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Am Ende die Nacht

Teil 2 - Jan

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich möchte mich hiermit erst mal dafür entschuldigen, dass die Fortsetzung so lange auf sich hat warten lassen. Aber ich hatte ein kleine künstlerische Blockade und zudem etwas Stress, der mir wenig Zeit zum Schreiben ließ. Ich hoffe für euch, dass sich das Warten dennoch gelohnt hat, wenn ihr nun den 2. Teil der Geschichte um Daniel und Jan lest.

Auch das Experiment mit der Musik-Begleitung wird fortgeführt – auch wenn ich aufgrund der doch etwas geringen Resonanz meinen Bekannten wirklich stark dazu überreden musste. Aber er hat noch ein paar Stücke, die für den späteren Verlauf der Story bestimmt sind und die ich euch garantiert nicht vorenthalten werde. Daher hat er sich schließlich doch dazu bereit erklärt, die Geschichte weiter zu vertonen. Vor allem das Liebesthema für Daniel und Jan, das jetzt immer öfter angeschnitten wird (vor allem in 'It could be our secret'), ist wirklich wahnsinnig toll. Ich denke, dass es wohl in Teil 3 oder 4 vervollständigt werden wird.

Auf eine Anregung hin werde ich die Links zu den Stücken an die Stellen setzen, wo sie mir am passendsten erscheinen.

Nun denn, ich will nicht weiter schwafeln: Viel Spaß mit dem 2. Teil von 'Am Ende die Nacht'.

07. Jan’s Theme - http://www.youtube.com/watch?v=IhDgRkW8CzM

1

Er lag auf seinem Bett und starrte mit leerem Blick an die Decke. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er kannte diesen Typen doch genau genommen gar nicht. Und selbst wenn er ihn jetzt kennenlernen wollte, hatte er den doch bloß damit verschreckt.

'Ich liebe dich' war ein so dämlicher Satz! Und das, obwohl es doch wohl das Schönste sein sollte, was man sich einander sagen konnte. Aber zur falschen Zeit und vor allem zur falschen Person gesagt, entwickelte dieser Satz meistens eine fatale Eigendynamik. Freundschaften verwandelten sich in den Spießrutenlauf, ja nie was Falsches zu sagen. Beziehungen, die noch nicht so weit waren, konnten daran zerbrechen.

Ja, er wusste, dass 'Ich liebe dich' ein gefährlicher Satz war. Dennoch hatte er ihn ausgesprochen und noch dazu einem Typen gegenüber, den er erstens kaum kannte und der zweitens auch noch weit außerhalb seiner Reichweite lag.

Er drehte sich zur Seite. Dort hatte der Andere gestern Nacht gelegen, voll wie eine Strandhaubitze. Sie hatten eine wundervolle Partynacht verbracht und er hatte diesen Typen nur unter schweren Protest um vier Uhr morgens dazu bewegen können, endlich nach Hause zu gehen. Nur dass er ihn in seinem Zustand niemals alleine hätte gehen lassen. Er hatte ihn lange angesehen, während der sofort eingeschlafen war. Irgendwie hatte er sich da schon in den Kerl verknallt.

‚Verdammt!’, dachte er. Was war nur mit ihm los? Miguel hatte ihn vor etwas mehr als einem Monat verlassen, nachdem er fast ein halbes Jahr benötigt hatte, um zu merken, dass er mit HIV nicht klarkam. Super Freund! Was war in seinem Leben bitte nur schief gelaufen? Eigentlich so gut wie alles, wenn er genau drüber nachdachte.

 

08. Memories of the past - http://www.youtube.com/watch?v=U7aZdgBYDm0

 

Jan Abelt hatte eigentlich schon früh gemerkt, dass er anders als andere Jungs war. Im Nachhinein erschien ihm das zwar alles wie ein riesiges Klischee, aber damals war ihm nur bewusst, dass er anders als die Anderen keinen Bock auf Fußball hatte, schon mal gerne mit seiner Schwester Puppen gespielt hatte und auch in der Schule nie verstand, warum die Jungs sich immer so seltsam den Mädels gegenüber verhielten. Mit denen konnte er ohnehin viel besser reden. Und so war er stets von einer Schar Mädchen umgeben. Sein Harem, wie es die Jungs immer anerkennend nannten. Die hielten ihn für den ganz großen Macker.

In Wahrheit war Jan aber schon bald von inneren Zweifeln zerfressen. Irgendetwas stimmte mit ihm ganz gewaltig nicht. Er genoss zwar die Nähe zu seinen Freundinnen, aber nie so, dass er das Verlangen nach mehr gehabt hätte. Als er in die Pubertät kam und seine Freunde so langsam meistens ihre ersten Liebeserfahrungen machten, fand er das irgendwie abstoßend. Die ganzen Mädels waren doch wie seine Familie, wie seine Schwestern, mit denen konnte er doch nicht …Sex machen.

Und als er dann 15 war, passiert es: Er verliebte sich in einen Jungen. Und noch dazu in seinen besten Kumpel Mark. Es geschah plötzlich und unerwartet. Er übernachtete mal wieder bei Mark, als dieser ihn auf einmal fragte, ob er schon mal ein Mädchen geküsst hätte. Jan verneinte und Mark fügte hinzu:

"Und einen Jungen?"

"Was? Nein, das wäre ja, wäre ja." Ihm war nichts eingefallen, denn er hasste das Wort schwul.

"Die Mädels üben auch mit ihren Freundinnen, die sind uns da schon weit voraus, wenn wir sie das erste Mal küssen wollen", behauptete Mark. Das konnte Jan gar nicht glauben.

"Dann ist das ja gar nicht so schlimm, wenn sich auch zwei Jungs küssen", schloss er daraus. Mark sah ihn aus großen Augen heraus an und Jan wusste genau, dass es niemand aussprechen würde, diesen Wunsch. Also beugte sich er etwas nach vorne, Mark näherte sich und ganz langsam führten sie ihre Lippen aneinander. Der Kuss war kurz, aber heftig. Beide wussten hinterher, ohne etwas zu sagen, dass sie mehr wollten. Also holten sie sich gegenseitig einen runter, was für Jan unbeschreiblich schön war, viel besser, als wenn er das alleine machte.

Jan und Mark wussten natürlich, dass das Alles geheim bleiben musste. Sie fühlten trotzdem in ihrem Umfeld vorsichtig in eine entsprechende Richtung vor. Das Ergebnis war auf beiden Seiten ernüchternd. Lediglich Marks ältere Schwester zeigte sich toleranter. Und so war sie auch die Erste, der sie es erzählten.

"Ach deswegen hast du mich da gefragt, ob ich was gegen Schwule hab'", stellte sie nur fest, bekräftigte aber ihre positive Einstellung und versprach mit niemandem darüber zu reden. Wenn sich doch nur alle anderen in Jans Umfeld so verhalten hätten.

"So was ist abartig und pervers", hatte seine Mutter gemeint. Und sein Vater hatte ihm deutlich gemacht, dass falls Jan einen "Arschficker" kennen würde, habe er sich unverzüglich von diesem fernzuhalten; nicht dass er sich da "anstecken" würde. Mark hatte die Reaktion seines Vaters mit ungefähr den gleichen Worten beschrieben und sie waren froh, dass wenigstens Marks Schwester nicht ganz so intolerant war.

Da es ihnen durch ihr ablehnendes Umfeld quasi selbstverständlich verboten war, ihre Liebe öffentlich zu leben, mussten sie sich mit geheimen Treffen begnügen; und das war etwas, was das Ganze unglaublich reizvoll machte. Man will eben immer das haben, was einem am schärfsten verboten wird. Und als Marks Eltern eines Abends im Theater waren, beschlossen er und Jan, dass es Zeit für den nächsten Schritt war. Sie hatten beide wahnsinnige Angst, denn dann würden sie ja wirklich "Arschficker" sein. Dann gab es kein zurück mehr.

Mark hatte eine unheimlich romantische Ader und so lagen in seinem Zimmer jede Menge Rosenblütenblätter herum und der Raum wurde nur von Teelichtern erhellt, als Jan hereinkam. Sie hatten sich vorgenommen, langsam vorzugehen, doch ihre andauernd unterdrückten Gefühle brachen sich mit Urgewalt Bahn, so dass ihre Lust wie ein Orkan über sie hinwegfegte. Und gerade, als Jan Mark in sich spürte und im Moment größter Entzückung, stand Marks Vater im Zimmer.

"WAS ZUM TEUFEL?", brüllte er, war mit einem Satz am Bett und verpasste Mark einen so harten Schlag ins Gesicht, dass dieser rückwärts auf den Boden fiel und dabei mit dem Kopf gegen einen Metallstuhl schlug.

"Mach, dass du hier rauskommst!", schrie Marks Vater Jan an, packte dessen Kleidungsstücke und warf sie aus dem Zimmer. Jan sprang schnell in seine Boxershorts und sammelte den Rest hastig ein. Er drehte sich nochmal um und sah nur noch, wie die Faust von Marks Vater auf dessen reglosen Körper niederfuhr. Dieses Bild hatte sich auf ewig in Jans Gedächtnis eingebrannt.

Die kommenden Tage waren prägend für Jans weiteres Leben: Mark landete nach der Prügelattacke seines Vaters im Krankenhaus und konnte hinterher nur noch auf Krücken gehen. Er trennte sich von Jan, weil er indirekt ihm die Schuld dafür gab, was passiert war; Jan aber wusste, dass es Selbstzweifel waren, die Mark plagten, denn ihm ging es genauso. Seine Eltern hatten ihn natürlich zur Rede gestellt, ihn beschimpft, ihn sogar zu verschiedenen Psychiatern geschleift, die ihn "heilen" sollten. Und irgendwann platzte Jan der Kragen: Er zog von zu Hause aus und erst einmal zu den wenigen Freunden, die ihm nach dem unfreiwilligen Coming-Out noch geblieben waren. Denn natürlich hatte die ganze Vorstadt von der Sache Wind bekommen; es war DAS Gesprächsthema gewesen.

Seine Eltern drehten ihm daraufhin den Geldhahn zu und er musste sehen, wie er sich über Wasser halten konnte. Er hatte aus seiner frühen Jugend einen guten Freund mit in sein neues Leben gerettet: Friedrich war zwei Jahre älter als Jan und hatte in der Nachbarschaft gewohnt. Er war früher oft bei den Abelts gewesen, weil er mit Jans Schwester Marlies in eine Klasse gegangen war. Als Friedrich für das Studium in die Innenstadt zog, bot er Jan an, mit ihm zu kommen, um bei ihm zu wohnen, gegen einen gewissen Obolus, der sich nach Jans momentanen Einkünften richtete.

Doch dann wurden Friedrich und Marlies ein Paar. Und Jan verstand Friedrichs Befürchtungen deswegen. Also bot er ihm an, bei Gelegenheit auszuziehen, denn seine Eltern hätten die Beziehung von Friedrich und Marlies nie akzeptiert, wenn Jan bei ihnen wohnen würde. Wenigstens verbesserte sich der Kontakt zu Marlies dadurch, der von Friedrich wohl mal der Kopf gewaschen worden war. Jan hatte aber eigentlich gar keine Ahnung, was er denn nun tun sollte und war schon kurz davor, bei seinen Eltern zu Kreuze zu kriechen, als er Miguel kennenlernte.

Zu dieser Zeit arbeitete Jan als Aushilfskellner bei einem Catering-Service für die gehobenere Gesellschaft. Der Job brachte ihm genügend Geld ein, um sich ein kleines Appartement leisten zu können, aber es war bei weitem nicht genug, um richtig davon leben zu können. Wenn Friedrich ihm nicht hin und wieder einen kleinen Geldbetrag überwiesen hätte, hätte Jan nicht einmal jeden Tag etwas zu Essen ihm Haus gehabt. Seitdem er von zu Hause weggegangen war, waren mittlerweile 2 Jahre vergangen und er hatte bisher weder von seinen Eltern noch von seinem Bruder Andreas auch nur irgendein Wort gehört. Die letzte Verbindung zu seinem alten Leben waren Friedrich und Marlies, mit denen er sich ab und an traf.

Eines Abends war die Firma, für die er arbeitete, auf einer großen Geburtstagsfeier gebucht worden. Der Sohn eines verstorbenen Immobilienmagnaten wurde achtzehn und alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte, würde anwesend sein. Jan hatte deswegen zuerst Bedenken gehabt, weil Marks Vater als Kandidat für das Bürgermeisteramt ebenfalls vor Ort sein würde, aber er konnte es sich nicht leisten, auch nur einmal nicht zu arbeiten. Also hatte er sich vorgenommen, diesem Mann ja nicht über den Weg zu laufen.

Es war ein wirklich rauschendes Fest und Jan erhielt so viel Trinkgeld wie noch nie zuvor, außerdem schaffte er es den ganzen Abend, Marks Vater aus dem Weg zu gehen. Und es wäre ein beinahe einwandfreier Abend geblieben, hätte Jan nicht auf dem Weg zur Küche den Gastgeber des Festes gesehen, wie dieser von einem dubios aussehenden Typen ein kleines Tütchen zugesteckt bekam und sich damit in einen der hinteren Räume verzog. Warum genau Jan ihm hinterhergegangen war, konnte er nicht mehr genau sagen. Es war wohl eine Mischung aus Neugier und Abscheu (denn Jan hasste Drogen), die ihn dazu verleitet hatten.

"Hältst du es für eine gute Idee, dir dein Gehirn mit dem Zeug zu Brei zu machen?", fragte Jan, als er in das Zimmer hineinplatzte, in dem der Immobilien-Erbe gerade dabei war, mit einem zusammengerollten Geldschein weißes Pulver durch seine Nasenschleimhaut zu jagen.

"Ich wüsste nicht, was das Personal hier zu suchen hätte", erwiderte der andere ärgerlich, machte aber keinerlei Anstalten, mit seiner Tätigkeit aufzuhören.

"Es ist meine Aufgabe, mich um das Wohl der Gäste zu kümmern. Und sich die Nasenscheidewand zu durchlöchern gehört ganz sicher nicht zu den wohltuenden Aktivitäten." Jan grinste. Der andere sah nun auf und Jan konnte genau sehen, wie er das, was er eigentlich sagen wollte, augenblicklich vergaß.

"Aber es dient dem Wohl der Gäste, wenn der Gastgeber gut drauf ist, oder?"

"Nicht, wenn er dabei seine eigene Gesundheit beschädigt."

Nun lächelte der andre. "Aber leider brauche ich dieses Zeug, um gut drauf zu sein."

"Es gibt viele andere Dinge, die man tun kann, um gute Laune zu haben."

"Ach ja?" Der andere erhob sich und kam langsam auf Jan zu. "Und die wären?"

"Musik hören zum Beispiel. Oder…"

"…das hier?" Der andere hatte seine Hand blitzschnell an Jans Schritt gelegt und begann nun langsam durch die Hose seinen Schwanz zu massieren.

"Das könnte auch dazu zählen", gluckste Jan und dann riss er dem andren den Anzug vom Leib und sie trieben es quer durch das Zimmer.

 

Als Jan so daran denken musste, wie er Miguel kennengelernt hatte, musste er unweigerlich grinsen. Aber so hatte es sich nun abgespielt, völlig unromantisch, sondern erst einmal nur auf das körperliche beschränkt. Es war sogar so gewesen, dass Miguel Jan am Anfang für den Sex "bezahlt" hatte, da er von seiner prekären Situation wusste. Aber es dauerte nicht lange, bis er ihm anbot, bei ihm mit einzuziehen und von da an hatten sich alle von Jans Problemen in Luft aufgelöst. Denn Miguel zählte zu den reichsten Bürgern der Stadt und er wohnte in einem riesigen Loft mit traumhaftem Ausblick über die Skyline.

Es war wie im Märchen. Doch da jedes Märchen auch eine böse Hexe hat, dauerte es nicht lange, bis dunkle Wolken über der Idylle aufzogen. Zwar immerhin drei Jahre, aber für Jan war es trotzdem viel zu schnell vorbei. Denn in seinem Märchen hieß die böse Hexe HIV. Eines Tages stand die Polizei vor seiner Tür und erzählte ihm etwas über seinen Zahnarzt und dass verschiedene Menschen durch dessen Verschulden mit dem Virus infiziert worden waren. Jan konnte es eigentlich gar nicht glauben, doch der Test, den er am selben Tag durchführen ließ, sprach eine eindeutige Sprache.

Positiv.

Danach war nichts mehr so wie zuvor gewesen. Miguel begann sich von ihm zurück zu ziehen, und in gewisser Weise verstand Jan das ja auch; vielleicht hätte er ganz genauso gehandelt. Aber zu der Zeit wäre es für ihn eine Erleichterung gewesen, wenn er Miguel (oder einfach nur irgendjemanden) hinter sich gewusst hätte. Denn seine Familie war es eindeutig nicht gewesen, die ihn unterstützt hatte. Eher im Gegenteil.

Es gab eigentlich nur einen Menschen, der in der ganzen Zeit zu ihm gehalten hatte neben Friedrich. Und zwar Marks Schwester. Mit ihr hatte er oft ganze Nächte lang geredet in der Zeit nach der Diagnose. Sie hatte zugehört, während er teilweise stundenlang einfach nur geweint hatte. Sie war dagewesen, als Miguel sich dann dazu entschieden hatte, ihn zu verlassen, weil er nicht mit einer "tickenden Zeitbombe" zusammen sein wollte.

Und genau diese Person rief er auch jetzt an, da er sich in einen Typen verknallt hatte, den er nun seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden kannte.

"Hey, ich bin's", sagte er, als sie abgenommen hatte.

"Oh, hi Jan. Was gibt's?"

"Ich brauch dich mal wieder als Seelenmülleimer."

"Was ist denn nun schon wieder?" Sie klang besorgt, was verständlich war, denn Jan hatte sie während seiner Leidensphase oft genug mit suizidalen Gedanken belästigt. "Schon wieder was wegen Miguel?"

"Nein, nein. Er hat diesmal nichts damit zu tun. Ich bin selbst schuld. Ich bin ein riesiger Idiot."

"Oh gut. Also, dass das nicht mit Miguel zu tun hat." Sie hatte in der Vergangenheit keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Miguel nicht leiden konnte. "Was hast du denn nun auf dem Herzen?"

"Lange Geschichte." Und dann erzählte Jan ihr alles. Wie er sich mal wieder seinen Kummer in dieser zwielichtigen Kneipe wegsaufen wollte und dort auf Daniel getroffen war, dem wohl süßesten Typen, den es überhaupt gab.

"Hast du das nicht auch immer von Miguel behauptet? Und überhaupt, Jan: Er ist hetero. UND verheiratet. Du solltest dringend die Finger von dem lassen, bevor du dich in was verrennst. Ich war gern dein Seelenklempner, als dieser schmierige Feigling dich hat sitzen lassen. Aber jetzt schaufelst du dir grade dein eigenes Grab und da werde ich dir nicht wieder raushelfen, klar?"

"Ach, verdammt, ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist. Seit dieses scheiß Virus in mein Leben getreten ist, bin ich irgendwie auf 'nem Selbstzerstörungstrip. Alles, was mir nicht gut tut, ist genau das, was ich will. Verflixt."

"Jan, Jan, Jan. Ich geb dir jetzt einen Rat und das mache ich nur einmal: Vergiss den Typen! Such dir jemanden, der dir auch gut tut."

"Daniel könnte mir aber gut tun."

"Jan!", kam es ungehalten zurück. "Er wird dich verletzen und das noch nicht mal absichtlich, wie ein gewisser anderer Jemand. Was soll dieser Daniel denn auch machen? Er steht nicht auf Männer!"

"Ein bisschen bi schadet…"

"SCHLUSS! Hör auf dich in deinen Träumen zu verlieren, verdammt!"

"Aber sie sind das Einzige, was mir geblieben ist in diesem Scheißleben!"

"Wenn du dich nicht dauernd selbst bemitleiden würdest, hättest du schon längst jemand Neues gefunden und wärst glücklich."

"Ich HABE jemanden gefunden und…"

"So jetzt reicht's! Ruf mich erst wieder an, wenn du von deiner rosa Wolke runter und zur Vernunft gekommen bist! Tschüss, Jan!" Aufgelegt.

Jan grinste. Er liebte es, andere Menschen zur Weißglut zu bringen. Außerdem wusste er, dass sie nicht lange auf ihn böse sein konnte. Daher lachte er auf, als sein Handy vibrierte.

"Da hast du's aber nicht lange ausge-…"

"Jan?"

Jan zögerte. "Daniel, bist du's?"

"Ja." Jan lief ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas an Daniels Stimme jagte ihm unheimliche Angst ein.

"Was gibt's?", fragte er, wobei er stark darauf achten musste, seine Stimme nicht allzu sehr zittern zu lassen.

"Bist du grade beschäftigt?"

"Nein, wieso?"

"Ich brauche jemanden zum Reden. Bist du zu Hause?"

"Ja, klar. Komm vorbei. Aber Daniel, was ist de-.." Doch Daniel hatte bereits aufgelegt.

Jetzt war Jan komplett durcheinander. Was hatte das denn bitte zu bedeuten? Für einen Moment keimte Hoffnung in ihm auf, dass Daniel vielleicht plötzlich Gefühle entdeckt hätte, Gefühle für Jan. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, denn Daniels Stimme hatte sich ganz und gar nicht nach so etwas angehört. Vielmehr danach, als ob jemand gestorben wäre. Vielleicht seine Frau?

Jan, du bist ein egoistisches Arschloch, dachte er. Selbst wenn es so wäre, was er nicht hoffen wollte, würde Daniel dadurch ja nicht von jetzt auf gleich ein Vorzeige-Homo. Wahrscheinlich wäre eher das Gegenteil der Fall. Jan war irgendwie angewidert von seinen eigenen Gedanken und stand daher auf, um rastlos durch seine Wohnung zu laufen. Was konnte Daniel bloß wollen?

 

Als es dann endlich klingelte, war Jan mit seinen eigenen Gedanken immer noch so beschäftigt, dass er es für einen Moment gar nicht wahrnahm. Erst beim zweiten Mal wurde er aus seinem Grübeln gerissen und stolperte mehr, als dass er ging, zur Tür. Er riss sie auf und hätte beinahe laut aufgeschrien. Daniel sah einfach furchtbar aus! Seine geröteten Augen zeigten deutlich, dass er geweint hatte und seine Hände, obwohl er sie fest zu Fäusten geballt hatte, zitterten furchtbar. Sein ganzer Körper schien zu beben.

"Verdammt, was ist denn mit dir los?", war das einzige, das Jan herausbrachte. Daniel trat wortlos ein, wartete bis Jan hinter ihm die Tür geschlossen hatte und warf sich ihm dann schluchzend um den Hals.

"Ich…ich weiß einfach nicht mehr weiter, Jan!", brach es aus ihm heraus und er wurde von einem heftigen Zittern durchgeschüttelt. "Ich hab' das Gefühl, dass alles den Bach runtergeht grade."

"Mal ganz langsam. Erzähl mal von Anfang an was los ist."

"Ich…ich hatte mich grade mit Becki ausgesöhnt, da…ich…dieser Anruf." Wieder ein unterdrücktes Schluchzen.

"Ein Anruf? Von wem?"

"Meinem Arzt. Er…ich…verdammt, Mann!"

"Was ist denn nun los?"

"Sie haben den Verdacht, dass ich…dass ich…ich"

"Jaaaah?" Jan wusste so langsam nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Eigentlich sollte er froh sein, dass Daniel ihn gerade so fest an sich drückte, aber andrerseits hatte er Angst, dass wenn das noch etwas fester sein würde, könnte ihm ein unangenehmes Malheur passieren, das diese ganze Situation konterkarieren würde.

"Bauchspeicheldrüsenkrebs." Ein Wort, wie eine unheilvolle Drohung hervorgepresst, schwebte plötzlich im Raum. Jan musste unwillkürlich schlucken. Er kannte die allgemein schlechte Prognose, die mit diesem Befund verbunden war, denn sein Großonkel war daran ebenfalls verstorben.

"Aber in deinem Alter doch nicht. Das muss ein Irrtum sein", versuchte er zu beschwichtigen.

"Deswegen soll ich jetzt vorbeikommen und einen speziellen Test machen."

"Und wie kann ich dir dabei helfen."

"Jan, ich weiß nicht, ob ich's durchsteh', wenn das Ergebnis positiv ist."

"Warum gehst du damit nicht zu deiner Frau." Aus irgendeinem Grund war Jan plötzlich etwas wütend auf Daniel. War der etwa nur hier, um sich Jan als Anstandswauwau mit zum Arzt zu nehmen, weil ein HIV-Positiver ja super mit schlechten Nachrichten umzugehen haben sollte?

"Ich kann ihr das nicht aufhalsen. Das ist erst mal mein…"

"Dein Problem?" Jan schüttelte den Kopf. "Hör mal Daniel, wenn du wirklich krank bist, ist das nicht nur deine Sache, sondern auch die deiner Familie und insbesondere die deiner Frau. Und eigentlich nicht meine." Noch ehe er den Satz ausgesprochen hatte, bereute er es schon wieder.

"Na vielen Dank auch!", rief Daniel und löste sich von ihm. Ein bitterböser Blick streifte Jan. "Da dachte ich, ich könnte auf deine Hilfe setzen und alles und jetzt schickst du mich wieder weg? Super, ey."

"Du weißt genau, wie ich das gemeint hab'. Ich find' es ja echt lieb, dass du da erst an mich gedacht hast, aber nur weil ich mit schlimmen Nachrichten Erfahrung hab', heißt das nicht, dass ich deshalb eine super Stütze bei solchen Dingen wäre."

Daniels Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. "Oh, Fuck Mann, da hab' ich jetzt gar nicht drangedacht! Das wollte ich damit gar nicht sagen. Du warst bloß der Erste, der mir eingefallen ist, nachdem…nach der Diagnose."

"Hast du sonst keine Freunde?" Jan fragte sich, was er hier eigentlich trieb. Daniel hatte offenbar wieder einen Schritt auf ihn zu gemacht und er selbst tat alles, um wieder Abstand herzustellen. Wollte er vielleicht eine Art Selbstschutz betreiben?

"Doch schon, aber…ich weiß auch nicht. Kommst du jetzt mit?" Ein leicht flehender Ausdruck trat in Daniels Augen, dem sich Jan nicht widersetzen konnte.

"Ja, okay."

"Kann ich danach noch ein bisschen mit dir abhängen, wenn das Ergebnis schlecht ausfällt?"

"So darfst du gar nicht an die Sache rangehen. Es wird schon alles gut gehen."

"Aber falls nicht?"

"Ja, okay."

"Danke, danke, danke", rief Daniel erleichtert und umarmte Jan stürmisch, in dessen Hose sich gegen seinen Willen etwas regte. Na super, dachte er. Immer im unpassendsten Moment. Aber anscheinend hatte Daniel es nicht bemerkt oder großzügig übergangen – immerhin dürfte er gerade andere Sorgen haben, als einen dauergeilen Homo. Jan fragte sich ehrlich, was eigentlich gerade mit ihm los war. Befand er sich etwa auf einem Selbstzerstörungstrip? Schließlich würde jede Minute, die er mit Daniel verbrachte, seine Gefühlslage verschlimmern, und darauf hatte er im Moment am allerwenigsten Lust.

"Ich hol' schnell mal meine Jacke, dann können wir los."

"Super, is' auch nicht weit weg, nur ein paar Blocks."

Jan kramte schnell seine Schlüssel aus der Schüssel auf der Schlafzimmerkommode, steckte sie in seine Jacke und warf diese über. So machte er es immer, um ja sicher zu gehen, nie ohne Schlüssel das Haus zu verlassen. Dann kehrte er zu Daniel zurück.

"Auf geht’s."

"Danke", sagte Daniel nur und lächelte ihn an. Auch wenn Jan die furchtbare Angst sah, die in seinen Augen stand. Beide atmeten zeitgleich tief durch, als sie durch die Tür traten und sahen sich daher lächelnd an. Jans Herz pochte für einen Moment scheinbar direkt unter seinem Kinn (und auch zwischen seinen Beinen), aber er hatte sich diesmal schnell wieder im Griff, weil er sich noch einmal den Ernst der Lage vor Augen rief. Das war jetzt einfach nicht die Zeit für amouröse Gefühle! Dann betraten sie den Aufzug und fuhren in die Ungewissheit.

 

09. Something cupid - http://www.youtube.com/watch?v=kVLD8MhEUhM

2

"Jetzt setz dich doch endlich hin bitte. Du machst mich ganz wahnsinnig." Jan sah zu Daniel, der wie ein eingesperrtes Tier im Käfig herumirrte.

"ICH mache DICH wahnsinnig?!" Daniel lachte schrill auf. "Verdammt, ICH dreh gleich durch mit dieser verdammten Warterei."

Jan überlegte einen Moment lang, ob er aufstehen und Daniel beruhigen sollte, aber entschied sich dagegen, weil das jetzt gerade ohnehin keinen Sinn gehabt hätte. Dazu war Daniel viel zu aufgebracht. Der Arzt hatte einige Tests durchgeführt, deren Auswertung länger gedauert hatte und sie beide deshalb nach Hause geschickt. Er würde die Ergebnisse dann telefonisch durchgeben. Jan hatte das zwar für fragwürdig gehalten, aber Daniel schien es recht gewesen zu sein, aus der Praxis zu verschwinden. Dafür befanden sie sich nun wieder in Jans Wohnung, wo Daniel nun schon seit einer ganzen Stunde unruhig auf und ab lief.

"Das kann doch nichts Gutes bedeuten, oder? Wenn das so lange dauert. Oh Mann, scheiße, was mach ich denn dann bloß? Wie sag' ich es Becki und den Kindern. Oh Gott die Kinder, ich werde sie gar nicht aufwachsen sehen und…"

"Daniel, jetzt beruhig' dich endlich! Solange du den Anruf noch nicht bekommen hast, brauchst du dir über sowas keine Gedanken zu machen. Und außerdem …"

Da klingelte das Handy. Daniel erstarrte und blickte mit leerem Blick auf das Display, ging aber nicht ran.

"Ich kann das nicht", hauchte er und selbst das hatte Jan mehr erraten als gehört, weil Daniels Stimme auf ein Minimum geschrumpft schien.

"Doch du kannst das", sagte Jan, stand auf und nahm Daniels Hand. "Ich bin bei dir. Geh ran."

"Zeus?", meldete Daniel sich. Er hörte eine Weile fast gelassen zu, ehe Jan spürte, wie sich Daniels Finger in seine eigenen krallten und seine Lippen zu beben begannen. "Vielen Dank ", sagte er noch mit erstickender Stimme, wandte sich dann zu Jan herum und flüsterte: "Krebs." Und ehe Jan irgendetwas hätte erwidern könne, begann Daniel schon hemmungslos zu weinen und vergrub seinen Kopf in Jans Schultern.

In diesem Moment brach die Erinnerung an seine eigene Diagnose über Jan herein. Zuerst hatte er das Ganze ja für einen schlechten, äußerst miserablen Scherz gehalten. Aber allein die Tatsache, dass ihm die Hiobsbotschaft ja von der Polizei überbracht worden war, hatte einen Zweifel von Anfang an erst gar nicht zugelassen. Es war vielmehr Jans Wunschtraum gewesen, dass sie ihn nur veralbern hatten wollen. Grausam veralbern. Doch als er nach dem Test zum Gespräch mit seinem Arzt zusammentraf, hatte er schon beim Eintreten dessen Gesichtsausdruck gesehen. Diese Mischung aus Mitleid und auch aus Wut über den Kollegen, der so viele Leben verpfuscht hatte, würde Jan wohl nie wieder vergessen. Sein Arzt war ihm hinterher mehr ein Vater geworden, als es sein richtiger je gewesen war. Er hatte ihn bei allen Fragen bezüglich der Erkrankung unterstützt, ihn in verschiedene Selbsthilfegruppen gebracht und ihm erklärt, dass HIV längst nicht mehr unbedingt zum Tod führen musste.

Doch Jan war im Prinzip allein gewesen. Daniel war das nicht. Er hatte eine Familie, der er etwas bedeutete und die auf ihn angewiesen war. Er hatte Kinder, die ihren Vater brauchten. Daher wusste Jan auch im ersten Moment gar nicht was er sagen sollte. Und vielleicht war Schweigen gerade sowieso besser. Also führte er Daniel langsam zum Sofa, setzte sich mit ihm hin und strich im langsam übers Haar, während der von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Jan war erstaunt von so viel Emotion, die er jemandem wie Daniel gar nicht zugetraut hätte. Vielleicht war da ja doch ein…

Jan schüttelte sich innerlich. Er war plötzlich angewidert von sich selbst, denn er hätte nie gedacht, dass er in solch schlimmen Situationen an Sex hätte denken können. Aber genau das tat er gerade. Er stellte sich vor, wie es wäre Daniels weiche Haut auf der seinen zu spüren und seinen Duft von jedem Quadratzentimeter seines Körpers einzuatmen und…Schluss damit!, befahl er sich selbst. Er versuchte ruhig zu atmen und wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vor allem, weil Daniel sich langsam beruhigte und vielleicht gleich einen Rat oder so was haben wollte.

Er sah zu Daniel hin, der gerade seinen Kopf hob und aus rot verquollenen Augen zurückblickte.

"Danke, dass ich hier sein darf", flüsterte er – und dann küsste er Jan! Es war kein besonders leidenschaftlicher Kuss und auch kein außergewöhnlicher, aber Jan durchfuhr ein Schlag wie von tausend Volt. Als Daniels Lippen sich von den seinen lösten, fragte er verwirrte: "Was war das denn?"

Daniels Augen zuckten unruhig von einer Seite auf die andere und er biss sich verlegen auf die Lippen. Dann zuckte er mit den Schultern und wollte aufstehen, doch Jan hielt ihn zurück.

"Was soll das heißen?", fragte er, wobei er das Achselzucken nachahmte. "Man küsst nicht einfach so mal eben jemand anderen."

Daniels Gesichtsausdruck wurde immer gequälter. Offenbar hatten ihn die Emotionen einfach mitgerissen. Vielleicht hatte er auch für einen Moment vergessen, dass nicht Becki, sondern Jan an seiner Seite saß. Dennoch ließ die Antwort auf sich warten.

Jan sah schließlich ein, dass es wenig Sinn hatte, jetzt darauf herumzuhacken, immerhin hatte Daniel ganz andere Probleme. Aber vergessen würde er diese Sache bestimmt nicht. Vor allem, weil er jetzt mehr wollte. Er wollte den Kuss fortführen, ihn verlängern, ausdehnen bis in alle Ewigkeit und…

"Ich geh dann mal", sagte Daniel unvermittelt.

"Wirst du es ihnen sagen?"

Daniel zuckte wieder mit den Schultern. Aber sein Blick verriet, dass er das zumindest momentan nicht vorhatte.

"Irgendwann wirst du es müssen. Und ich denke, dass es leichter wäre, das gleich zu…"

"Danke für deine Hilfe", wehrte Daniel mit versteinerter Miene ab. "Aber ich kann das alleine entscheiden." Dann stand er auf und verschwand, bevor Jan noch irgendetwas sagen hätte können. Stattdessen saß er reichlich verwirrt auf dem Sofa, ließ sich zurücksinken und starrte an die Decke. Was sollte er denn bitte von dieser Aktion halten? Klar, es war eine absolute Ausnahme- und Stresssituation für Daniel gewesen, aber rechtfertigte das etwa, auch Jan ins totale Gefühlschaos mitzureißen?

"Nein", murmelte Jan zu sich selbst. Immer wenn er aufgebracht war, begann er mit sich selbst zu reden; eine äußerst unangenehme Eigenschaft, vor allem, weil der dann oft dazu neigte, von sich selbst in der Mehrzahl zusprechen.

"Schönes Stück Scheiße, was wir uns da eingebrockt haben. Wieso musste der uns überhaupt treffen? Was machen wir denn jetzt, hmm? Mal sehen, wir könnten ja…Nein…Vielleicht sollten wir sie anrufen. Sie war aber eigentlich gar nicht so begeistert, als sie davon gehört hat. Na und, sie hat gefälligst zuzuhören." Und damit wählte er dieselbe Nummer wie wenige Stunden zuvor, als für sich noch nicht alles geändert hatte.

"Jan?" Die Überraschung war nicht zu überhören. "Zweimal an einem Tag? Muss ich mir Sorgen machen?"

"Nein gar nicht. Es ist nämlich was Tolles passiert. Er hat mich geküsst", berichtete Jan stolz und strahlte übers ganze Gesicht; auch wenn er wusste, dass sie das freilich nicht sehen konnte.

"Wer? Daniel? Und du bist dir sicher, dass du das Ganze nicht nur geträumt hast? Ich hab' dir doch gesagt, du sollst den Typen vergessen."

"Tja und siehst du, wohin dein toller Rat mich gebracht hätte? Hätte ich auf dich gehört, wäre dieser Kuss nicht passiert. Und er war soooo schön." Jan seufzte. Dieses schnulzige Reden nervte ihn zwar selbst, aber im Moment traf es genau das, was er fühlte.

"Hmm", kam vom andern Ende der Leitung. Jan runzelte die Stirn. Er hatte sich die Reaktion seiner langjährigen Freundin leicht anders vorgestellt.

"Etwas mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf", brummte er daher ins Telefon.

"Wie kam es denn eigentlich dazu?", überging sie ihn völlig. Jan überlegte einen Augenblick, ob er darauf eingehen sollte, beließ es dann aber dabei und erzählte ihr die ganze Geschichte seit dem letzten Telefonat.

"Jan, das ist schrecklich!"

"Nein, es ist schön!"

"Dir ist klar, dass du seine Notlage ausnutzt?"

"Welche Notlage?"

"Er hat dich als seelische Unterstützung gebraucht, weil er es seiner Frau nicht zumuten wollte. Er wollte lediglich einen guten Freund."

"Ach ja? Und warum hat er mich dann geküsst?"

"Was weiß ich!" Jan merkte, dass sie plötzlich leicht ungehalten wurde. "Verzweiflung, Trauer, Angst, Wut, Frust! Aber sicher nicht, weil er sich in dich verknallt hat, Mann. Jan, dieser Typ hat eine Familie, die ihn braucht und die er jetzt wahrscheinlich entweder belügen oder mit der Wahrheit komplett unglücklich machen muss. Das sind keine schönen Alternativen."

"Ich würde zu ihm halten, egal was…" Jan hörte nur noch ein Piepen im Hörer. Sie hatte einfach aufgelegt!

Im ersten Moment war Jan stocksauer, doch dann überkamen ihn Zweifel, ob ihre Sichtweise nicht vielleicht die richtige war. Immerhin betrachtete sie das Ganze distanziert und nüchtern und nicht wie Jan durch eine rosarote Brille. Jan trat ans Fenster. Über der Stadt lag ein dichter grauer Regelschleier, der die Dämmerung noch düsterer zu machen schien. Was für ein Tag, dachte er.

"Warum muss so ein Müll immer nur mir passieren?", murmelte er, lehnte den Kopf an die Scheibe und starrte die Regentropfen an, die gegen das Fenster schlugen und langsam daran herabrannen. Und dann begann er ganz leise zu weinen.

 

10. Surprising visits - http://www.youtube.com/watch?v=bmff6SoxD8U

 

Am nächsten Morgen wachte er relativ spät auf; richtig ausgeschlafen aber war er nicht. Seine Träume waren wirr gewesen und mehr als einmal war er schweißgebadet aufgewacht. Als erstes ging sein Blick auf das Handy-Display, doch darauf zeigte sich keine Besonderheit. Vielleicht sollte er der Wahrheit ins Auge sehen: Daniel war eine ganze Nummer zu groß für ihn. Es gab genug Kerle, die nur liebend gern mit ihm ins Bett gegangen wären; er hatte ein ganzes Adressbuch voller Kontakte, die nur auf einen Anruf von ihm warteten, den er ihnen nach dem jeweiligen ersten Mal verweigert hatte.

Wie er schon zu Marks Schwester gesagt hatte: Seitdem Miguel ihn verlassen hatte, befand er sich auf einem Selbstzerstörungstrip und bisher hatte es ihm gefallen, so viele andere Typen mit in den bodenlosen Abgrund zu reißen, der sich ab und an in ihm auftat. Diese endlose Leere und Sinnlosigkeit, die ihn immer dann überfiel, wenn er eigentlich gute Laune hatte. Es war, als ob ihm ein glückliches Leben nicht vergönnt wäre.

Gerade als er weiter darüber sinnieren wollte, was er in seinem Leben falsch gemacht haben musste, um das Ganze zu verdienen, klingelte es. Die miesen Gedanken waren wie weggeblasen. Das musste Daniel sein! Jan sprang auf, rannte zur Tür und öffnete sie schwungvoll – ehe er mitten in der Bewegung innehielt.

"Du?", fragte er tonlos. "Was willst du denn hier?"

"Du siehst gut aus."

"Was willst du?", wiederholte Jan ungehalten.

"Möchtest du mich nicht hereinbitten?", fragte Miguel und grinste. "Ich glaube nämlich, dass du für ein Gespräch zwischen Tür und Angel nicht passend gekleidet bist." Er sah lächelnd an Jan herunter, der erst jetzt bemerkte, dass er komplett nackt war und sich daher wortlos umdrehte, ins Schlafzimmer marschierte und sich einen Bademantel überzog. Als er zurückkehrte, hatte Miguel es sich schon auf dem Schreibtischsessel bequem gemacht, die Beine überschlagend und die Arme lässig auf den Lehnen ablegend.

"Was willst du hier?", fragte Jan zum dritten Mal und wurde langsam sauer. Was sollte das bitte?

"Dich sehen. Ist das verboten?" Miguel grinste. Jan hätte ihm am liebsten die Vase auf dem kleinen Tische neben sich ins Gesicht gedonnert.

"Nein."

"Siehst du."

"Aber nicht erwünscht." Jan ging zurück zur Tür und öffnete sie. "Geh jetzt bitte."

Miguel stand tatsächlich auf, trat neben Jan und drückte die Tür mit sanfter Gewalt wieder zu.

"Du vergisst, dass das hier mein Appartement ist."

"Du hast es mir geschenkt. Oder war das etwa auch gelogen wie alles andere?" Jan öffnete die Tür erneut und deutete hinaus.

"Mein Gott, wie dramatisch." Miguel verzog gekränkt den Mund und ging zu dem gläsernen Beistelltisch neben der Polstergarnitur, auf dem ein sehr teurer Whiskey in einer gläsernen Karaffe stand. Er schenkte sich einen Schluck ein und hielt Jan ebenfalls ein Glas hin. "Du auch?" Als Jan den Kopf schüttelte, zuckte Miguel mit den Schultern, stellte das leere Glase wieder zurück und ließ sich auf das Sofa fallen – genau dort, wo Jan und Daniel sich am Tag zuvor geküsst hatten. Jan fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, aber zugleich erfüllte ihn der Gedanke an Daniel und den Kuss mit großer Freude. Er ließ sich auf dem Sessel gegenüber von Miguel nieder.

"Könntest du mir jetzt bitte mal den Grund für deinen – Besuch sagen?"

"Sagen wir, ich hatte Sehnsucht."

"Nach dem Whiskey?"

Miguel lachte. "Nein. Ach Jan, du weißt ja gar nicht, wie sehr mir dein Humor fehlt."

"Das hättest du dir früher überlegen müssen."

"Stimmt." Miguel sah nachdenklich in sein Glas und schwenkte es bedächtig hin und her. "Weißt du, ich hatte in der letzten Zeit viele Gelegenheiten über alles nachzudenken. Und ich denke, dass…"

"Was? Denkst du, dass ich so wenig Selbstachtung habe, dass ich sofort wieder mit dir in die Kiste springe, nur weil du mit den Fingern schnippst? Oder dass ich dir vor Freude um den Hals falle, wenn du hier auftauchst? Was zum Teufel denkst du dir eigentlich dabei?!"

"Ich denke", fuhr Miguel unbeirrt fort, "dass es ein großer Fehler war, dich zu verlassen. Wie ich gehört habe, hast du dich in der Zwischenzeit aber gut getröstet."

"Was meinst du bitte damit?", fragte Jan verunsichert. Konnte Miguel von Daniel wissen? Das war doch nicht möglich.

"Du weißt, dass mir nicht nur diese Wohnung, sondern der gesamte Komplex gehört. Und wenn du fast täglich irgendeinen anderen Typen mitherbringst, bleibt das nicht unbeobachtet. Aber ich nehm' dir das nicht übel. Ich verzeihe dir."

"DU verzeihst MIR?" Jan schnappte wütend nach Luft und sprang vom Sessel auf. "Wer hat mich denn bitte in meiner schwersten Stunde allein gelassen? Wer war zu feige und hat bei der kleinsten Widrigkeit die Segel gestrichen? Das war ja wohl nicht ich!"

"Jan, bitte", meinte Miguel und erhob sich. Er kam langsam auf Jan zu, öffnete dessen Bademantel und griff ihm in den Schritt. Dann hauchte er ihm ins Ohr: "Wir waren doch immer so ein gutes Team. Warum sollte man das bitte aufgeben?"

"Wir…ich…es…du…nicht", stammelte Jan. Miguel hatte seine spezielle Tonlage angestimmt, der Jan noch nie hatte widerstehen können.

"Was ist denn hier los?", kam es da plötzlich von der Tür her, die Jan vergessen hatte wieder zu schließen. Wie elektrisiert fuhr er herum, der geöffnete Bademantel wehte um seine Hüften.

"Daniel, was…wie…du?" Verdammt, hatte er jetzt die Sprache verloren, oder was?

Daniel stand direkt auf der Türschwelle und sah argwöhnisch zu ihnen herüber. Jan konnte sehen, wie Daniels Blick an ihm herunterwanderte.

"Stör ich vielleicht?", fragte Daniel.

"Nein, gar nicht. Miguel wollte gerade gehen. Nicht wahr?!", sagte Jan mit deutlichem Nachdruck in der Stimme, doch Miguel machte keinerlei Anstalten sich zu bewegen, daher zischte er ihm ins Ohr: "Verschwinde sofort! Wir können später reden."

"Das Angebot nehme ich gerne an", flüsterte Miguel mit einem Grinsen auf den Lippen zurück. Dann ging er auf Daniel zu und streckte die Hand aus. "Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Herr…?"

"Zeus", sage Daniel, ohne aber die Geste zu erwidern. Miguel zuckte mit den Schultern und schob sich an Daniel vorbei nach draußen.

"Daniel?", meinte Jan nur und strich sich fahrig über sein Gesicht. Wieso hatte es Miguel nur geschafft, ihn so aus der Fassung zu bringen?

"Ich hatte eigentlich nicht vor, euch zu stören", sagte Daniel nur knapp, wobei sein Blick wieder an Jans Körper herabwanderte und auf Hüfthöhe hängen blieb. Jan schlug den Bademantel zu und knotete ihn mit dem Gürtel fest.

"Wie geht`s dir?", versuchte er abzulenken. An Daniels Blick sah er, dass dies nicht allzu gut geklappt hatte, aber anscheinend hatte Daniel nicht viel Lust über die "nackten Tatsachen" zu reden, denn er ging auf die Themaänderung ein.

"Nicht gut. Ich hab' die ganze Nacht nicht geschlafen. Becki macht sich schon Sorgen."

"Naja nicht ganz umsonst, oder?"

"Jaah", erwiderte Daniel gedehnt. "Aber dann könnte ich's ihr ja gleich sagen. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht."

"Daniel, ich hab' dir das gestern schon mal gesagt und ich bleib' dabei: Du musst es ihr sagen. Sie hat ein Recht darauf."

"Ja ich weiß", druckste Daniel herum und ließ sich dann auf das Sofa fallen. "Aber es fällt mir so verdammt schwer auch nur daran zu denken, dass ich ihnen das antun muss." Er seufzte schwer und in seinen Augen sammelten sich Tränen.

"Daniel, das ist doch noch gar nicht gesagt. Niemand weiß, was…"

"Hat man dir das auch gesagt? Ich meine, damals, als…"

"Ja, aber…"

"Und hast du's geglaubt?"

"Zuerst nicht, aber…"

"Siehst du. Warum erwartest du dann von mir, dass ich mein Schicksal von einem auf den andern Tag akzeptiere?"

"Das erwarte ich doch gar nicht. Ich will doch nur, dass…"

"Dass ich die ganze Sache schönrede, so wie du?"

"Jetzt komm mal wieder runter!", brauste Jan auf. Und es tat ihm sofort leid, als er sah, wie Daniel in sich zusammensackte und wie ein Häufchen Elend auf der Couch saß. Er setzte sich neben ihn und legte den Arm um seine Schultern. "Du musst positiv denken. Das wird schon…"

"Positiv?" Daniel lachte sarkastisch auf. "Was ist bitte positiv daran, bald sterben zu müssen. Ich finde daran leider nichts Gutes."

"Ja, das mag sein, aber…"

"Das ist so. Wenn ich das Becki erzähle, verlässt sie mich doch sofort. Und ich kann es ihr nicht mal verübeln."

"Warum sollte sie? Sie liebt dich doch. Sie wird bei dir bleiben wollen, um…"

"Um zu sehen, wie ich langsam verrecke?! Nein, das will ich nicht. Da soll sie lieber gehen und jemand finden, der gut für sie und die Kinder sorgen kann. Das ist das Beste."

"Das ist nicht das Beste, das ist gequirlte Kacke, was du da laberst", brauste Jan auf. "Wenn sie dich liebt, wird sie bis zum Ende bei dir bleiben und das Ganze mit dir durchzustehen. Zumindest würde ich das so machen."

Daniel sah ihn mit großen Augen an und Jan hätte sich ohrfeigen könne. Was hatte er da gerade gesagt? Das konnte doch nicht sein Ernst gewesen sein.

"Ach ja?" Daniel kaute auf seiner Unterlippe herum. "Und was, wenn sie das nicht macht."

Dann hast du noch mich, dachte Jan. Laut sagte er aber: "Das wird nicht passieren."

"Das denkst du, aber…" Daniel wurde unterbrochen, weil sein Handy klingelte. "Daniel Zeus. Ah Sie sind's. Mhm. Eine Studie? Ist das gefährlich?" Jan sah wie sich Daniels Gesichtsausdruck plötzlich aufhellte. "Und wann – sofort? Ja…ich…klar ich komme sofort!" Daniel sprang auf. "Ich muss weg, Jan."

"Kannst du mir vielleicht kurz erklären, worum's geht?"

"Nein, keine Zeit. Bis später." Daniel beugte sich kurz vor und hauchte Jan einen Kuss auf die Backe, hielt dann mit verwirrtem Blick inne und zuckte zurück. Er biss sich wieder auf die Unterlippe und verschwand dann wortlos.

Jan blieb wieder einmal ratlos zurück. So langsam fragte er sich, was Daniel da eigentlich abzog. Ob er wirklich so impulsiv und spontan war, dass jegliche Gefühlsregung zu unkontrolliertem Verhalten führte oder er Jan einfach nur verarschen wollte?

"Nein, so ist er nicht", murmelte Jan wieder zu sich selbst. "Ich denke einfach, dass er vielleicht doch nicht so hundert Prozent hetero ist, wie er immer tut. Vielleicht haben wir ja doch Chancen." Jan seufzte und ließ sich auf das Sofa fallen. Und weil ihm Daniels blau-grüne Augen nicht mehr aus dem Kopf gingen, in denen er stundenlang versinken könnte und weil das Sofa noch nach Daniels Duft roch und dieser sein Blut in Wallung brachte, holte er sich in Gedanken an diesen wundervollen Menschen langsam und gefühlvoll einen runter.

 

Der Tag verstrich ruhig und ereignislos und vor allem ohne ein Lebenszeichen von Daniel. Jan wusste nicht, ob er zu Hause sitzen bleiben oder versuchen sollte, Daniel ausfindig zu machen. Immerhin hatte er ja eigentlich besseres zu tun als nur herumzusitzen. Aber langweilig wurde ihm trotzdem nicht, denn seine Gedanken kreisten ständig um die Frage, was Miguel von ihm gewollt hatte. Es war das erste Mal seit zwei Monaten gewesen, dass sein Ex-Freund ihn besucht hatte. Und Jan wurde aus dem Auftritt eigentlich nicht schlau. Vor allem, was den Abgang betraf: Miguel hatte ihn nach der Diagnose nie wieder angefasst, offenbar in Panik, dass schon die bloße Berührung zu einer Ansteckung führen könnte.

Aber heute Morgen war sehr offensiv an Jan herangegangen und das war etwas, womit dieser nichts anfangen konnte. Miguel wollte irgendetwas, so viel stand fest, nur was? Doch je mehr Jan darüber nachgrübelte, desto weniger erschloss sich der Sinn von Miguels Besuch. Und was, wenn es stimmte, was er gesagt hatte und er liebte Jan noch immer?

"Ah was soll dann sein?", murmelte Jan. "Es ist zu spät. Wir haben jetzt Daniel."

Wie aufs Stichwort klingelte es an der Tür. Jan sprang auf und öffnete. Daniel kam atemlos hereingestürmt und rannte aufgeregt im Raum herum. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der puren Freude.

"Es ist kaum zu fassen, Mann, so ein Glück."

"Komm doch erst mal richtig an und setz dich hin."

"Dazu bin ich zu aufgeregt." Daniel marschierte mit riesigen Schritten in Jans Wohnzimmer hin und her.

"Was ist denn los?"

"Ich werde wieder gesund!", schrie Daniel es lauthals hinaus. Jan sah in misstrauisch an.

"Wie meinst du das?"

"Mein Arzt hat mich an die Uni-Klinik verwiesen. Dort findet zurzeit eine experimentelle Studie über Bauchspeicheldrüsenkrebs statt. Sie testen ein neues Therapie-Verfahren und suchen Patienten. Offenbar wurden schon Mehrere, die sich in meinem Stadium befanden, völlig geheilt. Ist das nicht super?"

"Ja, sicher, aber…"

"Kein aber! Ach Jan, ich könnte die ganze Welt umarmen. Jetzt brauche ich mir keine Sorgen mehr um Becki und die Kinder machen, denn ich werde ja wieder gesund!"

"Schön."

"Ja, nicht wahr? Ich kann es selbst noch kaum glauben. Erst gestern stürzt die Welt über mir zusammen und heute gibt es wieder einen Lichtblick am Horizont. Das ist doch wirklich der Wahnsinn, nicht wahr? Oh die Welt ist so schön!" Er packte Jan und sprang mit ihm durch die Wohnung.

Jan riss sich los, hielt Daniel an den Schultern fest und sah ihm fest in die Augen.

"Mach dir keine falschen Hoffnungen! Dass es anderen geholfen hat, heißt nicht, dass…"

"Was bist du denn bitte für ein toller Freund??"

"Ein realistischer."

"Ein pessimistischer, würde ich sagen! Warum freust du dich nicht einfach für mich?" Dann hielt er kurz inne und plötzlich stahl sich ein seltsamer Ausdruck in sein Gesicht. "Ah, jetzt versteh' ich. Du bist neidisch."

"Bitte was?" Jan verstand überhaupt nichts.

"Na klar, weil es für mich eine Heilung gibt und für dich nicht, bist du neidisch auf mich. Super. Ein toller Freund bist du!" Daniel wollte gehen, doch Jan hielt ihn zurück und schrie ihn mit bebender Stimme an.

"Sag mal, hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?! Was willst DU denn bitte für ein Freund sein, wenn du mit solchem Dreck ankommst? Was hat bitte meine Krankheit mit deinen Heilungschancen zu tun? Gar nichts! Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Experimentelle Studien sind, wie der Name schon sagt, experimentell. Es könnte dir damit auch viel schlechter gehen als mit einer konventionellen Therapie. Außerdem bist du in 'nem Frühstadium, da ist die Prognose doch eh tausend Mal besser als wenn du schon Metastasen hast."

"Bist du jetzt unter die Ärzte gegangen oder was?"

"Nein, das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Aber der ist dir ja offensichtlich abhandengekommen."

"Ach ja, so siehst du das also. Gut, dann denke ich, dass ich dir nichts mehr zu sagen habe."

"Ich will auch nichts mehr hören!"

"Schön. Mach's gut." Daniel öffnete die Tür und verschwand nach draußen.

"Werd' ich." Jan knallte die Tür hinter ihm zu, lehnte sich dann schwer atmend dagegen und sank langsam auf den Boden. "Fuck!" rief er laut und schlug mit der Faust auf den Boden. Dann zog er die Beine an, umschlang seine Knie mit den Armen und vergrub weinend den Kopf darin.

3

Der Tag verging rasend schnell und das, obwohl Jan nicht viel mehr machte, als am Fenster zu stehen und über die Dächer der Stadt zu starren. Es hatte wieder zu regnen angefangen und der feine Sprühnebel legte sich wie ein Vorhang vor sein Sichtfeld. Jan fragte sich, wie sein Leben nur so verkorkst hatte werden können. Er hätte eigentlich alles so einfach haben können, wenn er nur so gelebt hätte, wie man es von ihm erwartet hatte. Aber er musste sich natürlich den steinigen Weg raussuchen, der ihn entlang eines düsteren Abgrundes ins unergründliche Nirgendwo führte.

Denn genau das war es, wo er sich gerade befand: Er hatte einen Punkt erreicht, an dem er weder wusste, ob das besser war, was hinter ihm lag oder das, was noch kommen sollte. Er kannte diese Gedanken gut aus der Anfangszeit seiner Erkrankung und hatte sie eigentlich schon lange erfolgreich verdrängt. Aber seine Gefühle für Daniel und diese ganze verfahrene Situation im Allgemeinen ließen ihn daran zweifeln, ob das nicht alles Selbstblendung gewesen war. In seinem Körper tickte eine Zeitbombe, still, aber unaufhaltsam. Falls die Krankheit wirklich ausbrechen sollte, wusste er, dass niemand an seiner Seite war, um den letzten Weg mit ihm zu beschreiten.

Miguel nicht mehr und Daniel würde es nie sein.

Es klingelte. Jan wandte sein Gesicht müde von der Scheibe ab und starrte unschlüssig zur Tür. Er hatte eigentlich keinerlei Lust auf egal welchen Besuch. Sein unbekannter Besucher sah das aber anders, denn er gab nicht auf. Schließlich löste sich Jan doch vom Fenster und öffnete die Tür.

"Boah, siehst du scheiße aus!"

"Danke für die Blumen."

"Immer doch. Kennst mich ja", meinte Friedrich grinsend und drückte sich an Jan vorbei in die Wohnung. "Hm, viel hat sich hier ja nicht geändert. Ist immer noch so spießig und langweilig."

"Dann solltest du mein Schlafzimmer anschauen", meinte Jan lahm.

"Soll das etwa ein Angebot sein?", lachte Friedrich und ließ sich auf dem Sofa nieder. "Schön dich mal wieder zu sehen."

"Ebenso", murmelte Jan eher zu sich selbst.

"Vielen Dank auch für die stürmische Begrüßung", meinte Friedrich erst etwas ärgerlich, setzte dann aber eine besorgte Miene auf. "Sag' mal, dir geht's wirklich nicht gut, oder?"

"Ach was. Sieh mich an: Ich bin das blühende Leben", erwiderte Jan sarkastisch.

"Eher das VERblühende Leben. Wirken die Medis nicht mehr?"

"Nee, die wirken sogar viel zu gut. Zumindest die Nebenwirkungen." Jan grinste schief und setzte sich Friedrich gegenüber.

"Dann kann es ja bloß um 'nen Typen gehen", schlussfolgerte dieser. "Miguel? Ich dachte, das Kapitel wäre…"

"Ach es geht nicht um Miguel", wehrte Jan ab.

"Sag bloß. Du hast doch nicht etwa 'nen Neuen. Mensch das freut mich aber. Wie…"

"Würde ich so scheiße aussehen, wenn dem so wäre?"

"Hm, ja ok. Natürlich nicht. Also mal raus mit der Sprache."

Jan holte tief Luft und erzählte Friedrich alles haarklein.

"Puh das ist ja ein ganz schön heftiges Ding", sagte der und blies die Backen auf. "Und ich dachte, es wäre ein einfaches Problem, bei dem ich dir mit einem einfachen Ratschlag dienen könnte. Aber das ist ja ganz schön verzwickt."

"Wem sagst du das."

"Wenn er dich nicht geküsst hätte, wäre meine Antwort eigentlich klar: Lass die Finger von dem, das kann dir nicht gut tun. Aber selbst in Ausnahmesituationen sollte man so eine Reaktion nicht unterschätzen. Oder gerade deswegen. So ein Schock lässt einen leicht die Kontrolle verlieren. Vielleicht war das eigentlich sein wahres Ich."

"Na vielen Dank auch. Das rede ich mir auch ein."

"Vielleicht ist dann ja was Wahres dran." Friedrich grinste. Dann stand er auf. "Was hältst du von einem altmodischen Männerabend. Wir zwei, viele Bars und noch mehr Alk. Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht."

"Musst du nicht zu Marlies?"

"Nein, die ist die Woche über mit ihren Mädels in ein Wellness-Hotel abgehauen. Bin, wie man so schön sagt, Strohwitwer."

"Dafür müsstet ihr erstmal verheiratet sein", meinte Jan, dem die Idee von einem alkoholgetränkten Abend mit Friedrich sehr gefiel.

"Also darüber haben wir auch noch einiges zu besprechen. Aber jetzt erstmal los!"

 

"Also das sind doch mal endlich gute Nachrichten!", rief Jan freudig, als Friedrich nach dem dritten Bier endlich damit herausgerückt hatte, dass er und Marlies in einem Monat heiraten würden.

"Ich nehme an, von deiner feinen Verwandtschaft hat dir bis jetzt noch keiner was davon erzählt, oder?"

"Nein, wieso?"

"Naja, wir sind immerhin schon fünf Monate verlobt."

"Und warum hast du mir nichts gesagt?" Jan war jetzt ein klein wenig sauer.

"Ich dachte eigentlich, dass sie dir wenigstens DAS selber sagen."

"Pah, da kennst du den Haufen aber schlecht. Für die bin ich doch ein Aussätziger, ein Kapitel der Familiengeschichte, das sie am liebsten ausradieren würden. Mein Vater und mein Bruder würden sich eher auf die Zunge beißen, als mir sowas zu erzählen. Am Ende würde ich noch auf der Hochzeit auftauchen und alle mit meinen Schwulitäten in Verlegenheit bringen."

"Naja, eigentlich hätte ich schon gerne, dass du…"

"Dass ich komme?" Jan lachte trocken auf. "Nimm's mir bitte nicht übel, aber ich verzichte gerne auf dieses Gesinde. Weißt du, nicht einmal meine Schwester ist ja auf die Idee gekommen, es mir zu sagen. Und wenn die Braut das tut, sollte mir das zu denken geben."

"Ach komm, ich kann ja mal mit Marlies reden. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt."

"Viel Glück, aber du versuchst ja nicht, ihre Meinung zu ändern. Sondern die Einflüsterungen meines Vaters, der viel zu lange Einfluss auf sie hatten. Es wird schwer, dagegen anzukommen. Man kann meinem Vater vorwerfen, was man will, aber zu sagen, er wäre nicht überzeugend, wäre die größte Lüge des Jahrhunderts."

"Vielleicht ist genau das ja das Problem", gab Friedrich zu bedenken.

"Ja, das mag sein, aber…Shit! Was will der denn hier?" Jan schrumpfte in sich zusammen und duckte sich hinter Friedrich weg.

"Was ist denn?" Friedrich drehte sich um und suchte mit seinen Augen den Raum ab. "Wer ist denn da?"

Jan deutete zur Tür. "Siehst du den Typen mit den halblangen dunkelblonden Haaren, der mit der schwarzhaarigen Frau?"

"Ja."

"Das ist Daniel", hauchte Jan. Mit einem Mal war seine ganze gute Stimmung wie weggeblasen. Friedrich hatte es bis zu diesem Moment geschafft, Jans schlechte Laune zu vertreiben.

"Oh Mann, das nenn' ich mal Pech. Sollen wir gehen?"

"Nein, wart mal. Vielleicht gehen sie wieder. Und vielleicht sieht er mich gar nicht. Oder wenn doch, ignoriert er mich eh."

Doch Jan irrte mit all seinen Vermutungen.

"Hey Jan!", rief Daniel und kam, seine Frau im Schlepptau, auf ihn zu. "Schau mal, Becki, das ist der wildfremde Typ, mit dem ich letztens die Nacht zum Tag gemacht hab."

"Ah, Sie sind also doch keine Ausrede meines Mannes für eine Affäre", sagte die Frau mit einem engelsgleichen Lächeln auf den Lippen. Jan verstand sehr gut, was Daniel an ihr fand. Rebecca war wirklich eine wunderschöne Frau. Hätte Jan nicht hundertprozentig auf Männer gestanden, wäre sie sicher ein Grund gewesen, mal wieder einen Abstecher in andere Gefilde vorzunehmen.

"Wie man's nimmt", murmelte Jan so leise, dass nur Daniel es verstehen konnte, dessen Gesicht sich von einem Moment zum andern zu Stein verwandelte. Er sah Jan flehend an.

"Was haben sie gesagt?", fragte Rebecca.

"Ich? Ah, nichts", meinte Jan und sah Daniel fest in die Augen, obwohl er weiterhin mit ihr redete. "Ihr Mann ist ja ein wirklicher Partylöwe. Sieht man seinem spießigen Äußeren gar nicht an."

Rebecca lachte ein glockenhelles Lachen. "Sie ahnen ja gar nicht, wie spießig er ist. Er sortiert sogar seine Socken nach Farbe."

Jan musste grinsen. "Ist das so, ja?" Diese Frau war ihm sympathisch. Und das gefiel ihm überhaupt nicht, denn Leuten, die er mochte, konnte er im Allgemeinen nicht den Partner ausspannen. Jan was denkst du da schon wieder für einen Müll?!

"Sie übertreibt", ging Daniel mit einem gequälten Grinsen dazwischen.

"Ach Schatz, du darfst ruhig zu deinen Schwächen stehen. Oder was meinen Sie dazu, wo Sie quasi den Gegenentwurf zu Daniels Leben verkörpern?"

"So ein bisschen Ordnung im Leben kann nicht schaden", meinte Jan, war aber schon lange nicht mehr wirklich bei der Sache. Rebecca hatte ihm gerade zugestanden eine Art Ergänzung zu Daniel zu sein, denn Gegensätze zogen sich ja bekanntlich an. Außerdem hatte er gerade das Gefühl, dass Daniel die Sache nicht mehr geheuer war. Offensichtlich passte es ihm nicht, dass seine Frau sich mit Jan verstand. Naja selber schuld, dachte Jan. Wäre er halt nicht rübergekommen.

"Oh schau mal, Schatz", sagte da Daniel. "Da sind Lisa und Leon. Jan, war schön dich zu sehen." Dann legte er seinen Arm um Rebeccas Schultern und zog sie mit sich.

"Ich fand es auch nett, Sie kennenzulernen", meinte die nur noch schnell zu Jan, ehe sie mit ihrem Mann im Gedränge verschwand und sich zu einem weiteren Pärchen gesellte, das an einem Tisch am anderen Ende des Lokals Platz genommen hatte.

"Interessanter Auftritt", murmelte Friedrich.

"Das kannst du laut sagen. Was hältst du so von ihm?"

"Hm, lass mich das bitte beantworten, wenn wir wieder zu Hause sind, ja?"

Jan nickte. Doch Friedrich hätte diesen Satz nicht sagen dürfen, denn jetzt konnte Jan keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wollte jetzt wissen, was sein bester Freund über Daniel dachte. Und eigentlich hatte er sich ja an diesem Abend entspannen wollen, aber egal welches Thema sie auch anschnitten, in seinem Kopf spukte nur Daniel herum.

Dieser jedoch schien sich ohne Jan köstlich zu amüsieren, denn immer wenn Jan zu dem anderen Tisch hinübersah, war Daniel tief in irgendein Gespräch verwickelt oder schlabberte Rebecca ab. Irgendwann hielt es Jan nicht mehr aus.

"Können wir vielleicht woanders hingehen?"

"Daniel?", mutmaßte Friedrich. Jan nickte nur. Friedrich nickte ebenfalls und so zahlten sie und gingen. Draußen empfing sie kalter Wind und Nieselregen.

"Na super", brummte Jan, dessen Laune ohnehin schon im Keller war.

"Du wolltest doch gehen", meinte Friedrich und obwohl Jan es nicht sehen konnte, wusste er, dass er dabei grinste.

"Ja, sorry, aber ich konnte nicht noch länger dasitzen und ihm dabei zusehen, wie er seine Frau halb aufgefressen hat."

"Och, das hat er eigentlich die wenigste Zeit gemacht."

Jan sah Friedrich erstaunt an, auf dessen Gesicht sich tatsächlich ein überbreites Grinsen ausgebreitet hatte.

"Was gibt's denn da so dämlich zu grinsen?"

"Wart's ab, bis wir zu Hause sind." Und damit hüllte er sich, bis sie in Jans Wohnung waren, tatsächlich in ein grinsendes Schweigen.

"Jetzt spuck's schon aus, Mann", rief Jan ganz hibbelig, kaum dass er seine Schuhe hastig abgestreift und die nasse Jacke über die Sofalehne geworfen hatte.

"Sei doch nicht so ungeduldig." Friedrich grinste und ging gemächlich zum Beistelltisch mit dem guten Whiskey. "Möchtest du auch?", fragte er absichtlich extrem langsam und gedehnt.

"Verdammt, hör auf mich auf die Folter zu spannen, Mann!"

Friedrich ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern schenkte sich in aller Ruhe ein Glas Whiskey ein und ließ sich wohlüberlegt auf dem Sofa nieder.

"Also", begann er und schwenkte das Glas bedächtig hin und her.

"Also, was?", fragte Jan, der seinem Freund am liebsten den Hals umgedreht hätte.

"Ich denke, du hast tatsächlich Chancen bei ihm."

"Was?" Jan Stimme überschlug sich beinahe. Ein solch lapidarer Satz und doch war es mehr, als er je zu erhoffen gewagt hätte. "Meinst du, wirklich?"

"Ich würde dich in einer solchen Situation nie anlügen Jan. Du meinst, er hätte die ganze Zeit an den Lippen seiner Frau gehangen, oder? Das hat er vielleicht auch. Aber nur, wenn du hingesehen hast. Immer wenn er dachte, du schaust nicht, hat er rübergesehen. Relativ offensichtlich sogar. Es wundert mich eigentlich, dass du es nicht bemerkt hast."

"Ich…vielleicht…ich", Jan fehlten die Worte. Sollte das etwa bedeuten, dass Daniel vielleicht doch mehr von ihm wollte als Beistand während der Krankheit?

Friedrich stand auf und legte ihm lächelnd die Hand auf die Schulter. "Du solltest auf jeden Fall dranbleiben, wenn dir was an ihm liegt. Ich finde das Ganze zwar etwas unschön, wegen seiner Frau, aber das ist primär sein Problem und nicht deins. Und daher werde ich dir nicht raten, auf sie Rücksicht zu nehmen, denn dein Daniel wird wohl nicht von heute auf morgen seine schwule Ader entdeckt haben."

"Er ist nicht mein Daniel", wandte Jan wenig überzeugt ein. Friedrichs Beobachtung und Einschätzung hatten ihn geradezu euphorisiert.

"Aber du hättest das gerne."

Jan nickte und in seinem Kopf spielte die Phantasie verrückt und malte ihm ein Leben an Daniels Seite in den wunderschönsten Farben vor. Er plante weite Reisen mit ihm, exotische Strände, wo sie sich zum Sonnenuntergang im Sand liebten und sich nackt in den Wellen wälzten. Gemütliche Berghütten, wo sie der Kälte trotzend vor einem prasselnden Kaminfeuer auf einem Bärenfell Sex hatten. Waldspaziergänge, wo sie es in freier Natur treiben konnten. Und und und. Jan schüttelte den Kopf. So ein Blödsinn. Erstens waren das unglaublich kitschige Abziehbilder von Pornofilmen und zweitens war er nicht mit Daniel zusammen.

"Ich will gar nicht wissen, was du grade denkst", unterbrach ihn Friedrich. "Aber dein Gesichtsausdruck sagt alles." Er grinste. "Du sag mal, macht's dir was aus, wenn ich hier penne? Ich bin zu müde, um heimzufahren und außerdem erwartet mich dort nur ein leeres Bett."

"Mein Bett bleibt aber tabu für dich", erwiderte Jan lachend.

"Mist", fluchte Friedrich im Spaß und warf sich auf das Sofa. "Hier ist es bestimmt auch ganz gemütlich."

"Das ist auch besser so. Stell dir mal vor, mein Vater erfährt, dass du mit mir in einem Bett geschlafen hast. Der jagt dich sofort zum Teufel", witzelte Jan.

"Ich finde es wirklich großartig, wie du damit umgehst."

"Was? Dass ich einen ignoranten Affenarsch als Vater habe? Was soll ich schon andres machen? Nachweinen werde ich dieser ganzen Mischpoke sicher nicht. Wer mich nicht als Sohn will, hat mich auch nicht verdient."

"Gesunde Einstellung, ein wahres Wort. Gute Nacht."

"Nacht." Jan ging ins Schlafzimmer und warf sich, so wie er war, aufs Bett und schlief sofort ein. Er träumte natürlich von Daniel.

 

Am nächsten Morgen wurde er unsanft von der Türklingel geweckt, die jemand aufs ausgiebigste vergewaltigte. Er taumelte durchs Wohnzimmer, wo kein Friedrich mehr lag und murmelte nur vor sich hin. "Ist ja gut, ich komm' ja schon."

Als er die Tür öffnete, hätte er sie am liebsten sofort wieder zugeknallt, aber Miguel hatte schon seine Fuß in Position gebracht und dieses Vorhaben blockiert.

"Guten Morgen Sonnenschein", sagte er gutgelaunt und drückte sich in die Wohnung, als Jan weder Anstalten machte, zu grüßen oder ihn herein zu bitten.

"Was soll daran gut sein, wenn du hier auftauchst?", brummte Jan.

"Du bist echt nachtragend, weißt du das?"

Jan hätte ihm am liebsten einen saftigen Schlag auf die Nase verpasst. "Ich hab' ja auch allen Grund dafür. Du hast mich sitzen gelassen, als ich dich am meisten gebraucht habe und…"

"Und deshalb bin ich ja hier. Ich möchte das gerne wieder gutmachen und die verlorene Zeit mit dir nachholen."

"Danke kein Bedarf."

"Auch nicht hierfür?", fragte Miguel und hielt zwei weiße Papierschnipsel hoch.

"Was ist das bitte?", wollte Jan wenig interessiert wissen.

"Karten für 'Schwanensee' heute Abend."

Jan hätte Miguel am liebsten umgebracht. Der wusste ganz genau, dass er eine Schwäche für Tschaikowskys Musik hatte.

"Wusste ich doch, dass dir das gefällt", meinte Miguel und auf seinem Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.

"Ja, wenn du nicht mitgehst."

"Jan, du tust mir Unrecht. Ich will wirklich alles wiedergutmachen, was ich angerichtet hab'." Miguels Gesicht nahm einen leicht gequälten Ausdruck an.

"Tja, da bist du leider etwas zu spät dran. Ich brauch' dich jetzt nicht mehr."

"Achja wegen dieses Daniels? Der ist doch verheiratet und hetero. Was sollte der dir geben können, was ich nicht…"

"Woher weißt du das?", zischte Jan und packte Miguel am Jackenkragen.

"Ich mache eben meine Hausaufgaben. Ich dachte zuerst, er wäre vielleicht Konkurrenz für mich. Aber ich denke, dass ich da nichts zu befürchten habe."

"Verschwinde!" Jan schleifte Miguel zur Tür.

"Die kleine Hete hat's dir ja wirklich angetan. Schade, ich dachte eigentlich, wir zwei hätten mal wieder Spaß haben können."

"Wenn du in meiner Nähe bist, kann ich keinen Spaß haben. Und jetzt raus hier!" Jan riss die Tür auf und starrte entsetzt auf Daniel, der vor der Tür stand und gerade die Hand zur Klingel gestreckt hatte.

"Oh", sagte er nur und sah abwechselnd zwischen Miguel und Jan hin und her. Offensichtlich wusste er nicht so recht mit der Situation umzugehen.

"Hi, Daniel", meinte Jan daher. "Sorry, ich muss nur schnell den Müll rausbringen." Damit beförderte er Miguel an Daniel vorbei nach draußen, packte Daniel am Arm, zog ihn mit sich nach innen und schloss die Tür.

 

11. It could be our secret - http://www.youtube.com/watch?v=sZUR3Z23mp8

 

"Das hast du doch ja wohl nicht nur wegen mir gemacht, oder?"

"Nein, er hat sowieso genervt. Was kann ich für dich tun?"

Daniel druckste etwas herum. "Ich…also…es…ich…Ich wollte mich entschuldigen. Für mein Verhalten gestern."

"Ach es hat mir nichts ausgemacht, deine Frau kennenzulernen. Sie ist echt nett."

"Was?" Daniel blinzelte etwas verwirrt. Dann aber schien er zu verstehen. "Oh achso, das meinst du. Nein, ich meinte, dass ich dich so angemacht hab' wegen der Studie und dem Zeug. Das war echt keine Glanzleistung von mir." Daniel trat einen Schritt näher und legte seine Hand auf Jans Hand. "Tut mir echt leid."

"Schon in Ordnung", sagte Jan, nur mühsam beherrscht, da ihn die Berührung fast verrückt machte.

"Stimmt irgendwas nicht?" Daniel sah irgendwie bedrückt drein und zog seine Hand zurück.

"Ach, ich weiß nicht", meinte Jan gedehnt und drehte sich weg. "Ich werd einfach nicht schlau aus dir."

"Wie meinst du das?"

"Einmal bist du unheimlich nett zu mir und lässt es zu Zärtlichkeiten kommen und im nächsten Moment baust du wieder deine Mauer auf. Deine Gegenwart macht mich irgendwie glücklich und zugleich auch wahnsinnig. Ich kann nicht mehr klar denken und…"

"Du bist wirklich ziemlich in mich verliebt, oder?"

"Ja, verdammt! So wie mit dir ging's mir noch nie. Aber irgendwie hab' ich das Gefühl, dass ich für dich nur 'ne Art Ladestation bist, wo du deine Batterien mit Homo-Energie volltankst. Und wenn die Erinnerung an den letzten Kuss oder die letzte Berührung mit mir wieder verblasst ist, musst du wieder herkommen, um sie wieder aufzuladen."

"Was ist das denn für ein Blödsinn", fuhr Daniel ihn an.

"Das ist es, wie es sich für mich anfühlt, Daniel. So komm ich mir vor, wenn du mich ständig an dich ranlässt, um mich dann doch wieder wegzustoßen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalt'."

"Das wusste ich nicht", meinte Daniel und blickte niedergeschlagen zu Boden. "Okay, was hältst du davon: Heute Abend ist Becki mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren. Das heißt, ich hätte Zeit, was mit dir zu unternehmen."

"Ich darf mal wieder Ersatzspieler sein. Wie toll!"

"So war das nicht gemeint! Ich würde die Erfahrungen mit dir gerne vertiefen, aber eben langsam. Verstehst du? Es könnte ja sowas wie unser Geheimnis sein."

"Ja, okay. Aber was könnten wir da denn machen. Ich…Hey, was ein Zufall." Jan hatte gerade entdeckt, dass Miguel die Ballett-Karten auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Offenbar hatte er gehofft, dass Jan es sich anders überlegen würde. Jetzt würden die Karten eben einem ganz anderen Zweck dienen.

"Wie wär's mit Ballett?", fragte Jan und musste wegen Daniels Reaktion grinsen. "Ja ich weiß, das ist schon gleich ein Hardcore-Programm. Aber ich finde Tschaikowskys Musik einfach unschlagbar."

"Tschaikowsky? Den find' ich ja auch klasse." Daniel strahlte und auch Jans Laune war nun so gut wie schon lange nicht mehr.

"Dann bis heute Abend. Holst du mich hier ab?"

Daniel nickte. Dann drückte er Jan wieder überraschend einen Kuss auf die Wange und verschwand. Jan sah ihm nachdenklich hinterher. Ob das so eine gute Idee gewesen war?

 

Den ganzen Tag über konnte Jan keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er hatte tatsächlich ein Date mit Daniel. Und noch dazu eines, bei dem im Hintergrund wirklich traumhafte Musik laufen würde. Während er das berühmte Schwanensee-Thema summte, schwebte er geradezu durch den Raum. Er fühlte sich wie auf Wolken und so gut wie schon lange nicht mehr. Er hasste eigentlich kitschige Aussagen, wie dass Daniel der Mann seiner Träume war, aber genau das traf zu. Jedes Mal, wenn Jan die Augen schloss, konnte er dessen Gesicht sehen, seine Küsse schmecken, seinen Duft riechen, seine Stimme hören, seine Haut fühlen.

Es wäre wirklich perfekt gewesen, hätte nicht eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf eindringlich auf ihn eingeredet. Er macht nur was mit dir, weil Becki nicht da ist. Er will doch gar nichts von dir. Er benutzt dich nur. Aber heute schaffte Jan es, diese Stimme zu ignorieren, denn er freute sich viel zu sehr, um den Einflüsterungen nachzugeben und ins Grübeln zu geraten. Daher warf er sich in seinen schicksten Anzug und genehmigte sich endlich auch seit langer Zeit wieder einmal einen Schluck des Whiskeys. Er hatte wirklich vergessen, wie gut der eigentlich war.

Und so saß er auf dem Sofa und verfolgte ungeduldig, wie die Zahlen auf der Digitaluhr langsam, furchtbar langsam, nach oben kletterten. Doch allzu lange musste er sich nicht in Geduld üben, denn es klingelte schon eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin. Jan riss voller Freude die Tür auf und sein Herz überschlug sich förmlich, als er Daniel sah.

Dieser hatte seine Haare mit viel Gel nach hinten gekämmt, wodurch sein Gesicht noch deutlicher und schöner zu Tage trat. Zudem trug er plötzlich eine Brille mit einem dunklen Gestell, die ihm ein sehr intellektuelles Aussehen verlieh. Dazu der Anzug – sicher einer von vielen – in hellem beige, der farblich perfekt zu ihm passte. Kurzum: Daniel sah einfach umwerfend aus.

"Du…wow!", war auch alles, was Jan herausbrachte. Daniels Wangen wurden etwas rot.

"Dir gefällt's also?"

"Gefallen ist gar kein Ausdruck. Du siehst einfach verdammt…verdammt…hm ich weiß gar nicht wie ich das beschreiben soll. Eigentlich wäre ich dafür, dass der Anzug sehr gut zu meinem Teppich passen würde." Jan war sich nicht sicher, ob Daniel das nicht vielleicht falsch verstehen würde, aber der hatte sich anscheinend vorgenommen, Jan zu beweisen, dass er nicht so wankelmütig war, wie ihm vorgeworfen wurde.

"Witzig", konstatierte er nur und sah auf die Uhr. "Wir haben zwar noch Zeit, aber hast du was gegen einen kleinen Spaziergang?"

"Natürlich nicht." Jans Herz machte Luftsprünge.

"Gut." Sie gingen beide los, doch sobald sie Jans Wohnung verlassen hatten, legte sich ein unangenehmes Schweigen zwischen sie, für das Jan keine Erklärung hatte, das er aber auch irgendwie nicht beenden konnte. Zumindest fiel ihm nichts Passendes ein.

Als sie das Gebäude verließen, wehte ihnen der Wind wieder einmal feinen Nieselregen ins Gesicht. Daniel schnaubte.

"Na toll, das war gerade aber noch nicht."

"So schlimm ist das ja nicht."

"Doch jetzt werden wir nass. Vielleicht sollten wir wieder reingehen."

"Ach was, sei kein Frosch." Und damit stürmte Jan los, von Daniel dicht gefolgt. Als der ihn eingeholt hatte, packte Jan seine Hand und zog ihn an sich. Daniel japste kurz, doch ehe er sich weiter wehren konnte, hatte Jan ihn schon geküsst. Doch Daniel schob ihn weg.

 

12. Don't blame Tchaikovsky - http://www.youtube.com/watch?v=1uUfGnlsJ-w

 

"Was soll das?" fragte er und seine Stimme drückte nicht unbedingt Wohlwollen aus.

"Ich dachte, das hier ist ein Date?" Jan beschlich das ungute Gefühl, mal wieder zu viel gewollt zu haben.

"Ist es auch…oder...ich weiß nicht." Daniel setzte sich auf einer nahe gelegen Bank nieder. "Es fällt mir so verdammt schwer."

"Was?"

"Alles."

"Wie alles? Du wolltest doch einen Abend mit mir verbringen. Oder bin ich doch bloß billiger Ersatz für deine liebste Rebecca?" Jan stand direkt vor Daniel, unschlüssig, ob er sich neben ihn setzen oder lieber stehen bleiben sollte.

"Warum sagst du das immer so?"

"Was? Dass ich nur ungern als Lückenbüßer herhalte?"

"Nein. Bei dir hört sich das immer so an, als ob ich Rebecca gar nicht wirklich lieben würde."

"Tust du ja nicht."

"Nimm das zurück!" Daniel sprang auf und starrte Jan wütend an. Der Nieselregen verstärkte sich, die Tropfen wurden größer.

"Das ist die Wahrheit!" Jan schüttelte traurig den Kopf. "Ich hatte wirklich gedacht, dass wir heute Abend eine schöne Zeit haben könnten, aber das war reine Selbsttäuschung. Ich werde immer nur die zweite Geige spielen und ich denke nicht, dass ich das will."

"Soll das heißen…"

"Ja, genau. Ich denke, du musst dich langsam entscheiden."

"Entscheiden?" Daniels Stimme klang schrill. "Wofür denn?"

"Na für mich. Oder gegen mich. Denn ich will nicht nur deine Affäre sein, mit dem du mal ins Ballett gehst, wenn du wieder 'ne schwule Phase hast. Wenn du Tschaikowsky hören willst, tut's da auch 'ne CD."

"Ach Tschaikowsky ist mir doch scheiß egal!"

"Schieb jetzt die Schuld nicht auf Tschaikowsky, ja?! Der kann nichts dafür, dass du meinst, einfach mal schön zweigleisig weiter fahren zu können. Sowas gehört sich nicht, hat man das dir auf eurer Schule nicht beigebracht? Oder verstehst du das einfach nicht?" Mittlerweile regnete es in Strömen, aber beiden war das egal, denn sie starrten sich nur gegenseitig wutentbrannt an und Jan war klar, dass das mit dem Ballett heute sowieso nichts werden würde.

"Oh ja, der dumme Realschüler hat von nichts 'ne Ahnung! Weißt du, ich hatte nie was gegen Abiturienten – außer deinen Bruder – aber deine Bildung scheint dir ja irgendwie deine einzige Existenzberechtigung zu sein"

"Was quatscht du denn da?" Jan wusste wirklich nicht worauf Daniel hinauswollte.

"Dass du dich nur gut fühlst, wenn du weißt, dass andere vielleicht nicht ganz so klug sind wie du. So wie das mit der Studie. 'Oho sei bloß nicht zu euphorisch, blablabla. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich weiß ja alles.' Aber nur darüber profilierst du dich. Und weißt du auch warum? Weil du in deinem kaputten Leben sonst nichts vorzuweisen hast!"

"Und du willst das beurteilen, ja?" Jan blieb fast die Spucke weg, ob der Dinge, die Daniel ihm an den Kopf warf. "Du, der in seiner spießigen kleinbürgerlichen Welt lebt und sie für das Paradies hält. Und dabei merkst du nicht einmal, dass es in Wirklichkeit ein Gefängnis ist."

"Du kapierst es einfach nicht, oder?", schrie Daniel mit tränenerstickter Stimme, denn er hatte angefangen zu weinen, was Jan wegen des Regens zuerst gar nicht bemerkt hatte. "Ich hatte die letzten 26 Jahre nie Zweifel an dem, was ich tat oder wer ich war – nicht mal eine Sekunde lang. Und dann kommst du und stellst alles auf den Kopf. Du bist der, der nichts versteht. Nicht mal ansatzweise!" Und damit drehte er sich um und ließ Jan wortwörtlich im Regen stehen, dessen Zorn mit einem Schlag verraucht war, denn er hatte urplötzlich begriffen, was Daniel ihm damit sagen wollte. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, Daniel hinterherzulaufen. Stattdessen kramte er sein Handy aus der Tasche und wählte Miguels Nummer.

"Hey", meinte er schniefend. "Hast du noch Lust auf Ballett?"

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