude an meinem allerersten Arbeitstag. An diesem Tag war so etwas wie mein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen, doch dieser Traum von mir als erfolgreichem und vor allem von den Schülern geliebten Lehrer, war ziemlich schnell zerplatzt.
Nun war der Tag meiner zweiten und somit auch letzten Chance gekommen, meinen Traum doch vielleicht noch Wirklichkeit werden zu lassen. Heute war mein erster Tag an meiner neuen Schule. Meine Versetzung nach Phoenix, Arizona, war mir eigentlich ganz recht gewesen, Umziehen war der richtige Weg gewesen, und hier bekam ich auch wieder eine Anstellung.
Noch einmal in Sacramento als Lehrer zu arbeiten, wo ich mein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, war undenkbar gewesen. Der Skandal um meine Person war im gesamten Bundesstaat bekannt geworden, sogar manch eine Zeitung in Los Angeles hatte darüber berichtet. Doch zu meinem Glück war das Ganze weder über die Grenzen des Staates hinausgegangen, noch wurde mein Name dabei veröffentlicht.
Die L.A. Times hatten mich als „Pädophilen Perversen“ betitelt. Eine lächerliche Schlagzeile, immerhin war mein angebliches Opfer 17, fast 18 Jahre alt gewesen. Die Richtigstellung dieser Beleidigung hatten sicher nicht einmal zehn Prozent der Leute gelesen, die den eigentlichen Artikel zu Gesicht bekommen hatten. Letztendlich hatte sich eine Konkurrenzzeitschrift der L.A. Times meiner angenommen und ein Reporter hatte seine große Chance darin gesehen, klarzustellen, was wirklich geschehen war.
Dank der Tatsache, dass ich sowieso aufgegeben hatte, hatte ich Myers alles erzählt, es war mir egal gewesen, dass er vielleicht noch einen Hetz-Artikel schreiben konnte. Doch er hatte es nicht getan, und ein Großteil der Leute, die mich durch die Hass-Kampagne der Times verabscheut hatten, sah mich danach wieder annähernd als normalen Menschen an. Doch in Sacramento glaubte man das nicht und so fand ich, mehr oder weniger gezwungen, mein neues Zuhause im Nachbarstaat.
Hier wusste niemand von all dem, abgesehen von der Schulleitung meiner neuen Schule. Niemand der Schüler wusste hier von Scott. Dem Jungen, der fast mein gesamtes Leben auf dem Gewissen hatte. Mittlerweile war er 19 und studierte sicher bald Literatur, das hatte er immer geplant gehabt und oft davon erzählt, wenn wir nachts völlig unbekleidet und im Dunkeln auf meinem Bett gelegen waren. Er hatte dabei immer rauchen müssen, nur für ihn hatte ich mir einen Satz Aschenbecher angeschafft und ein paar Dollar mehr ausgegeben um die Klimaanlage anzuwerfen.
Er war ein kluger Junge, clever und gerissen und wahnsinnig schön. Es war wie ein Zwang gewesen, ich hatte ihn einfach immer berühren müssen, wenn ich konnte. Und Scott hatte sich wohl dabei gefühlt, dass ich ihn derart anbetete, ich konnte mir vorstellen, dass es für ihn ein tolles Gefühl gewesen sein muss, dass ein älterer Mann, ein richtiger Mann, derart für ihn empfand.
Eines Tages hatte uns einer seiner Mitschüler gesehen, als wir nachts an einem Wochenende in mein Apartment schlichen. Es hatte sich damals angefühlt, als hätte Scott mir mein Herz einfach so herausgerissen und zerfleischt. Der Junge, dem ich dieses Herz geschenkt hatte und dem ich so sehr vertraut hatte, behauptete mit einem Mal, ich hätte ihn gezwungen mit mir zu schlafen, damit ich ihm keine schlechten Noten gab.
Ich war innerhalb eines halben Tages suspendiert und festgenommen worden. Der Sheriff hatte erklärt, dass man mich wegen sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen angezeigt hatte. Bis zu einer Verhandlung war es nicht gekommen, Scott hatte zugegeben, dass er das alles ebenso gewollt hatte, wie ich, nachdem man in seinem Zimmer und auch in meiner Wohnung Briefe von uns gefunden hatte. Es war das demütigendste Gefühl, das ich je gespürt hatte, als man vor dem Richter Auszüge aus diesen Briefen vorlas, als mein gesamtes Gefühlsleben vor einer Gruppe von fremden Leuten offenbart wurde, als man wortwörtlich zitierte, wie sehr ich diesen Jungen vergötterte.
Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs wurde sofort zurückgenommen und letztendlich zahlte ich nur eine Geldstrafe dafür, dass ich Sex mit einem Schutzbefohlenen gehabt hatte. Dank einem Präzedenzfall aus Reno konnte ich sogar, unter der Bedingung, dass ich in einen anderen Bundesstaat ziehen würde, wieder als Lehrer arbeiten. Eine junge Lehrerin aus dieser mir eigentlich verhassten Stadt hatte somit meine Karriere und in gewisser Weise auch mein gesamtes Leben gerettet, indem sie mit einem ihrer Schüler eine Affäre gehabt hatte und später in Kansas wieder unterrichtete.
Nur dank ihr stand ich jetzt vor diesem Gebäude, das ich hoffentlich noch lange Zeit jeden Morgen betreten würde. Der Unterschied zwischen Sacramento und Phoenix war riesig, zwar war das hier nicht unbedingt Provinz, aber im Vergleich war es eine echte Kleinstadt. Es gefiel mir, dass diese komplett andere Atmosphäre das Ganze noch etwas leichter machte. Selbstverständlich war ich völlig verunsichert, wahnsinnig nervös und aufgeregt. Aber ich freute mich auf diesen Neuanfang. Ich hatte mir vorgenommen hier niemanden genauer anzusehen, keinen Schüler und auch sonst in nächster Zeit niemanden. Wenn ich jemanden treffen würde, dem ich gefiel, dann sollte derjenige auf mich zukommen, mein Vertrauen in andere war momentan gleich null.
Tief durchatmend betrat ich das Gebäude und machte mich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Ich hatte den Direktor und meine neuen Kollegen schon kennen gelernt, in der letzten Woche der Ferien waren einige Konferenzen gewesen, man hatte mir meinen „Mentor“ vorgestellt und mir Stundenplan und Schulsystem näher erklärt. Im Gegensatz zu den meisten Schulen hier gab es kein Kurssystem, sondern feste Klassen, die nur in manchen Fächern getrennt wurden. Damit wollte man bessere Gemeinschaften bilden und das Sozialverhalten der Schüler verbessern.
Mein Mentor hieß Mrs. Arnold, eine Mittvierzigerin mit jederzeit auftoupierten, blonden Haaren und einer scheinbar unendlich großen Sammlung von grauen Kostümen. Im Gegensatz zu ihrem definitiv unfreundlichen Aussehen war sie allerdings sehr, sehr nett. Man hatte ihr sogar von meiner „dunklen Vergangenheit“ erzählt, bevor sie den Job als mein Mentor übernahm, aber sie hatte das nicht gestört. Zu meiner Verwunderung nahm sie das sehr locker und meinte, ich würde hier sicher keine Probleme bekommen, sollte nur aufpassen, wo ich meine Freizeit verbrachte, wenn ich nicht unbedingt wollte, dass meine sexuelle Orientierung bekannt wurde.
„Guten Morgen, Mr. Courten!“ begrüßte sie mich, als ich ins Lehrerzimmer trat und auch einige meiner neuen Kollegen hoben kurz die Hand zur Begrüßung. Ich lächelte Mrs. Arnolds an, warf einen kurzen Blick in mein Fach und setzte mich dann mit meinem endgültigen Stundenplan in der Hand neben meinen Mentor auf den mir fest zugeteilten Platz. Das Lehrerzimmer bestand aus einem großen Raum mit den Fächern aller Lehrer an einer Längsseite, in dem zwei große, längliche Gruppentische standen, einer kleinen Küche mit Kaffeemaschine und Kühlschrank und einem ebenfalls kleineren Raum mit zwei Fernsehgeräten und mehreren Computern.
„Falls Sie Probleme mit Ihrer Klasse haben, wenden Sie sich einfach an mich, ich hatte die Klasse im letzten Schuljahr“, hörte ich dann plötzlich eine dunkle, männliche Stimme neben mir und blickte auf. Ein dunkelhaariger, etwa 30-jähriger Mann setzte sich in diesem Moment auf den Stuhl neben mir und deutete auf den Stundenplan in meinen Händen.
„Schön zu wissen“, entgegnete ich nur und lächelte etwas nervös. Ich kannte natürlich nicht alle meiner Kollegen, einen Großteil hatte ich bisher erst ein, zweimal gesehen.
„Kevin Hoffmann, mein Name“, meinte er dann und gab mir die Hand. Ich sagte ihm meinen Namen und erfuhr, dass er die Klasse weiterhin in Mathematik unterrichtete und mir wohl keine größeren Probleme bevorstanden.
Ich fand ihn sympathisch, auch wenn er ein wenig viel redete, aber so hatte ich wenigstens einen direkten Ansprechpartner, wenn es um meine Klasse ging. Es war ein gutes Gefühl, dass man mich hier derart freundlich aufnahm. Schon wenig später klingelte es zum ersten Mal und der Großteil der Anwesenden kam in Aufbruchsstimmung. Nervös nahm ich meine Tasche, steckte den Zettel mit dem Stundenplan ein und folgte Mrs. Arnolds dann aus dem Zimmer. Sie erklärte mir noch, wo mein Klassenzimmer war, wünschte mir viel Glück und überließ mich meinem Schicksal. Ich atmete tief durch, bevor ich meine Hand auf die Türklinke legte und langsam die Tür öffnete. Die Klasse beruhigte sich von ganz allein, als ich ins Zimmer kam, aber immerhin waren diese Jugendlichen ja auch schon größtenteils 15, 16 Jahre alt.
„Guten Morgen! Mein Name ist Mr. Courten und ich bin wohl scheinbar dieses Jahr euer Klassenlehrer“, erklärte ich, stellte meine Tasche auf den Tisch und ließ meinen Blick über die Klasse schweifen. 25 Schüler, elf Mädchen und vierzehn Jungs. Auf den ersten Blick sahen sie nett aus, bereit mich als ihren Lehrer zu akzeptieren. Das Lächeln auf den meisten der Gesichter nahm mir meine Nervosität und ich begann ein wenig über mich zu erzählen und über das, was wir in diesem Jahr vor uns hatten. Nach etwa zehn Minuten öffnete sich dann plötzlich die Zimmertür. Ich beendete meinen Satz und blickte den Jungen, der gerade eingetreten war, einige Momente an.
„Und wer bist du?“
Kapitel 3 – David
„Fein, David!“ Mr. Courten lächelte noch immer. „Wenn du mir schon einmal großzügigerweise deinen Namen verrätst, sagst du mir dann auch, wieso du über zehn Minuten zu spät bist? Du gehörst doch in diese Klasse, oder?“
Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe, meine Verachtung zu verstecken, sondern verdrehte die Augen. „Verpennt. Was dagegen?“
„Ich gewiss nicht“, erwiderte Mr. Courten sogleich, noch immer mit dieser ruhigen Stimme, die mich so langsam aber sicher auf die Palme brachte. „Aber ich denke, die Schulleitung wird es nicht besonders schön finden, wenn du gleich am ersten Tag zu spät bist. Setz dich jetzt bitte auf einen freien Platz!“
Ich grummelte etwas Unverständliches vor mich hin und folgte der Aufforderung widerwillig. Einige meiner Mitschüler schüttelten den Kopf, als ich an ihnen vorbeilief und mich auf einen leeren Platz in die letzte Reihe setzte, fernab von den anderen. Ziemlich trotzig warf ich meine Tasche auf den Stuhl neben mir und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
Mr. Courten warf mir noch einmal einen Blick zu, bevor er sich wieder der übrigen Klasse zuwandte und irgendetwas über Kalifornien erzählte.
Ich machte mir nicht die Mühe ihm zuzuhören. Die Tatsache, dass dieser Lehrer für den Rest des Schuljahres mein neuer Klassenlehrer sein würde, verdarb mir jegliches Interesse an seiner Unterrichtsstunde. Mag sein, dass er nett war, aber für mich war er eine Spur zu freundlich. Es wirkte fast so, als wollte er für seine Schüler mehr als nur eine Autoritätsperson darstellen. Und solche Lehrer, die glaubten, für ihre Schüler eine Art Kumpel zu werden, konnte ich am allerwenigsten ausstehen. Lehrer waren dazu da uns etwas beizubringen. Freundlichkeiten und Spaß sollten vom Unterricht getrennt werden. So war zumindest meine Meinung.
Dieser Mr. Courten schien meine Ansicht jedoch in keiner Weise zu vertreten. Klar, sicherlich dachte er von sich selbst, dass er noch jung und dynamisch war, dass seine Schulzeit selbst noch nicht lange her war und dass er sich gut in uns Schüler hineinversetzen konnte. Aber ob das auch wirklich so war?
Seufzend lehnte ich mich zurück, während Mr. Courten durch die Reihen lief und die Englischbücher für dieses Jahr austeilte. Als er bei mir angekommen war, sah er mich wieder mit diesem Blick an, den ich nicht deuten konnte. Scheinbar verwunderte ihn mein Auftreten und meine gesamte Erscheinungsart.
Ich dachte schon, er würde zu mir etwas sagen wollen, doch dann übergab er mir nur schweigend ein Buch und schritt wieder nach vorne zur Tafel.
„Schreibt bitte eure Namen in die Bücher und hört mir wieder zu!“ sagte er und setzte sich auf den Stuhl hinter seinem Pult. „Wir werden uns dieses Jahr nicht mehr mit Grammatik und Rechtschreibung befassen, so wie ihr das letztes Jahr getan habt. Wir werden uns jetzt hauptsächlich mit Aufsätzen die Zeit vertreiben. Wir haben mehrere Arten zu bearbeiten. Einmal ist das eine literarische Charakteristik, eine Erörterung und ein Protokoll.“
Er lächelte aufmunternd in die Klasse, nachdem einige Schüler ihre Gesichter verzogen hatten. „Keine Sorge, wir werden langsam an die neuen Sachen herangehen. Zuerst werden wir einige Übungsaufsätze schreiben, die noch nichts mit diesen hochtrabenden Themen zu tun haben werden. Einfach mal, um fit im Schreiben zu werden.“
Ich seufzte leise. Na, das konnte ja heiter werden. Im Schreiben war ich noch nie gut gewesen. Ich hasste es regelrecht, da durch das Aufschreiben meiner Sätze immer ein Stück meiner Gefühle, die ich hegte, deutlich wurde. Diesem Mr. Courten wollte ich jedoch keinesfalls auch nur eine einzige Gefühlsregung von mir offenbaren, da war ich mir bereits jetzt sicher.
Während er weiterquasselte, verbarrikadierte ich mich hinter meinem aufgeschlagenen Buch und tat so, als würde ich darin etwas lesen. In Wirklichkeit jedoch fixierte ich unseren Lehrer genau, verfolgte jede kleine Bewegung von ihm und jede Reaktion auf Fragen von Schülern. Ich konnte ein wenig Nervosität in seinen Augen erkennen. Vielleicht war dies hier seine erste Klasse, die er unterrichten musste. Wer weiß.
Eigentlich musste ich zugeben, dass Mr. Courten ganz gut aussah. Er war nicht einer dieser typischen Lehrer, die verbittert wirkten und unzufrieden mit sich selbst waren. Von dieser Art gab es genügend auf der Schule. Aber er schien genau das Gegenteil zu sein. Er hatte ein sympathisches Lächeln, ein gepflegtes Aussehen, schwarze, kurze Haare, braune Augen und eine schlanke Figur. Der typische Lehrer, der die Herzen der Schülerinnen höher schlagen ließ. Und als ich mich ein wenig in der Klasse umsah, musste ich mir Recht geben. Einige der Mädchen hatten einen verliebten Blick aufgesetzt und lächelten ihn voller Achtung an, wurden ein wenig rot, wenn sie beachtet wurden und wandten dann peinlich berührt das Gesicht von ihm ab, aber nur um mit der Banknachbarin aufgeregt und leise loszukichern.
War das alles albern!
Sogar die Jungs passten bei Mr. Courten auf und stellten ihre Schwätzphase oder ihre Lacher ein, um ihm gespannt zuzuhören.
Hatten denn plötzlich alle den Verstand verloren? War ich hier etwa der Einzige, dem dieser Lehrer missfiel?
Es konnte doch nicht wahr sein, dass keiner sonst hinter diese scheinheilige Fassade blickte und einfach nur einen normalen Lehrer mit einer Überdosis an Freundlichkeit sah. Oder tat ich Mr. Courten Unrecht? War er vielleicht wirklich so wunderbar, wie alle hier dachten?
In Gedanken schüttelte ich den Kopf. Quatsch, David! Lass dir bloß nichts von den anderen einreden. Dieser Lehrer ist einfach nur ein Vollidiot.
Sieh ihn dir doch an! Kaum merkt er, dass ihm alle wohlgesonnen sind, schon wiegt er sich in Sicherheit und lässt den guten Kumpel raushängen.
Wie sehr mich das doch ankotzt! Solche Typen hatten sicherlich keine Ahnung von dem wirklich harten Leben, das ich gerade durchlief. Nein, wie könnten sie auch? Dieser Mr. Courten hatte sicherlich ein total behütetes Leben hinter sich, war in einer Familie aufgewachsen, die ihm den nötigen Halt gab, seine Wünsche und Ziele zu verwirklichen und die immer für ihn da war. Und jetzt waren sie sicherlich stolz auf ihn. Der hatte sicherlich keinen Vater, der schon am Morgen betrunken war und der einem die ganze Zeit sagte, wie schrecklich er doch seinen Sohn fand.
Ich musste schlucken bei diesem Gedanken und unweigerlich kam ich auf ein anderes Thema. Was würde ich heute nach der Schule machen? Nach Hause gehen? Auf der Straße herumlungern? Oder mit meinen neuen Freunden losziehen um wieder ein paar krumme Dinge zu drehen? Alle drei Möglichkeiten erwiesen sich als eine Qual und meine Laune sank noch weiter, falls das überhaupt noch möglich war. Was sollte ich bloß tun? Lange würde ich dieses beschissene Leben nicht mehr aushalten. Es sollte endlich etwas geschehen, was mich wieder aus diesem Loch herausholen würde. Nur was könnte das sein?
Dass mein Vater jemals wieder aufhören würde zu trinken, wagte ich zu bezweifeln, und dass meine Freunde sich plötzlich an dem Gesetz orientierten und nicht mehr auf den Listen der Polizei zu finden waren, war auch äußerst unwahrscheinlich.
Also, was sollte das bitte sein? Was würde mein Leben wieder in eine richtige Bahn rücken? Was bloß?
Ich verzweifelte beinahe an dieser Frage, sodass ich gar nicht merkte, wie die gesamte Aufmerksamkeit plötzlich auf mich gerichtet war.
Erst ein Räuspern holte mich in die Realität zurück und ich schreckte auf.
Ich blickte zu Mr. Courten, der aufgestanden war und mich fragend ansah. „David? Ich habe dir eine Frage gestellt. Würdest du sie bitte beantworten?“
„W…was denn für eine Frage?“ murmelte ich, sichtlich durcheinander.
Ein paar Schülerinnen fingen wieder an zu kichern, was ich zu ignorieren versuchte.
Mr. Courten seufzte. „Ich habe dich gefragt, was dir der Begriff ‚literarische Charakteristik’ sagt! Kannst du dir unter dieser Aufsatzart etwas vorstellen?“
Ich schenkte ihm sofort einen grimmigen Blick, weil er mich aus meinen Gedanken gerissen hatte, und zuckte mit den Schultern. „Fragen Sie doch jemand anderen! Sie wissen ganz genau, dass ich keine Ahnung von Ihrem Schrott habe.“
Für einen Moment war ich selbst überrascht von meiner überheblichen Ausdrucksweise und etwas verunsichert, ob ich nicht doch zu weit gegangen war, aber Mr. Courten zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, sondern rief jemand anderen auf.
Zwei Minuten später klingelte es zur nächsten Stunde. Erleichtert, diesen Lehrer für den restlichen Tag nicht mehr sehen zu müssen, stand ich auf und machte mich wie die anderen auf den Weg in den Chemiesaal.
Doch als ich als Letzter an Mr. Courtens Pult vorbeilief, wurde ich von ihm zurückgerufen.
„David? Könnte ich mal mit dir reden?“
Kapitel 4 – Andy
Ich wusste nicht recht, was ich von diesem Jungen halten sollte. Natürlich wollte ich ihn nicht deshalb abwerten, weil er zu spät gekommen war, ich war schließlich als Jugendlicher ein Vorbild für jeden Amateur-zu-spät-Kommer gewesen. Zu verschlafen war nichts, woran man meines Erachtens nach jemanden festmachen konnte, aber seine Art auf mich zu reagieren war verwunderlich.
An meiner alten Schule hatten sich eigentlich alle Schüler recht gut mit mir verstanden, und ich hatte mehr als nur einmal gehört, dass es den Unterricht interessanter machte, dass ich nicht der typische, verbitterte Lehrer sein wollte. Doch mir kam es so vor, als störte diesen David genau das an mir. Während ich noch ein wenig Smalltalk führte um die Klasse etwas besser kennen zu lernen, saß er die ganze Zeit nur mit verschränkten Armen da und starrte vor sich hin.
Immer mal wieder bemerkte ich, dass er die ein oder andere seiner Mitschülerinnen ansah, nahezu anstarrte, und genau diese Mädchen blickten mich doch sehr offensichtlich ergeben lächelnd an. Scheinbar störte es David also, dass der Rest seiner Klasse mich als Lehrer akzeptierte? Es kam mir fast so vor. Als ich die Bücher austeilte, überlegte ich einen Moment, ob ich ihm nicht vorschlagen wollte, sich weiter nach vorne zu setzen, immerhin waren weiter vorne ja auch Plätze frei. Allerdings überlegte ich es mir doch recht schnell wieder anders, schließlich war er mindestens 15 Jahre alt, und dieses Umsetzen hätte doch eher in eine zweite oder dritte Klasse gepasst.
Davon abgesehen gefiel mir diese Klasse definitiv! Es war schön wieder zu unterrichten, und dass diese Jugendlichen mich größtenteils akzeptierten, machte das Ganze angenehm. Ich hatte mir schon als Schüler immer diese eingeschweißte Klassen-Lehrer-Gemeinschaft vorgestellt und gewünscht, allerdings hatten das meine Lehrer nie so toll gefunden. Wenn diese Schüler so interessiert blieben, war ich bereit für sie dieser Kumpel-Lehrer zu bleiben. Es machte Spaß Lehrer zu sein, wenn sie mich nicht ablehnten.
„Nun, als erstes fangen wir dieses Jahr mit der literarischen Charakteristik an. Sicherlich für die meisten von euch schon einmal ein abschreckender Begriff. Was wisst ihr denn bisher über diese Aufsatzgattung?“ fragte ich nach einiger Zeit Erklärungen über den diesjährigen Stoff und blickte mich um.
Der ein oder andere sah fragend zu seinem Banknachbarn, der Großteil der Klasse sah mich nur ratlos an. Bis auf David. Der blickte starr scheinbar auf sein Englischbuch, erweckte für mich aber eigentlich mehr den Eindruck, als wäre er mit seinen Gedanken sehr weit weg, und so tat ich genau das, was ich als Schüler immer verabscheut hatte.
„David? Ideen?“ sprach ich ihn an und lehnte mich währenddessen mit verschränkten Armen gegen das Pult. Anstatt zu antworten oder mich wenigstens anzusehen blieb sein Blick auf das Buch gerichtet. Ich räusperte mich und sah, wie sich die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse auf ihn richtete.
„David?“ wiederholte ich deshalb also und er kehrte endlich aus seinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. „Ich habe dir eine Frage gestellt. Würdest du sie bitte beantworten?“
Nachdem ich ihm natürlich mit einem Seufzen meine Frage wiederholt hatte, meckerte er nur, weshalb ich ihn aufgerufen hatte, ich würde doch wissen, dass er davon keine Ahnung hatte. Selbstverständlich hatte ich das nicht gewusst und war auch überzeugt, dass er meine Frage mit etwas Überlegen hätte beantworten können, rief aber trotzdem, ohne seine überhebliche Antwort zu kommentieren, ein Mädchen in der zweiten Reihe auf.
„Entschuldige, wie heißt du?“ fragte ich sie mit einem Lächeln, das ich mir an meiner vorherigen Schule für nette, kleine Mädchen antrainiert hatte und ließ mir dann von Nicole meine Frage beantworten.
Wenig später war die Stunde auch schon zu Ende und ich verabschiedete mich von der Klasse. Ich trat hinter mein Pult, packte meine Mappe in meine Tasche und hob für einen Moment meinen Blick. David hob gerade seine Tasche auf und ging, ohne sich mit irgendeinem der anderen zu unterhalten, zur Tür.
„David? Könnte ich mal mit dir reden?“ fragte ich ihn, noch bevor ich recht realisiert hatte, dass ich überhaupt meinen Mund aufgemacht hatte. Ich hatte es mir schon seit längerer Zeit angewöhnt, Schüler nicht vor der gesamten Klasse auf ihr Verhalten oder Ähnliches anzusprechen, denn genau das hatte ich früher immer gehasst. Doch David nun schon nach der ersten Stunde anzusprechen hatte ich eigentlich nicht geplant gehabt, allerdings war mein Mund manchmal schneller als mein Kopf.
Auf meinen Satz hin hörte ich ein paar der anderen Schüler kichern und der von mir Angesprochene verdrehte nur sichtbar die Augen und ging einige Schritte zurück zum Pult. Ich sah zur Tür, bis der Rest der Klasse draußen war und merkte, dass ich nervös wurde. Einzelgespräche waren definitiv für Schüler und Lehrer ziemlich unangenehm, aber noch immer besser, als wenn ich ihn vor der Klasse heruntergeputzt hätte, weil er derartig auf meine Frage geantwortet hatte.
„In Ordnung, David“, fing ich an zu sprechen. „Du weißt, denke ich selber, dass deine Antwort vorhin wirklich nicht Okay war. Vielleicht hast du nur einen schlechten Tag, ich weiß es nicht. Ich bin neu hier an der Schule, wie du weißt, und ich denke nicht, dass du dir so schnell ein Urteil über mich bilden konntest, was wirklich der Wahrheit entspricht. Ich will euch den Unterricht so angenehm wie möglich machen und dafür finde ich es definitiv nicht vorteilhaft, wenn du solche Antworten gibst. Du musst nicht mein Freund sein, aber wie du gemerkt hast, kommt der Rest der Klasse recht gut mit mir aus, deshalb wäre es ihnen gegenüber doch sicher ziemlich unfair, wenn ich wegen dir hier andere Seiten aufziehe, oder?“
Solche Predigten waren eindeutig nicht meine Stärke, ich fühlte mich ziemlich idiotisch dabei, doch noch einen auf Oberlehrer zu machen.
„Der Rest der Klasse ist mir scheißegal“, entgegnete David nur und blickte mir nur für einen ganz kurzen Moment in die Augen. „Kann ich jetzt gehen? Ich hab Unterricht.“
Noch bevor ich ja oder nein sagen konnte, hatte er sich umgedreht und ging zur Tür.
„David!“ hielt ich ihn auf. „Ich will für euch keinen verbitterten Oberlehrer spielen, aber ich hab keine Lust darauf, mir von einem von euch so etwas sagen zu lassen. In deinem Interesse, mäßige dich lieber!“
Ich hörte, dass er lautstark einatmete und die Luft anhielt. Und dann, ohne sich noch einmal umzudrehen oder irgendetwas zu sagen, ging er einfach. Völlig perplex starrte ich auf die Tür und sah, wie sie langsam ins Schloss fiel.
Was war das gerade gewesen? Was bitte hatte ich diesem Jungen getan, dass er derart unfreundlich reagierte? Selbst wenn es ihm gegen den Strich ging, dass ich meinen Unterricht lieber auf Freundschaftsbasis hielt, gab ihm das noch lange nicht das Recht, so mit mir zu reden! Ich war noch immer sein Lehrer und solche Antworten, dass es ihm scheißegal wäre, was mit dem Rest seiner Klasse wäre, waren ganz sicher nicht in Ordnung! Ich begann ein klein wenig wütend zu werden, denn so wollte ich nicht mit mir umspringen lassen. Ich fand es schon von anderen Leuten schrecklich, wenn sie mich einfach vor einer geschlossenen Tür stehen ließen, aber von einem Schüler würde ich mir das definitiv nicht bieten lassen, erst recht nicht am ersten Tag!
Ich machte mich auf den Weg ins Lehrerzimmer, schließlich hatte ich die nächste Stunde frei und ließ mich dort auf meinen Platz sinken. Im Großen und Ganzen hatte mein Neuanfang doch recht gut begonnen, allerdings dämpfte die Begegnung mit David meine Euphorie erst einmal ziemlich. Hoffmann hatte doch gemeint, ich würde mit der Klasse keine Probleme bekommen? Warum hatte er dann einen Jungen wie David nicht erwähnt? Der war doch sehr wohl so was wie ein Problem!
„Na, die erste Stunde überstanden?“ hörte ich wenig später auch schon die Stimme meines Kollegen und nickte etwas gequält grinsend.
„Wie gesagt, die Klasse ist harmlos, da dürfte es keine Komplikationen gegeben haben, nicht?“ redete er sofort weiter und setzte sich auf seinen Platz neben mich.
„Naja, insgesamt wirklich nicht. Was halten Sie von David?“ fragte ich ihn daraufhin gleich, ohne viel darüber nachzudenken.
„David Portian? Einer der harmlosesten dieser Klasse! In den letzten Wochen vor den Ferien war er ein wenig still, aber sonst ist er ein netter Junge“, antwortete Hoffmann und ich zog meine Stirn kraus.
Er bezeichnete David als harmlos? Er war vor den Ferien still gewesen? Gab es zufälligerweise zwei David Portian in dieser Klasse und ich hatte es nicht bemerkt?
Kapitel 5 – David
Was bildete sich dieser Lehrer eigentlich ein?
Mit verschränkten Armen und einem Blick auf den Boden hörte ich mir seine Standpauke mehr oder weniger gequält an und hoffte einfach nur, dass er mich endlich in Ruhe lassen würde.
Natürlich, ich hatte es doch gleich vermutet! Mr. Courten war genauso, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Einer dieser typischen jungen Lehrer, die einen auf Kumpel machen wollten, um bei den Schülern beliebter zu sein. Wahrscheinlich fand er es grandios von diesen ganzen pubertären Mädchen angehimmelt zu werden und bildete sich mächtig etwas darauf ein. So kam er mir zumindest vor, während er mir einzutrichtern versuchte, dass ich mich zum Wohl der Klasse besser anpassen sollte.
Ich hatte keinerlei Lust auf derartige Gespräche und schon gar nicht mit diesem Lehrer, also sah ich ihn nur unbeteiligt an. „Kann ich jetzt gehen? Ich habe Unterricht.“
Ich wollte mich schon um einen würdevollen Abgang bemühen, doch da hielt er mich noch einmal zurück.
„Ich will für euch keinen verbitterten Oberlehrer spielen, aber ich hab keine Lust darauf, mir von einem von euch so etwas sagen zu lassen. In deinem Interesse, mäßige dich lieber!“
Ich spürte, wie mir bei seinen Worten ein wenig Wut aufstieg. Ich hasste es, wenn man mir etwas vorschrieb. Dieser Lehrer hatte doch keine Ahnung! Wusste der vielleicht, wie es in mir aussah? Wohl kaum.
Ich konnte von Glück reden, dass er neu an dieser Schule war und nicht mein früheres Ich kannte. Ansonsten wäre es sicherlich peinlich für mich geworden, denn mittlerweile verabscheute ich den alten, liebevollen und braven David Portian regelrecht. Ich wollte nicht mehr daran erinnert werden, was ich einst war. Diese heile Welt, in der ich gelebt hatte, gab es nicht mehr; ebensowenig wollte ich es für mein Umfeld so aussehen lassen, als würde mir das gesamte Unheil, das über mich hereingebrochen war, nichts ausmachen. Sollten sie doch alle sehen, wie grausam man mir all mein Glück und meine Geborgenheit genommen hatte und wie einsam ich mich fühlte mit einem besoffenen Vater an meiner Seite, der nicht einmal mehr zu wissen schien, dass er mich einst geliebt hatte.
Wütend und schrecklich traurig darüber, ließ ich von Mr. Courtens Pult ab und lief mit gesenktem Kopf zur Türe, öffnete diese und verschwand auf dem Flur.
Er hatte keine Ahnung! Absolut keine Ahnung!
Ich fühlte, wie aufgewühlt ich war und dass eine weitere Unterrichtsstunde, in der ich still sitzen musste, schier unmöglich erschien. Und da Chemie sowieso nicht gerade mein Lieblingsfach war, beschloss ich mich erst einmal kurz zurückzuziehen.
Als ich mich erneut auf den Toiletten verkroch, musste ich müde lächeln. Schon seltsam, wie sehr man sich verändern konnte. Letztes Jahr noch hätte ich es mir nie getraut, einfach mal eine Stunde oder sogar einen gesamten Tag zu schwänzen. Jetzt war dies aber anscheinend der beste Ausweg, um all diesen Idioten zu entkommen.
Ich öffnete das Toilettenfenster und zündete mir eine weitere Zigarette an, in die ich all meine Hoffnung auf ein wenig Beruhigung legte. Schließlich hatte ich nach Chemie noch weitere zwei Stunden Schule vor mir, die keinesfalls Linderung versprachen. Sogar mein früheres Lieblingsfach konnte mich nicht mehr aufheitern, als ich auf den neuen Stundenplan sah und dort das Fach „Kunst“ für den heutigen Tag erblickte.
„Was hast du nur aus mir gemacht, Dad?“ murmelte ich vor mich hin, während ich einen weiteren tiefen Zug meiner Zigarette machte.
Gedankenverloren spielte ich an meinem Nietenhalsband herum und befühlte die spitzen Stacheln. Könnte ich doch nur wirklich so stark sein, wie ich das vortäuschte. Wäre ich doch wirklich so charakterstark und trotzig, wie ich das Mr. Courten heute eindrucksvoll beweisen wollte. Es würde mir einige Sorgen ersparen.
Nach einer Weile, in der ich müde von all dem aus dem Fenster gestarrt hatte, klingelte es zur ersten Pause. Ich war verwundert. Hatte ich tatsächlich die gesamte Stunde geschwänzt?
Na, umso besser. Ein weiterer Anschiss würde mir auf diese Weise sicherlich erspart bleiben.
Froh darüber schnappte ich mir meine Tasche und öffnete die Toilettentüre. In einiger Entfernung sah ich ein paar Schüler aus den Klassenzimmern stürmen, und auch meine Klasse machte sich auf den Weg in den Hof.
Ich lehnte mich gegen die Wand und seufzte tief. Würde das gesamte Schuljahr so ablaufen? Wenn ja, wollte ich mich lieber gleich umbringen. Einen Sinn schien es in meinem Leben sowieso nicht mehr zu geben.
Ich schreckte hoch, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
Als ich mich umdrehte, sah ich mit einem Male in die Augen von Mr. Tailor, unserem Chemielehrer. Na große Klasse! Das hatte mir gerade noch gefehlt.
„David, dürfte ich vielleicht erfahren, wieso du in meiner Unterrichtsstunde abwesend warst?“ Seine Stimme klang ein wenig spitz, jedoch auch besorgt.
Ich schluckte schwer. Was sollte ich jetzt antworten? Sollte ich die Wahrheit sagen? Dass ich einfach keine Lust auf Chemie gehabt hatte? Aber Mr. Tailor war nicht so ein Lehrer, bei dem ich vorlaut sein könnte. Er war nicht wie Mr. Courten, bei dem es sicherlich kein Problem war, unangenehm aufzufallen. Mr. Tailor kannte mich schon, und zwar als netten Schüler. Immerhin hatte ich ihn schon zwei Schuljahre lang in Chemie gehabt.
„Mir…mir ging es nicht gut!“ stammelte ich also als Ausrede hervor. „Ich wollte nicht Ihren Chemiesaal voll kotzen.“
Scheinbar war meine Ausdruckweise nicht die, die Mr. Tailor hören wollte, denn er zog eine Augenbraue hoch. „David, du weißt, dass du dich vorher bei mir melden musst, wenn du in meiner Stunde fehlst. Du kannst nicht einfach abhauen.“
„Aber wenn es mir doch schlecht war“, erwiderte ich grummelnd.
Wieder wurde ich kritisch gemustert. „Dir war also schlecht? David, in Ausreden warst du aber auch schon mal besser. Oder rauchst du immer, wenn es dir ‚zum Kotzen’ ist?“
Ich war schon verwundert, woher er denn das nur wissen konnte, doch dann verriet es mir seine gerümpfte Nase. Sicherlich roch ich noch nach dem Zigarettenqualm.
„Dir ist klar“, sprach Mr. Tailor weiter, „dass ich dich leider ins Klassenbuch eintragen musste. Außerdem werde ich mit deinem neuen Klassenlehrer ein Wörtchen wechseln müssen, denn du weißt, wie ich zu Schülern stehe, die schwänzen.“
Ich biss mir verärgert auf die Unterlippe und senkte den Blick.
Ganz toll, jetzt redete der auch noch mit meinem reizenden Lehrer Mr. Courten! Blieb mir eigentlich irgendetwas an diesem grauenvollen Morgen erspart?
Scheinbar nicht.
Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben.
Mr. Tailor wollte schon weitergehen, doch dann sah er mich noch einmal seufzend an. „Was ist los mit dir, David? Hast du irgendwelche Probleme?“
Innerlich lachte ich auf. Probleme? Wie kam der denn auf so eine abwegige Idee? Wie könnte ich denn Probleme haben?
‚Ja, du Trottel! Und du wirst auch gleich ein Problem haben, wenn du mir noch mal so eine idiotische Frage stellst!’ dachte ich wütend.
Ich erwiderte jedoch nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern.
„Ich meine, ich kenne dich schon lange, David“, ergriff er wieder das Wort. „Und du warst immer ein lieber Junge. Du hast dich schon am Ende des vergangenen Schuljahres zurückgezogen und ich habe den Eindruck, dass…“
„Hören Sie!“ fiel ich ihm schließlich ins Wort. „Es ist alles in Ordnung mit mir. Dass ich Ihren Unterricht geschwänzt habe, streite ich ja schon gar nicht mehr ab, also geben Sie mir bitte eine Strafarbeit und die Sache ist gegessen!“
Mr. Tailor sah mich eine Zeit lang an und schüttelte dann den Kopf. „Ich verteile ungern am ersten Schultag Strafarbeiten, aber mit deinem Klassenlehrer werde ich wohl oder übel reden müssen. Ich werde ihm von meinen Vermutungen, dass du sicherlich ein paar Probleme hast, erzählen und dann werden wir drei gemeinsam eine Lösung finden, okay?“
Noch bevor ich etwas hätte widersprechen können, nickte mir Mr. Tailor zu und dampfte ab.
Ich stand da wie ein begossener Pudel und ärgerte mich maßlos.
Jetzt erfuhr Mr. Courten also doch von dem alten David, den ich so sehr hasste.
Ganz super!
Kapitel 6 – Andy
„Sie sind Mr. Courten?“ schreckte mich eine Stimme gegen Ende der ersten Pause aus meinen Gedanken. Ich plante gerade noch etwas an meiner nächsten Unterrichtsstunde in einer fünften Klasse herum und war mit meinen Gedanken alles andere als im Hier und Jetzt. Eine schreckliche Angewohnheit.
„Natürlich!“ antwortete ich meinem Gegenüber. „Der bin ich.“
„Sie sind der diesjährige Klassenlehrer der 10b?“ fragte der etwas ergraute, aber sonst noch relativ fit aussehende Kollege, und ich antwortete mit einem Nicken. Hatte er etwa Probleme mit meiner Klasse?
„Tailor mein Name“, stellte er sich dann erst vor und reichte mir seine Hand. „Ich habe die Klasse schon einige Zeit lang im Chemieunterricht. Haben Sie in der nächsten Stunde Unterricht, oder wäre es möglich, dass wir uns kurz unterhalten könnten?“
„Ich habe die nächsten beiden Stunden Unterricht“, antwortete ich mit einem bedauernden Schulterzucken und Mr. Tailor nahm sein Notizbuch aus seiner Hosentasche.
„Haben Sie in der Mittagspause Zeit? Es wäre recht dringend“, meinte er dann, und ich nickte wieder.
„In Ordnung, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen“, sprach er, steckte sein Buch wieder weg und lächelte etwas.
„Darf ich vielleicht vorher erfahren worum es geht? Gibt es Probleme mit der Klasse?“ wollte ich wissen, doch er schüttelte nur den Kopf und gab dann eine erschütternde Antwort.
„Nein, es geht um David Portian, einen ihrer Schüler.“
Die fünfte war eine niedliche Klasse. Die Kinder waren völlig verschüchtert und hatten schreckliche Angst davor, auch nur ein Wort zu einem Banknachbarn zu sagen, scheinbar hatte man ihnen nämlich gleich mit irgendwelchen grausamen Strafen gedroht. Ich versuchte die Kleinen ein wenig auftauen zu lassen, ohne dass gleich eins der Kinder zu heulen begann und setzte mich dann tief durchatmend auf meinen Stuhl hinter dem Pult, nachdem die Kleinen sich darangemacht hatten, den typischen Kurzaufsatz zum Thema „Mein schönstes Ferienerlebnis“ zu schreiben.
Meine Gedanken waren leider nicht bei dem Unterricht, den ich für die Klasse geplant hatte. Die Bitte von Mr. Tailor mit mir über David zu reden verwunderte mich. Kevin, so hatte Mr. Hoffmann mich gebeten ihn zu nennen, hatte gemeint, David wäre ein kleiner Engel. Er kannte ihn wohl schon seit er auf die Schule gekommen war und war fest davon überzeugt, dass er solche vorlauten Bemerkungen nie einem Lehrer gegenüber machen würde. Allerdings hatte ich da eine ganz andere Meinung und sein Chemielehrer schien diese Meinung vielleicht zu teilen. Ich war gespannt, was er mir in der Mittagspause erzählen würde, allerdings war ich auch etwas missmutig, immerhin war das hier doch mein allererster Tag und da taten sich schon solche Probleme auf?
„Mr. Courten? Ich bin fertig“, murmelte plötzlich ein kleines Mädchen neben mir und ich schrak wiederum aus meinen Gedanken auf.
„Na, dann zeig doch deinen Aufsatz mal her!“ forderte ich sie lächelnd auf. „Wenn die anderen fertig sind und du das magst, lese ich deinen Aufsatz vor, in Ordnung?“
Das Mädchen strahlte über beide Ohren und hüpfte zu ihrem Platz zurück.
„Kommen Sie am besten mit, wir gehen in ein Besprechungszimmer“, meinte Mr. Tailor, als ich eine Stunde später ins Lehrerzimmer trat. Ich nickte und folgte ihm zu einem der Räume auf der anderen Seite des Ganges.
„Bevor ich anfange, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne auf die Mr. Anrede verzichten, mein Name ist Anthony“, sprach er, während er sich setzte und ich nickte wieder, nannte meinen Vornamen. Mittlerweile war ich wirklich sehr gespannt, was er mir über David sagen wollte.
„Nun, Andrew, dass es um David Portian geht, habe ich ja schon erwähnt“, begann er. „Ich habe ihn nun schon das dritte Jahr lang in einer Chemieklasse und habe ihn in den letzten beiden Jahren eigentlich als einen ruhigen, ehrgeizigen und guten Schüler kennen gelernt.“ Langsam begann das definitiv seltsam zu werden, was war mit dem Jungen los, dass ich ihn ganz anders kennen gelernt hatte, als all seine anderen Lehrer?
„Er hat heute, als ich die Klasse in der zweiten Stunde unterrichtet habe, gefehlt und seine Klassenkameraden meinten, er wäre in der ersten Stunde – wenn auch zu spät – anwesend gewesen. Ich habe ihn in der Pause gefunden und ihn darauf angesprochen, scheinbar hat er die Stunde, wo auch immer, mit Rauchen verbracht. Er hat recht ruppig auf meine Fragen reagiert, weshalb er sich so verhielt“, erzählte er und dieser David, den er gerade beschrieb, kam mir schon sehr viel bekannter vor.
„Ich habe ihn darauf angesprochen, ob er vielleicht Probleme hätte, immerhin war es mir schon vor den Ferien aufgefallen, dass er innerhalb sehr kurzer Zeit plötzlich völlig still und zurückgezogen geworden war. Natürlich hat er auf meine Frage hin gesagt, dass mit ihm alles in Ordnung wäre, aber sein Verhalten spricht eine ganz andere Sprache. Wissen Sie, Andrew, ich dachte mir vor den Ferien, dass er sich nach diesen Wochen sicher wieder normal verhalten würde, aber ich finde es sehr besorgniserregend, dass er nun von dieser Zurückgezogenheit auf Aggressivität umgesprungen ist. Natürlich kennen Sie ihn noch viel weniger als ich, aber Sie sind sein Klassenlehrer und ich würde Sie darum bitten, ob Sie nicht vielleicht mit ihm reden könnten. Vielleicht wollte David gerade deshalb nicht mit mir sprechen, weil ich ihn schon lange kenne?“
Ich schwieg. Die Sorge, die diesem Mann ins Gesicht geschrieben stand, ließ mich meine Empörung über Davids Verhalten nahezu vergessen. Ein Mann, der ihn schon mehrere Jahre lang kannte, war derart besorgt um ihn und ich musste zugeben, sein Verhalten sprach in gewisser Weise für Kompensation anderer Probleme durch Aggressivität. Hatte dieser Junge, der mir eigentlich auf den ersten Moment hin relativ verwunderlich erschienen war, vielleicht ernste Probleme?
„Ich habe ihn angesprochen, nachdem er bei mir im Unterricht unkonzentriert und vor allem sehr vorlaut gewesen war. Allerdings schien er mir gar nicht recht zuzuhören und sagte nur, er würde Unterricht haben, und ging einfach aus dem Zimmer. Scheinbar kommt David mit mir als Lehrer nicht sehr gut zurecht“, äußerte ich meine Bedenken und Anthony blickte mich nachdenklich an.
„Ich denke trotzdem, dass es das Beste wäre, Sie sprechen mit ihm. Vielleicht nicht direkt heute, oder morgen. Doch solang sich sein Verhalten nicht in naher Zukunft ändert, sollten Sie etwas unternehmen, vielleicht braucht David wirklich Hilfe“, meinte er dann und ich nickte.
„Haben Sie schon einmal mit seinen Eltern Kontakt gehabt?“ fragte ich nach kurzem Überlegen.
„David ist Halbwaise. Seine Mutter ist früh gestorben. Sein Vater war bis letztes Jahr bei fast allen schulischen Veranstaltungen, war auch regelmäßig bei Elternabenden dabei. Ich habe ihn eigentlich als sehr fürsorglich in Erinnerung“, antwortete Anthony. „Anfang nächste Woche ist in der 10. Jahrgangsstufe doch ein Elternabend, oder nicht? Vielleicht könnten Sie vorher noch mit David sprechen, und falls dabei nichts herauskommt, laden wir seinen Vater gesondert zum Elternabend und Sie sprechen dort mit ihm?“
Ich zögerte einen Moment. Sofort mit den Eltern zu sprechen hielt ich für keine gute Idee, was blieb uns allerdings anderes übrig? Wenn David nicht sprechen wollte, dann mussten wir uns notfalls eben anderweitig Informationen holen, notfalls eben sogar über seinen Vater. Ich bemerkte, dass meine anfängliche Wut und Empörung über den Jungen dahinschwand. Ich begann mir ebenfalls Sorgen zu machen. Immerhin war sein Verhalten von diesem Standpunkt aus betrachtet wirklich besorgniserregend. Wenn Jugendliche derart frech waren und nicht einmal Respekt vor Lehrern zeigten, hatte das meist seine Gründe. Und oftmals waren das keine positiven.
Kapitel 7 – David
vergingen zwei weitere Tage, die absolut identisch miteinander waren. Für mich war es sogar eher ein langer, qualvoller Tag, zusammengesetzt aus zwei Tagen und zwei Nächten. Dass ich den gesamten Vormittag nicht zuhause war, war eine Sache. Dass ich allerdings meine freie Zeit nicht mit den Hausaufgaben zubrachte, die wir bereits aufbekamen, sondern mich davor drückte nachhause zu gehen, war etwas anderes. Es lief genauso ab, wie ich das mir am ersten Schultag selbst vorhergesagt hatte. Genauso schrecklich, wenn nicht noch schlimmer.
Nachdem die Schulklingel für viele Schüler die erlösende Nachricht verkündet hatte, dass sie für den restlichen Tag nicht mehr an die Schule gebunden waren, fing bei mir der Horror an. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, was ich schlimmer fand: Den Vormittag in einem Gebäude zu sitzen und von jedem schief angeschaut zu werden, oder den restlichen Tag einsam durch die Straßen zu laufen, ohne Ziel und ohne Perspektive.
Ich war nicht dafür gemacht, so ein hartes Leben zu überstehen. Immer war ich vor solchen schrecklichen Tatsachen behütet gewesen und wusste, dass ich mich an meinen Vater klammern konnte. Doch wie war das nun?
Es kam mir vor wie ein dummer Scherz, dass ich, David Portian, genauso ein armes Schwein geworden war, wie die vielen anderen Leute, die ich früher stets verlacht hatte.
Immer noch hoffte ich auf ein Wunder, dass ich einfach eines Tages aufwachen würde, mich in meinem Bett räkeln und lächelnd an diese albernen Träume zurückdenken würde.
Doch mit jedem neuen Tag wurde mir bewusster, dass es kein Aufwachen gab. Ich sollte mich damit abfinden.
Als ich am Donnerstagmorgen im Badezimmer vor dem Spiegel stand, musterte ich kritisch das blaue Auge, das ich von der gestrigen Auseinandersetzung mit meinen „Freunden“ davongetragen hatte. Eigentlich sollte es mich nicht wundern. Schlägereien untereinander waren etwas vollkommen Normales und jetzt hatte ich eben auch einmal etwas abbekommen. Eigentlich war ich daran sogar selbst Schuld. Ich hätte einfach nicht widersprechen dürfen, sondern gleich das tun sollen, was sie von mir verlangten. Eine große Sache war es ja nicht. Ich hätte eine CD klauen sollen. Eine CD! Was war das schon? Normalerweise stahlen sie teurere Dinge. Aber ich hatte mich noch nie an so etwas herangetraut, hatte gerade mal den Mut aufraffen können, ein paar Lebensmittel mitgehen zu lassen, aber selbst eine CD war mir schon zu viel gewesen. Mein Missmut hatte mir eben nun das blaue Auge gekostet.
Ich seufzte und kramte meine Sonnenbrille hervor. Wenn ich die aufsetzen würde, würde keiner etwas von den Folgen meiner Weigerung sehen. Doch gleichzeitig wusste ich auch, dass es in der Schule nicht erlaubt war, Sonnenbrillen oder Hüte zu tragen. Aus Höflichkeitsgründen.
Ich lachte trocken. Ich dachte, es wäre höflicher, wenn ich die Brille aufsetzen würde, anstatt jedem ein blaues Auge zu präsentieren. Aber vielleicht hatten sich die Höflichkeitsregeln ja auch ein wenig gelockert und niemand würde etwas sagen.
Mir wurde regelrecht schlecht bei der Vorstellung an Mr. Courtens mögliche Kommentare. Immerhin hatte ich ihn heute in der ersten Stunde.
Für einen Moment dachte ich daran, mich einfach zu weigern, die Brille abzusetzen, aber dann kamen mir Mr. Tailors Worte wieder in den Sinn. Er wollte mit meinem Klassenlehrer reden. Ich wusste nicht, ob er seine Drohung ernst gemacht hatte. Natürlich hoffte ich es nicht, zumindest hatte Mr. Courten keinerlei Anspielungen auf mich seitdem gemacht. Ja, noch nicht einmal zu dem Eintrag im Klassenbuch hatte er etwas gesagt. Ich war ganz froh darüber, denn diesen Lehrer auch noch ständig an der Backe zu haben war wohl das Letzte, was ich wollte.
Ich versuchte mich ein wenig zusammenzureißen und schwänzte nach dem Misserfolg in Chemie auch keine weitere Unterrichtsstunde mehr. Na ja, bisher waren auch erst zwei Tage vergangen. Sicherlich würde ein solcher Fall bei mir in nächster Zeit wieder auftreten, aber daran dachte ich jetzt noch nicht. Vielmehr war ich gerade damit beschäftigt, mein Äußeres auf eine annehmbare Gestalt zu bringen, denn neben dem blauen Auge hatte ich auch noch eine teilweise aufgeplatzte Lippe. Vielleicht sollte ich heute einfach auf meine Nietenbänder verzichten, um damit weniger Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Wenn mich Mr. Courten so wenig beachtete, wie er das die letzten zwei Tage getan hatte, wäre das sowieso alles kein Problem. Ich betete inständig darum, dass er seinen scheinbaren Vorsatz mich künftig in Ruhe zu lassen bei meinem heutigen Anblick nicht vergessen würde.
Ich setzte also entschlossen die Sonnenbrille wieder ab – albern sah sie ohnehin aus – und fuhr mir durch die blondierten, kurzen Haare, bevor ich aus dem Badezimmer lief und mich auf den Weg nach unten machte.
Doch schon an den unteren Treppenstufen angekommen, konnte ich meinen Vater hören, der in der Küche beschäftigt war. Er motzte vor sich hin, während er immer wieder zwischen seinen unergründlichen Lauten ein Wort aussprach, das sich nach „Zigaretten“ anhörte. Scheinbar suchte er sie.
„Hey Bengel!“ rief er, als ich schon an der Haustüre angekommen war und verschwinden wollte.
Ich verkniff mir ein Seufzen und wandte mich nur langsam zu ihm um. Sein Anblick machte mir regelrecht Angst. Immer wieder konnte ich nicht begreifen, wie er sich nur so sehr verändern konnte. Er glich immer mehr einem erbärmlichen Penner, und er stank grauenhaft nach Schweiß, Alkohol und kaltem Zigarettenrauch.
„Ja, Dad?“ fragte ich zaghaft, bemüht ihm nicht in die Augen zu blicken. Ich ertrug seinen kalten Blick nicht, mit dem er mich neuerdings musterte. Keinerlei Liebe für mich war mehr in seinen Augen zu erkennen. Eine Tatsache, die mich jedes Mal zum Heulen bringen könnte, würde ich Tränen nur zulassen.
„Wo hasss’ du meine Sssigaretten hin?“ lallte er.
Ich schluckte heftig. „N…nirgends, Dad. Ich weiß nicht, wo sie sind.“
„Lüg mich nich’ an!“ brüllte er, plötzlich unglaublich rot im Gesicht geworden. „Du kleinerrr… du kleiner Nichtsnusss’…“
Ich atmete tief durch, die Worte von ihm missachtend. „Ich muss zur Schule, Dad! Bis nachher!“
Ich hörte ihn noch hinter mir schreien, doch ich rannte einfach aus der Türe, rannte und rannte, bis ich wenig später in Rekordzeit an der Schule angekommen war und gerade rechtzeitig über den Hof lief, als es zur ersten Stunde klingelte.
Mein Atem ging völlig unregelmäßig und beachtlich schnell, während ich mich auf den Weg in mein Klassenzimmer machte. Die Sache mit meinem Vater machte mich schon wieder so fertig, dass ich bereits jetzt Panik vor Schulende hatte. Wo sollte ich nur hin? Sollte ich mich wieder zusammenschlagen lassen? Oder sollte ich bei einem Monster bleiben?
Eine schreckliche Auswahlmöglichkeit, dachte ich bitter, als ich leise die Türe öffnete.
Natürlich, ich hatte kein Glück, denn Mr. Courten war schon in der Klasse. Eigentlich hatte ich gehofft, rechtzeitig auf meinen Platz zu gehen und die gesamte Stunde mein Auge weitgehend verdeckt halten zu können, aber als ich nun seinen verwirrten Blick auf mir hatte, wusste ich sofort, dass er bereits das sichtbare Ergebnis meiner gestrigen Auseinandersetzungen bemerkt hatte.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.