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Das Blond des Erfolgs

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

Vorwort

Ich widme diese Story dem Lied, das mich dazu inspiriert hat. "Blond" von Rainhard Fendrich. Allein die Vorstellung, die in diesem Lied vermittelt wird, ist kurios, aber nicht abzustreiten. Natürlich musste ich das simple Konzept etwas ausbauen, aber die Grundidee verdanke ich diesem Lied. Ansonsten sei gesagt, dass eventuelle Ähnlichkeiten zu realen und fiktiven Vorlagen gewollt, aber nichtssagend sind. Sie dienen als Assoziationshilfen für den Leser, um ein gewisses Gefühl für die Figur zu entwickeln. Die Geschichte ist aber frei erfunden, die eventuellen Ähnlichkeiten sind daher keine Abbildung der Realität. Genug der langen Vorrede; viel Spaß beim Lesen.

Prolog - A star has gone

Schon als ich an diesem grauen Novembermorgen aufwachte, ging es mir nicht besonders. Ich wusste nicht, ob es die Nachwirkungen der Schlaftabletten waren, die ich am Abend genommen hatte, um wenigstens einmal durchzuschlafen. Scheiß Abistress. Ständig kreisten mir Prüfungsfragen durch den Kopf und das, obwohl bis zum Abitur noch ein halbes Jahr hin war. Ich war nie sonderlich gut in der Schule gewesen - dass ich es bis in die dreizehnte Klasse geschafft hatte, war schon verwunderlich - und daher hatte ich seit Schulbeginn fast jede Nacht Albträume von langen Tischreihen und vielen gestressten Schülern.

Ich schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit abzulegen, doch stattdessen gesellte sich Schwindel zu meinem allgemeinen Unwohlsein. So sollte ein Wochenende einfach nicht anfangen. Damit verfluchte ich auch gleich das Wetter, das mal wieder dafür sorgte, dass der Spätherbst bei mir total in Ungnade gefallen war. Grau in grau, nasskalt und stets furchtbar windig. Was hätte daran toll sein sollen?

Da ich nicht vorhatte, den ganzen Samstag auf meiner Bettkante zu verbringen, tastete ich vorsichtig auf dem Nachttisch nach meiner Brille und setzte sie langsam auf. Allmählich klärte sich mein Blickfeld. Von meinem Schreibtischstuhl, der direkt neben dem Bett stand, fischte ich meinen Morgenmantel herunter und warf ihn über. Ich gähnte ausgiebig. Was für eine Scheißwoche dachte ich, während ich mich langsam und vorsichtig in die Höhe drückte, um meinen Gleichgewichtssinn nicht über Gebühr zu strapazieren. Schwindel allein reichte. Übelkeit konnte ich nicht gebrauchen, einen Blackout schon gleich gar nicht. Das Wochenende sollte nicht da anknüpfen, wo die Woche geendet hatte.

Die Woche war zugegebenermaßen alles andere als gut verlaufen. Meine wenigen Freunde, die ich an meiner neuen Schule gesammelt hatte - ich war vor einem Jahr mit meiner Familie umgezogen - hatten wieder einmal deutlich gemacht, wie wenig sie von meiner Schwärmerei hielten. Aber sie verstanden das nicht, denn …

"Oh mein Gott!", entfuhr es mir unwillkürlich, als mein Blick in den Spiegel am Kleiderschrank fiel. Ich sah doch tatsächlich noch schlimmer aus, als ich mich fühlte. Meine Haare, ohnehin nie sehr ordentlich, standen wie nach einem Stromschlag von meinem Kopf ab. Quer über meine linke Wange und mitten auf der Stirn verliefen tiefe Abdrücke der Kopfkissennaht. Sie sahen aus wie Narben. Meine grünen Augen waren hinter den verklebten Augenlidern kaum zu erkennen.

Ich nahm die Brille ab und rieb mir die Augen aus, sodass ich wieder einigermaßen gut sehen konnte. Was natürlich ohne Brille so gut wie unmöglich war. Also setzte ich sie wieder auf und machte mich auf den Weg nach unten in die Küche.

"Jemand da?", rief ich laut, doch es kam keine Antwort. Wär ja mal was Neues gewesen. Von meiner Familie sah ich hochgerechnet nur aller paar Tage jemanden. Mein Bruder war schon ausgezogen und studierte irgendso 'nen Sozialpädagogik-Scheiß. Mein Vater war beruflich viel unterwegs und meine Mutter … Jaah, die Sache mit meiner Mutter war nicht gerade einfach. Sie nutzte die Abwesenheit meines Vaters für diverse Aktivitäten. Ich hatte mir längst zusammengereimt, dass es sich wohl um andere Männer drehte. Es war ohnehin allen klar, dass mein Vater nur wegen der steuerlichen Vorteile weiter bei uns blieb. Er war absolut kein Familienmensch.

Ich wollte mir gerade ein Nutella-Brot schmieren und ging dazu an den Schrank, als mein Blick auf den Küchentisch fiel. Leider war ich noch so sehr geistig im Bett, dass meine Hand die begonnene Bewegung vollführte, obwohl mein Kopf nicht mehr damit rechnete.

"Autsch, verdammte Scheiße!", fluchte ich laut, als ich mir die Türkante des Küchenschrankes, in dem das Nutellaglas stand, mit voller Wucht gegen die Stirn schlug. Eine warme, klebrige Flüssigkeit begann langsam zwischen meinen Augen hindurchzufließen. Zudem vernebelte der Schmerz mir meine gerade mühsam erkämpfte klare Sicht. Ich wischte mit dem Ärmel des Morgenmantels das Blut aus meinem Gesicht, zog ein Messer mit breiter Klinge aus dem Besteckkasten und betrachtete mich darin. Ich stöhnte auf.

Etwa einen Zentimeter über meiner Nasenwurzel prangte ein kleines, feuerrotes Dreieck. Hoffentlich gibt das keine Narbe. Ich hasste ohnehin genug an meinem Aussehen, da konnte ich so ein Mal mitten im Gesicht nicht auch noch gebrauchen. Ich hätte sicherlich noch Stunden über meine eigene Ungeschicktheit fluchen können, doch dann fiel mir der Grund für das Malheur ein.

Die Zeitung auf dem Tisch. Oder besser gesagt: Der Zettel, der über dem großen Bild auf der Titelseite lag. Ich nahm ihn hoch und las.

Hoffentlich nimmst du dir das nicht zu sehr zu Herzen, mein Schatz. Ich bin bald zurück. Tu nichts Unüberlegtes. Liebe Grüße, Mama.

Ich verzog das Gesicht. Warum konnte sie nicht akzeptieren, dass ich kein Kind mehr war, und mich endlich wie einen Erwachs… Ich erstarrte, als mein Blick erneut auf die Zeitung fiel. Von einem großen Bild, das die ganze erste Seite einnahm, lächelte mir ein nur zu bekanntes Gesicht entgegen. Ich las die Überschrift, doch ich weigerte mich es zu glauben, was dort stand.

Schnell knipste ich den Fernseher an, der in der Küche stand, und hoffte, dass darin etwas anderes gesendet wurde. Doch egal, auf welchem Programm ich landete, überall die gleiche Meldung.

"Mit großer Trauer …"

" … gestern Abend in seinem Haus …"

" … Polizei nicht von Fremdeinwirkung aus …"

" … Millionen von Fans zu Mahnwachen …"

Ich blieb bei einem Sender hängen, wo gerade ein englischsprachiger Herr im grauen Anzug interviewet wurde. Er stand vor einem Poster, von dem das allseits beliebte Gesicht herablächelte. Ein Dolmetscher übersetzte die Worte des zutiefst betroffenen Mannes.

" … und kann sagen, dass ich wohl einer der wenigen bin, die ihn wirklich kannten. Aus Deutschland nach Hollywood gekommen und zu einem der größten Schauspieler der Gegenwart aufgestiegen."

Ich hob kurz die Zeitung an und las nochmals den Titel: Pitt Bradley tot in Haus gefunden. Ich schüttelte nochmals ungläubig den Kopf, dann wandte ich mich wieder dem Interview zu.

" … unglaublicher Verlust für uns alle. Gestern Abend ist ein Großer unserer Zeit gegangen. Ein Stern ist verblasst." Da der Dolmetscher die Rede des Herren schneller übersetzt hatte, als der gesprochen hatte, hallten dem letzten Satz noch die Originalworte nach:

"A star has gone."

1 - Das Tagebuch des Pitt Bradley

Ich starrte noch weiter Minuten auf den Bildschirm, wo ein sichtlich bewegter Moderator sich für das Interview bedankte und dann kommentarlos zum Wetter überging. Es war, als bräuchte es einige Zeit, bis die Erkenntnis, dass mein großes Idol, mein Vorbild, mein Leben nicht mehr existierte. Ich begann heftig zu zittern und dann brach ich in einen minutenlangen Weinkrampf aus. Die furchtbare Woche hatte mit dem Samstag ihren unüberbietbaren Höhepunkt gefunden.

Obwohl der Fernseher in der Küche weiterlief, ging ich ins Wohnzimmer, knipse das Gerät dort ebenfalls ans und rollte mich auf dem Sofa zusammen. Ein Programm zeigte Bilder von Bradley, während im Hintergrund Colourblind von den Counting Crows lief - was meine Tränen nur noch verstärkte. Ich zappte weiter und sah Videoaufnahmen von trauernden Fans, die vor einem Meer aus Kerzen standen, das die Einfahrt zu Bradleys Haus blockierte. Könnte ich nur auch dort sein! Nur weil sie vor Ort waren, würden sie nun für die größten Fans gehalten. Doch das war teilweise einfach nur unglaubliche Heuchelei.

Viele von den "Fans" weinten erst dann, wenn die Kamera sie erfasste, warfen sich gerade dann heulend auf den Boden, wenn es am medienwirksamsten war. Klar gab es auch aufrichtig Trauernde, doch die waren weiter hinten, sie verlangten nicht nach einem Platz im Rampenlicht und hatten sich daher von den Sensationslüsternen vertreiben lassen. Ich fragte mich, wann wohl die Ersten von ihnen behaupten würden, Kinder von Bradley zu sein, oder seine "Freunde".

"Für alle diese trauernden Fans gibt es einen kleinen Trost in dieser schweren Zeit", sagte die Reporterin gerade, doch ihr Blick war keinesfalls mitfühlend, sondern kühl und professionell. Sie hatte so was wie das hier sicherlich schon oft gesehen und erlaubte es sich, nicht Gefühle zuzulassen. Doch was sollte schon ein Trost dafür sein, dass einer der größten - ach was, der größte Schauspieler aller Zeiten tot war.

"Wie wir aus einer vertraulichen Quelle erfahren haben, befand sich neben Bradleys Leiche ein Abschiedsbrief, in dem er all seine Habseligkeiten den Fans vermacht. Wie genau das vonstattengehen soll, ist ungewiss. Insider munkeln etwas von einer Art Verlosung. Genaueres erfahren sie morgen Abend, liebe Zuschauer, denn dann wird Bradleys Witwe Jolina Angle das Testament des Verstorbenen verlesen lassen. Wir sind …"

Verlosung? Seine Fans? Mit einem Mal wurde ich komplett aus meiner Trauer gerissen und eine knisternde Erregung legte sich über mich. Mir war nicht ganz klar, wieso, aber irgendwie hatte ich ein unbestimmtes Gefühl, dass etwas Großes geschehen sein musste. Welcher Star verloste schon sein Erbe. Seine Frau und ihr Sohn waren sicher nicht sonderlich amüsiert darüber. Was konnte das also bedeuten. Doch bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, klingelte das Telefon.

"Cedric Pottmann."

"Hey Ced. Hast du's schon gehört? Schrecklich …", schluchzte mir die vertraute Stimme von Katrin entgegen. "Er war doch noch so jung … und … und … so … SCHÖN!" Sie nieste offenbar in ein Taschentuch, denn vom anderen Ende der Leitung drang ein lautes Trompeten zu mir.

"Ja ich kann's auch kaum fassen", meinte ich und meine Stimme begann ebenso wie ich wieder zu zittern. Die Freude über die Verlosung machte erneut der Trauer über den Verlust Platz.

"Stimmt, du musst so was wie sein größter Fan gewesen sein. Ich mein, du hast ihn vergöttert, oder?"

"Ja." Die Wahrheit war, dass vergöttert sogar ein bisschen zu schwach ausgedrückt war. Ich hatte Bradley geliebt und zwar fast fanatisch. Ich hatte ihm unzählige Briefe geschickt und immer wieder um Autogramme gebeten. Kein Einziger davon war unbeantwortet geblieben. Es war viel - nun ich will nicht prahlen, aber man konnte es wohl so bezeichnen - Intimität zwischen uns gewesen, wann immer ich ihm gestand, wie sehr ich in ihn verliebt war.

Hatte ich das vergessen zu erwähnen? Ja, ich war schwul, was es mir natürlich noch schwerer gemacht hatte, neue Freunde zu finden. Noch dazu mit meiner Obsession von Pitt Bradley. Jeder der mich halbwegs gut kannte, musste sich über kurz oder lang endlose Schwärmereien anhören, wie toll Bradley doch sei. Die Einzige, die mich verstand, war Katrin und die hatte ich in meiner alten Heimat zurücklassen müssen. Sie teilte die bedingungslose Anhimmelung meines Idols mit mir und wann immer wir zusammensaßen, gab es meist nur ein Thema.

Müßig zu erwähnen, dass das jetzt alles vorbei war, da ich in der neuen Stadt wohnte und mich mit meinem Lieblingsthema besser zurückhielt, wenn ich nicht vollends ohne Freunde dastehen wollte.

"Wie hast du's verkraftet, Ced?"

"Naja, es war schon ein Schock." Das war präzise genau der Grund, warum ich noch nicht ohnmächtig vor Heulen auf dem Boden lag. Ich weigerte mich einfach zu akzeptieren, dass Bradley tot war.

"Hoffentlich hast du die Beruhigungstropfen noch, die ich dir mal gegeben hab."

"Jaah. Die liegen in meinem Zimmer. Aber momentan geht's mir noch einigermaßen …" Ja was denn eigentlich? Gut? Sicher nicht. Schlecht? Das drückte es einfach nicht richtig aus. Also beließ ich es bei einem verhaltenen Schweigen und stellte es Katrin frei, den Satz zu Ende zu denken.

"Mensch, Ced, ich wär jetzt echt gern bei dir. Wir könnten uns bestimmt trösten. Hier versteht das sicher keiner."

"Bei mir is' es auch nich' anders", seufzte ich. "Jedes Mal, wenn ich bisher den Namen Bradley auch nur in den Mund genommen hab, wurde immer gestöhnt und mit den Augen gerollt. Ich vermiss dich!"

"Klar, Schätzchen. Ich dich ja auch. Aber jetzt mal kurz anderes Thema: Wie steht's mit den Kerlen bei dir? Is' was Leckeres dabei?"

Für einen Moment verschlug es mir die Sprache wegen dieser schnellen Themaänderung. Ich musste umschalten von Trauer und Trauerstimmung auf freundschaftliches, unbeschwertes Geplapper. Normalerweise ganz einfach, aber heute …

"Hm." Ich dachte nach. "Also momentan … nichts Neues: In der Schule nur Arschgeigen. Na ja fast. Die paar, die in Ordnung sind, sind aber alles Heten und außerdem vergeben. Mein Glück halt. Und sonst, weiß nich'."

"Was is' mit dem Typ aus Badminton, von dem du erzählt hast?"

"Ach, ich weiß nicht."

"Du hast dich immer noch nicht getraut, stimmt's? Du bist so ein Feigling! Kein Wunder, dass du immer noch Jungfrau bist!"

"Woher …?"

"Schätzchen, ich weiß alles über dich. Andrerseits ist das bei deinen Ansprüchen ja auch kein Wunder."

"Das sind überhaupt nicht meine Ansprüche. Mir wäre es egal, wie …"

"Du weißt genau, wie ich das meine! Du hast zu hohe Ansprüche an dich selbst! Ständig moserst du über dein Aussehen, ziehst unsinnige Vergleiche mit Filmstars wie … naja jetzt ja eher nicht mehr, sorry."

"Danke für die Erinnerung", knurrte ich.

"Ja, 'tschuldigung. Aber trotzdem: Du nimmst Aussehen viel zu ernst. Es gibt sicher welche, die dich so wollen, wie du bist."

"Hab ich aber noch nich' viele von gesehen."

"Vielleicht schaust du nur nicht gründlich genug?"

"Katrin, bitte! Pitt ist tot, ich hab keinen Nerv, über das Suchen und Finden von Sex zu sprechen."

"Ja versteh' ich. Also, falls du später noch mal jemanden zum Reden brauchst, ruf einfach an. Ich muss jetzt einkaufen. Bis bald." Sie machte ein Kussgeräusch, als ob sie das Telefon knutschen würde, dann legte sie auf.

Ich blieb zurück und sofort wünschte ich mir, dass das Gespräch noch nicht beendet gewesen wäre. Alleine in diesem Zimmer zu sein, während vor mir stumm die Glotze flimmerte und weiterhin Bilder von meinem Pitt darüber hinweghuschten. Es dauerte nicht lange, bis meine Augen erneut feucht wurden und das Bild von einem Schleier aus Tränen getrübt wurde. Aber ehe ich zu tief in die Trauer hinabsinken konnte, klingelte es an der Tür. Zuerst wollte ich nicht öffnen, doch nach dreimaligem hartnäckigen Läuten, gab ich auf es zu ignorieren und schlurfte zur Tür.

"Ced, du siehst scheiße aus!", wurde ich begrüßt und von Ronja, Dirk und Maya zur Seite gedrängt.

"Vielen Dank auch", knurrte ich säuerlich. "Was wollt ihr hier?"

"Nun wir haben's in der Zeitung und im Fernsehen gesehen und dachten, wir bringen dir was zur Aufmunterung vorbei."

Ich konnte einen fast sehnsüchtigen Blick auf die Straße nicht vermeiden, denn ich hoffte, dass dieses Etwas ein bestimmter Jemand war. Doch außer den Dreien war niemand mitgekommen und so schloss ich enttäuscht die Tür.

"Was denn?", fragte ich mäßig interessiert.

"SCHOKOLADE!"

"Ich bin eh schon so fett", maulte ich und kniff in meine - in Wahrheit recht kleinen - Speckröllchen am Bauch.

"Dann ist's ja eh schon Wurst", lachte Dirk und zog mehrere Tafeln Ritter Sport aus dem kleinen Einkaufsbeutel, den er bei sich trug.

"Jan hatte leider keine Zeit, er …"

"Ach komm schon, Ron, sag' ihm die Wahrheit!", unterbrach Dirk Ronja. "Jan hatte Angst, dass du ihm heulend um den Hals fällst oder ihm sonst irgendwelche Avancen machst." Er grinste und ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Dabei hätte ich es ja wissen müssen. Schließlich …

"Mensch, Di! Kannst du nicht einmal etwas sensibel sein?", tadelte Maya ihren Freund und küsste ihn flüchtig. "Ich versteh' echt nich, was ich an dir so toll finde."

"Bin halt gut im Bett."

Maya verdrehte die Augen. "Glaubt er", flüsterte sie dann Ronja und mir zu. Wir lachten. Es war schön, dass die wenigen Menschen, die ich meine Freunde nennen konnte, mich tatsächlich nicht vergaßen. Ich kannte die meisten von ihnen aus meinem Badmintonverein, an meiner Schule gab es dagegen fast nur Vollpfosten.

"Hey Ced, sollen wir hier festwachsen, oder was? Wie wär's, wenn wir schon mal hochgeh'n und du uns was zu trinken besorgst?"

Ich nickte.

"Übrigens: Hübsche Delle hast du da am Kopf." Dann waren Dirk und die beiden Mädels auch schon die Treppe nach oben verschwunden. Ich schaltete die beiden Fernsehgeräte aus, klemmte zwei Wasserflaschen unter den Arm, während ich in jeder Hand zwei Gläser trug, und folgte den anderen in mein Zimmer. Sie saßen auf meinem Bett und betrachteten interessiert das große Pitt-Bradley-Poster, das meine Wand zierte. Bei seinem Anblick spürte ich einen dicken Klos in meinem Hals.

"Sag mal, Ced, warum hast du eigentlich noch keinen Schrein für ihn errichtet?"

"Verdammt, Di!", fauchte Ronja. "Kannst du nicht einmal deine dämliche Klappe halten? Du siehst doch, wie bescheuert es Ced geht."

"Sorry, Mann." Dirk klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter, zuckte dann aber kurz zusammen und sah seine Hand irgendwie seltsam an. Ich wusste sofort warum und ohne Umschweife kam ich darauf zu sprechen.

"Hat Jan eigentlich noch mal mit euch gesprochen?"

"Darüber, dass du ihn vor versammelter Mannschaft abgeknutscht hast. Autsch! Was denn?" - Dirk hatte von Maya einen Stoß zwischen die Rippen erhalten - "Nein, darüber redet er mit niemandem."

"Oh Mann, das wollte ich nicht!" Ich konnte mir immer noch nicht erklären, wie das überhaupt geschehen war.

"Na ja. Ihr habt ein wichtiges Spiel gewonnen, da können die Emotionen schon mal hochkochen", meinte Ronja mitfühlend. "Wobei es natürlich schon etwas heftig …"

"Ich weiß!" Ich sprang vom Bett auf. "Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat. Es war einfach so schön, wir haben gewonnen und dann … dann … ach, was weiß ich!"

"Beruhig dich mal wieder." Maya grinste. "Du bist richtig süß, wenn du dich aufregst."

"Ja, is' echt schade, dass du nich' auf Mädels stehst." Ronja seufzte verträumt, schüttelte dann kurz den Kopf und setzte eine etwas ernstere Miene auf. "Also noch mal wegen Jan. Er redet nur deshalb nicht mit uns darüber, weil er wirklich mit keinem darüber spricht. Er weiß, glaub' ich, einfach nicht, wie er in Zukunft mit dir umgehen soll. Er mag dich als guten Freund und Teamkollegen, aber …"

" … mehr nicht, ich weiß, ich weiß, ICH WEISS!" Ich warf mich zwischen sie auf mein Bett und biss in mein Kopfkissen. "Warum hab ich nur so ein verdammtes Pech?"

"Hm, vielleicht, weil du lieber den da anhimmelst … ähm … angehimmelt hast." Dirk zeigte auf das Poster. Maya wollte ihn erneut knuffen, doch ich kam ihr zuvor.

"Ja, ich denke du hast recht. Pitt Bradley hat mein Leben einfach zu sehr bestimmt. Ich denke, das ist jetzt vorbei." Ich schniefte etwas.

"Ach komm schon, Ced." Dirk grinste. "Der Typ war genauso wie alle anderen Hollywoodstars. Eingebildet, arrogant …"

"May, ich weiß wirklich nicht, was du an diesem ungehobelten Klotz so toll findest", meinte Ronja kopfschüttelnd. Alle begannen zu lachen. Es war wirklich befreiend. Für einen Moment hatte ich Bradley vergessen.

Dann schaltete Dirk meinen Fernseher an.

" … weiter vor dem Haus ihres Idols", sagte die Reporterin. Sie setzte - ihrem Gesichtsausdruck nach - zu einem weiteren emotionsgeladenen Gefasel an, als ihr ein Blatt Papier vor die Nase gehalten wurde. Sie überflog die Zeilen, wobei ihre Augenbrauen immer höher wanderten, dann sammelte sie sich und trug die Neuigkeiten in einem Ton vor, der rein gar nichts mit dem geheuchelten Mitgefühl zuvor zu tun hatte.

"Liebes Publikum, wir haben so eben brandneue Informationen über das Testament von Pitt Bradley erhalten. Obwohl seine Frau es erst morgen verlesen will, sickerte aus Insiderkreisen bereits jetzt etwas hindurch. Offenbar hat Bradley verfügt, dass viele persönliche Gegenstände von ihm gewissermaßen …" Sie schien das Wort, das folgte, irgendwie nicht zu mögen. " …verlost werden sollen. Bradley wollte nicht, dass nur seine reichen Fans an die Gegenstände kommen, und hat daher keine Auktion angedacht. Auch soll die Verlosung nach einem Modus stattfinden, der nur die echte Fans als Gewinner auswählt. Wie das genau aussehen soll, nun, dafür müssen wir wohl bis zur offiziellen Testamentsverkündung warten."

Sie wandte sich wieder einem der weinenden Menschen zu. "Dieser trauernde Junge sah in Bradley sicher sein großes …" Ich schaltete ab.

"Hey, ich will das sehen!", protestierte Dirk.

"Dann geh nach Hause!"

"Ja, okay, sorry, Ced. Ich weiß, dass dir das Ganze schwerfällt. Aber vielleicht bekommst du ja eins von diesen Dingern, die verlost werden."

"Schön wär's."

"Na ja, du bist jedenfalls ein echter Fan."

"Wir werden sehen."


Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft hatte, in dieser Nacht überhaupt zu schlafen. Aber irgendwann zwischen vier und fünf Uhr morgens musste die Müdigkeit wohl doch übermächtig geworden sein. Entsprechend gerädert rollte ich mich um kurz nach neun aus dem Bett, weil heute ausnahmsweise mal mein Vater im Haus anwesend war und ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen wollte. Es fiel mir noch schwerer als am Vortag in den Spiegel zu sehen. Meine Augen waren verquollen, weil mich in der dunklen Einsamkeit der Nacht doch der Schmerz über den Verlust meines Vorbilds eingeholt hatte und auf meiner Stirn prangte eine feuerrot leuchtende, dreieckige Narbe.

Toll, dachte ich nur ärgerlich. Ich mochte mich ohnehin nur selten ansehen, da war so eine Verunstaltung nicht gerade förderlich. Auch nicht, wenn ich daran dachte, wie ich mir mit dem Ding jemanden angeln sollte, wenn dass ohne schon schwer genug gewesen war. Ich tappte ins Bad, schaufelte mir einen Schwall kalten Wassers ins Gesicht und hoffte einfach darauf, dass das mein unmögliches Aussehen wenigstens etwas verbessern konnte.

Der Blick in den Spiegel war ernüchternd. Ich seh' aus wie'n Besoffener, der in 'nen See gefallen ist. Scheiße verdammt! Ich schüttelte mürrisch den Kopf und beschloss, dass mir vielleicht eine Dusche eher zu einem frischeren Aussehen verhelfen würde. Also stellte ich das Radio an, schloss die Badezimmertür ab und ließ das Wasser warm laufen. Wer wollte schon kalt duschen? Ich wartete, bis Dampf aus der Duschkabine stieg, drehte das Wasser ab und den Hahn wieder soweit in die Mitte zurück, dass sich eine angenehme Temperatur einstellen sollte.

Gerade als ich aus meinen Boxershorts und in die Dusche geschlüpft war und das Wasser wieder laufen ließ, ertönte draußen anstelle von dudelnden Popsongs die aufgeregte Stimme eines Moderators.

"Gerade hat uns eine Eilmeldung erreicht. Offenbar hat Pitt Bradleys Witwe nicht bis heute Mittag mit der Testamentsverlesung gewartet, wie eigentlich geplant. Amerikanische Medien berichten, dass sie um Mitternacht kalifornischer Zeit - also vor circa zwanzig Minuten - vor die Kameras getreten ist."

Die Qualität des Audiomaterials verschlechterte sich etwas, man hörte spannungsvolles Murmeln und das nur zu bekannte Klicken von Fotoapparaten. Dann erklang eine weibliche, dennoch tiefe, weil verrauchte, Stimme, die - was sogar ich zugeben musste - ausgesprochen sexy wirkte. Sie sprach englisch, eine Dolmetscherin übersetzte etwas zeitverzögert.

"Dies ist das Testament von Pitt Bradley.

Bevor ich dazu komme, was mit meinen persönlichen Gegenständen geschieht, möchte ich mich erst einmal für die Trauer entschuldigen, die ich euch mit meiner Tat verursacht habe. Ich sah nur einfach keinen Ausweg mehr aus meiner … Misere."

Murmeln im Saal. Mir stockte der Atem. Man hatte lange vermutet, dass Bradley eigentlich schwul war und Jolina Angle nur aus werbestrategischen Gründen geheiratet hatte. Spielte dieser Satz etwa darauf an?

"Genaueres dazu kann und werde ich hier nicht mitteilen. Derjenige, der es herausfinden soll, wird es herausfinden. Allen anderen sei gesagt: Grabt im Schmutz, bis ihr schwarz werdet!

Nun also zu der sicher mit Spannung erwarteten - ich kenne die Aasgeier von Reporter, die sich sicherlich ohne mit der Wimper zu zucken auf die Tatsache meines Todes gestürzt haben - Verteilung meiner Habe. Meine Frau Jolina Angle soll die Hälfte meines Vermögens, sei es Bargeld oder Immobilen, erben. Die andere Hälfte geht an eine Stiftung der AIDS-Hilfe.

Aber das dürfte wohl die wenigsten wirklich interessieren. Wie ich die Journaille kenne, ist von vorrangigem Interesse, was mit meinen sehr persönlichen Gegenständen, wie meinem Tagebuch, alten Kinderfoto-Alben und dem sonstigen sentimentalen Krimskrams geschehen soll, weil der am besten für die Klatschpresse geeignet ist. Dazu sei gesagt, dass sie niemals einer von euch Blutsaugern zu Gesicht bekommen soll!

Ich vertraue meinen Fans - meinen echten Fans - und weiß, dass sie alles, was sie in meinem Nachlass finden, vertraulich behandeln werden. Daher sollen all diese Dinge, die sich auf nachfolgender Liste befinden, an meine Fans verlost werden. Und damit nicht die "Fans", die erst durch meinen Tod zu welchen geworden sind, denen, die mir von erster Stunde an treu ergeben sind, das was mir wichtig ist, wegschnappen, sollen bloß die Menschen an der Verlosung teilhaben dürfen, die mir zur Anfangszeit meiner Karriere einen Autogrammwunsch zukommen haben lassen.

Ich weiß, das sind nicht viele. Aber das sind die wahren Fans. Mein Anwalt wird in den kommenden Tagen nach einer von mir verfassten Liste alle infrage kommenden Menschen in die Verlosung mit aufnehmen und den Gewinnern dann das jeweilige Stück zukommen lassen.

Ich denke, damit ist alles gesagt. Lebt wohl,

Euer Pitt Bradley."

Jolina verstummte und der Radiosender brachte wieder den Moderator dran, der versuchte, das Gehörte irgendwie zu kommentieren. Ich stand nackt unter der Dusche, mit bereits eingeseiften Haaren und rührte mich keinen Millimeter. Das was ich da eben gehört hatte, war einfach zu unglaublich. Eine Verlosung. Und ich hab da 'ne ernsthafte Chance bei. Immerhin hatte ich Pitt schon immer bewundert. Schon seit ich zehn Jahre alt gewesen war, war er mein großes Vorbild gewesen. Er, so wie ich ein Außenseiter - ja damals war ich verdammt außen vor gewesen und das hatte sich nur etwas geändert - der durch seine zufällige Entdeckung zu einem der berühmtesten Schauspieler geworden war.

Und dann war da natürlich auch dieses Gerücht, das nie wirklich aus der Welt geschafft worden war und das mich noch enger mit Bradley verband. Vor allem vor seiner Hochzeit - aber auch danach - hatten sich immer wieder junge Männer in die Öffentlichkeit gedrängt und behauptet, sie hätten eine Affäre mit Bradley. Das Sexsymbol und der Traum unzähliger Mädchen sollte in Wahrheit auf Männer stehen? So unwahrscheinlich das klang, ich hatte es schon immer gehofft, seit ich Bradley als mein Idol bezeichnen konnte.

Natürlich wurde es von seinem Management stets dementiert - Bradley selbst gab aber nie auch nur einen einzigen Kommentar dazu ab. Er heiratete stattdessen Jolina Angle, was die Gerüchte weitgehend zum Verstummen brachte, aber eben nicht völlig. Hin und wieder war doch noch einer von denen aufgetaucht, die sich in der Berühmtheit Bradleys sonnen wollten. Da sie ihre "Geschichten" jedoch immer wieder nach kurzer Zeit fallen ließen, hatten Katrin und ich darüber spekuliert, ob nicht eventuell enorme Schweigegeldsummen gezahlt worden waren.

Ein wütendes Pochen an der Badezimmertür riss mich aus meinen Überlegungen.

"Bist du da drin eingeschlafen?", rief mein Vater. "Andre Leute wollen auch mal ins Bad!"

"Ja gleich." Ich zog mich flugs an und machte meinem Vater Platz. Dann rannte ich zum Telefon, um mit Katrin die Neuigkeiten zu besprechen.


Fünf Tage später, in denen die Medien wild darüber spekulierten, wer die ominösen Gewinner der persönlichen Wertgegenstände von Pitt Bradley waren, kam ich völlig geplättet von der Schule nach Hause. Wenn ich den Schuldigen dafür finden würde, der es zu verantworten hatte, dass Freitagnachmittag noch Unterricht stattfand, hätte dieser Jemand die längste Zeit seines Lebens Schüler gequält. Ja, okay, es war nur Sport, aber trotzdem war es eine Zumutung, im Gegensatz zu allen anderen Schülern Freitag nicht schon um eins nach Hause zu gehen.

Andrerseits erwartete mich zu Hause eh nur wieder die bekannte Einsamkeit, warum also eher dorthin zurück wollen? Ich ging zuerst in die Küche und wollte mir was zu trinken holen, da sah ich am Kühlschrank den obligatorischen Aufgabenzettel kleben. Ich zog ihn unter dem Magneten hervor und überflog ihn. Der übliche Mist. Kannst du bitte dies einkaufen [blablabla] Die Sachen dort müssten gewaschen werden [nerv]. Doch dann kam ein Absatz und mir blieb fast das Herz stehen. Da ist übrigens ein Päckchen für dich gekommen. Steht im Wohnzimmer.

Ich ließ den Zettel achtlos auf den Boden fallen, ebenso wie meine Schul- und Sportsachen, und ging ganz langsam ins Wohnzimmer. Ich kam mir vor wie ein Sprengstoffexperte, der auf eine hochempfindliche Bombe zuging. Dort auf dem Tisch lag ein hellbrauner Pappkarton, etwa dreißig mal vierzig Zentimeter breit und circa fünf Zentimeter hoch. Ich ertappte mich dabei, wie ich das Päckchen nur anstarrte und meine Hände zu zittern begannen.

Das muss überhaupt nichts heißen. Es könnte genauso gut … Ja was sollte es sein? Ich hatte nichts bestellt. Eigentlich konnte es nur … Aber das war absurd, dass ausgerechnet ich … Das wäre … Wenn du weiter blöd rumstehst, kriegst du's nie raus. Darum ging ich weiter ganz langsam auf das Paket zu. Irgendwie schien sich die Temperatur im Raum unglaublich zu steigern, denn ich begann auf einmal zu schwitzen. Mein Herzschlag pochte mir in den Ohren und meine Hände zitterten, als hätte ich Schüttelfrost, als ich das Paket vorsichtig anhob und auf einen Absender untersuchte.

Doch ich fand nichts. Also riss ich voller Spannung das Paketband auseinander und öffnete das Paket. Zuerst war ich etwas enttäuscht, weil ich nur zusammengeknülltes Papier sah, doch mir war schnell klar, dass das nur zum sicheren Transport hatte beitragen sollen. Ich schob also das zusammengeknüllten Papier auseinander und stieß auf ein in Leder gebundenes Album, auf dessen Vorderseite auf einem von goldenen Linien gerahmten Etikett stand:

Tagebuch des E. Bratling

E. Bratling? Enttäuscht starrte ich das Album an. Was sollte das denn nun? Ich wusste zwar, das Bradleys richtiger Name Bratling war, aber sein Vornahme begann nicht mit E. Was hatte ich da bloß "geerbt"? Ich sah noch mal ins Paket zurück und entdeckte unter alle dem zerknüllten Verpackungsmaterial noch ein Kuvert. Mit zitternden Händen fischte ich es heraus, öffnete es und faltete den Brief auseinander. Ich kannte die Handschrift. Bradley hatte mir ja schon öfter Briefe geschrieben. Und so begann ich die letzten Worte Pitt Bradleys an mich zu lesen.

Lieber, nun ja sagen wir, Erbe.

Du kannst dich glücklich schätzen, denn du hast meinen wertvollsten Besitz geerbt: Das Tagebuch meines Großvaters. Falls du dich jetzt fragst, warum du das wertvoll finden solltest, überblättere einfach die ersten zehn Seiten des Buches, dann wirst du mich verstehen.

Dieses Buch war für mich in meiner schwersten Zeit eine Stütze und half mir, nie den Mut zu verlieren. Infolgedessen trägst du nun, lieber Erbe, eine große Verantwortung. Denn in diesem Buch wirst du mich näher kennenlernen, als dir vielleicht lieb ist. Du wirst Dinge erfahren, die sowohl an den Rand des Vorstellbaren gehen, aber auch in das Innerste meiner Seele. Heißer Stoff für die Journalisten, die nur darauf warten, dieses Buch in die Finger zu bekommen. Ich hoffe, du kannst der Versuchung widerstehen, mein Leben und Leiden zu Geld zu machen.

Zu guter Letzt - und das ist es, was dieses Buch so wertvoll macht - enthält es das Geheimnis meines Erfolgs. Du darfst es gerne für dich nutzen, doch sei gewarnt: Erfolg um jeden Preis, das ist etwas, das nicht erstrebenswert ist. Ich habe es nicht geglaubt und bezahle nun schon mein Leben lang dafür. Doch damit ist Schluss, denn du bist mein Erbe, das heißt, ich bin tot, wenn du das hier liest.

Ich hoffe, dass dir das Buch hilft, wie es mir geholfen hat - nur ohne die schrecklichen Nebenwirkungen.

In aller Freundschaft,

Dein Piet Bratling (oder, falls du es nicht - wovon ich nicht ausgehe - weißt, Pitt Bradley)

Wie erstarrt saß ich auf dem Sessel, den Brief vor mir auf dem Schoß liegen und war fassungslos. Und auch verwundert. Darum befolgte ich Bradleys Rat und überflog die ersten zehn Seiten, in denen - wie ich an den Daten der Einträge erkennen konnte - ein Zeitraum von gut vierzig Jahren abgedeckt wurde. Dann folgte eine fast leere Seite, auf der ganz oben stand: Dies ist das Tagebuch von Piet Bratling, beginnend am 01.11.1999.

2 - Frisuren machen Leute

01.11.1999

Endlich kann auch ich sagen, dass ich etwas Wertvolles besitze. Diese ganzen Idioten mit ihren blöden Marken und wie sie damit immer angeben. Und ich? Kann höchstens mal was von C&A vorweisen. Meistens aber eher Sachen von Aldi. Aber jetzt hab ich dich, mein Tagebuch, und du bist wertvoller als alle Klamotten dieser Welt. Weil du Opa Elmar gehört hast und er der wichtigste Mensch in meinem Leben war. Meine Eltern? Oh, bitte, die kümmern sich doch nur um sich selbst. Und selbst darin sind sie nicht gut.

Opa Elmar war der Einzige, der mich verstanden hat, und jetzt bist du das Letzte, was mir von ihm geblieben ist. Nicht mal zwei Wochen ist es jetzt her, dass ich ihn verloren habe, und mein Leben ist seither nur noch schlimmer geworden. Bis jetzt konnte ich mit Opa Elmar darüber reden, wenn ich mich von allen ausgeschlossen und verlassen fühlte. Aber jetzt?

Na ja, jetzt hab ich dich! Du wirst sehr geduldig sein müssen, wenn du Opa Elmar ersetzen willst. Er konnte mir stundenlang dabei zuhören, wenn ich mich beklagt hab. Ach es ist alles so furchtbar! Das ist kein Gejammer, sondern die Realität. Es vergeht quasi kein Tag, an dem ich mich nicht frage, warum ich eigentlich noch hier bin. Was zum Teufel hat mich gerettet, als ich die ganze Packung Schlaftabletten genommen hab, als Opa Elmar gestorben ist?

Oder ist das Schicksal einfach nur so grausam, dass es ihm gefällt, mich leiden zu sehen? Wundern würde es mich nicht. Schließlich hat es dafür gesorgt, dass ich von aller Welt so wenig beachtet werde, wie die Luft, die sie umgibt. Opa Elmar konnte mir immer Mut machen, dass irgendwann alles besser wird. Kannst du das auch? Ich meine, du bist zwar ein Buch, aber vielleicht hast du ja auch gute Antworten.

Aber jetzt ist es zu spät, darüber zu reden. Wir lesen uns bald wieder.

Gebannt starrte ich auf die Worte, die ich eben gelesen hatte. Da hatte ich es schwarz auf weiß: Bradley, der gefeierte Filmstar, war, als er etwa in meinem Alter gewesen war, in derselben Misere gewesen wie ich. Nun ja, vielleicht nicht in genau derselben, denn immerhin hatte ich Freunde. Aber manchmal fühlte ich mich auch so unsichtbar wie er. Das war besonders so gewesen, als ich gerade neu in die Stadt gekommen war. Ich fand es aufregend, dass ich in Bradleys Heimatstadt ziehen sollte - zumindest am Anfang. Doch als ich erkannt hatte, wie langweilig es hier war, verflog die Freude schnell wieder. Auch weil ich mich mit der Freundessuche äußerst schwertat.

Bis ich in den Badmintonverein des Ortes eingetreten bin. Ab dann ging es etwas aufwärts. Ich hatte nun eine Handvoll Freunde, die sich - wie ich ja gesehen hatte - auch um mich sorgten. Bei Bradley war das offensichtlich anders gewesen.

Ich legte den Brief vorsichtig dort zwischen die Seiten, wo ich aufgehört hatte zu lesen, entsorgte den Papiermüll und verzog mich mit dem Tagebuch in mein Zimmer. Ich wollte gerade weiterlesen, als mein Handy klingelte.

"Ja."

"Hey, Ced! Warum bist du nicht im Training?"

Oh, Mist, das hatte ich total vergessen.

"Ach, weißt du, May, mir geht’s heut nich' sooo gut", log ich.

"Komm schon", widersprach Maya. "Ich weiß genau, warum du nicht kommst."

"Wirklich?" Ich sah verstohlen auf das Tagebuch.

"Ja. Aber Jan wird dich schon nicht auffressen. Er hat uns sogar gefragt, wie's dir geht. Wegen Bradley und so. Ich denke, dass er dir das nich' mehr übel nimmt."

"Quatsch, mir is' heut einfach nich' nach Badminton, ja?!"

"Ja, ja. Schon gut. Brauchst nicht gleich pampig werden!"

"Hey, May. Sor… " Aber es hatte schon geklickt. Verdammt! Pass auf, sonst verlierst du die wenigen Freunde, die du hast, an Bradley, so wie du alle NICHT vorhandenen Freunde nur seinetwegen NICHT hast!

Ja, ich musste vorsichtig sein. Ich durfte mich jetzt auf keinen Fall in meinem Zimmer verkriechen und in Bradleys Tagebuch vertiefen, sondern musste auch mein Privatleben auf Vordermann bringen - oder zumindest instand halten. Aber vorerst übte das Tagebuch einen solchen Reiz auf mich aus, dass ich einfach nicht widerstehen konnte und sofort weiterlesen musste.

02.11.1999

Heute ist es wieder passiert. Diese Wut auf alle anderen ist wieder über mich gekommen. Nur ein kleiner Fehler und schon haben sie alle über mich gelacht. Besonders sie. Diese kleine arrogante Schnepfe! Meint, sie kann sich alles erlauben, nur weil sie gut aussieht. Ich würde vor allem ihr die Meinung sagen, aber sobald ich ihr gegenüberstehe, bekomme ich keinen Ton heraus. Das findet sie dann immer besonders lustig und kichert mit ihren falschen Freunden über mich. Es wäre so einfach, ihr einfach mal so richtig eine reinwürgen.

Aber das kann ich nicht. Zu sehr bin ich darum bemüht, ihr zu gefallen. Wie oft ich Opa Elmar davon erzählt und wie oft ich hier diese blödeste aller Situationen noch aufschreiben werde, weiß ich nicht. Von ihr lassen kann ich nicht, zu ihr kommen erst recht nicht. Heute war es wieder einmal besonders schlimm gewesen. Nur wegen dieses kleinen Fehlers in Mathe! Ein einziger Fehltritt und er ist sofort mit höhnischem Lachen geahndet worden. Ich hasse sie alle miteinander. Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet, ein Genie zu sein! Sie können sich nur über verblödende Saufgelage am Wochenende amüsieren.

Mathe, Deutsch, Chemie oder Latein sind für sie allesamt nur Belastungen. Ignoranten! Keiner von ihnen kann mir ernsthaft das Wasser reichen! Sie halten mich für einen der Ihren, doch ich habe für sie nur Verachtung übrig. Besonders in Situationen wie heute. Am liebsten würde ich sie alle in die Luft jagen! Und bei ihr würde ich dann eine Sonderbehandlung machen, damit sie endlich einsieht, dass ich sie liebe. Abgöttisch liebe!

Für die Idioten ist morgen alles vergessen, aber ich vergesse nie! Sogar sie hat mich heute angelächelt. Falsche Schlampe! Dummerweise reicht ein Lachen von ihr aus, um bei mir alle Sicherungen durchbrennen zu lassen. Ich kann ihr falsches Grinsen nicht ertragen. Jemand sollte es ihr aus dem Gesicht schneiden, damit sie damit niemanden mehr reinlegen kann! Sie ist eine Sirene, ein Dämon, mein Dämon, meine Versuchung. Sie zu töten wäre mir zugleich größtes Vergnügen und Befreiung, aber auch eine Wunde, die ich nicht heilen kann. Ich kann nicht anders, als sie Stunde um Stunde, Tag für Tag anzustarren, ohne dafür auch nur einmal belohnt zu werden. Schließlich hat sie ja einen festen Freund. Uh, wie toll. Den größten Trottel von allen hat sie sich ausgesucht, er sitzt neben mir in Bio und labert tagein tagaus nur von seinen hemmungslosen Besäufnissen.

Bei jedem Wort, das er von sich gibt, möchte ich ihm am liebsten massakrieren. Ihm so richtig die Fresse zu polieren. Aber natürlich ist das nicht möglich. Dazu bin ich nicht in der Lage, mein Scheißgewissen bremst mich dabei. Mein Geist ist gefangen in einem unfähigen Körper, gelenkt von einem nutzlosen Gewissen, das mir jede Bosheit von vornherein vermiest. Es ist zum Explodieren!

Opa Elmar hat mich oft gefragt, warum ich so einen Hass auf sie habe. Das ist einfach zu erklären. Sie behandeln mich die meiste Zeit wie Luft, nur, wenn es darum geht, ihnen in der Schule zu helfen, kommen sie angekrochen. Ich bin ein Nichts, aber für manche ein so was von existenzielles Nichts. Wobei es da den Neuen gibt. Harald. Er sieht mich nicht so, vielleicht weil er als Neuer genauso abgesondert ist, wie ich als Intellektueller. Er hat mir sogar sein großes Geheimnis verraten: Er ist schwul. Das macht es ihm sicher nicht leichter sich zu integrieren, vor allem, weil ja niemand davon weiß. Mir macht das nichts aus, schließlich ist er ja trotzdem ein Mensch. Was er in seiner Freizeit macht und wen er liebt, das ist nun wirklich seine Sache. Harry, wie ich ihn nenne, ist der netteste Mensch, den ich kenne. Warum sollte ich ihn ignorieren, nur weil er auf Jungs steht?

Er sagt, er sei in einen Jungen verknallt, der viel zu jung wäre, um überhaupt an bestimmte Handlungen mit ihm zu denken. Schließlich sei er ja kein Pädophiler. Aber fünf Jahre Unterschied machen bei einem Achtzehnjährigen eben den Unterschied zwischen Legalität und Strafbarkeit aus. Er weiß das und ist daher genauso verzweifelt, wie ich mit dieser blöden Schnepfe. Vielleicht sollte ich auch schwul werden. Vielleicht hab ich da bessere Chancen.

Ich glaube, wenn ich das hier in zehn Jahren wieder lese, fall ich um vor Lachen. Bis bald.

Also ich lachte nicht. Ich wusste im Moment gar nicht, was ich denken soll. Ich hatte ja erwartet, dass mir das Tagebuch auch unangenehme Seiten an Bradley zeigen würde. Aber so etwas? Dieser Eintrag las sich so, als wäre er von einem potenziellen Amokläufer verfasst worden. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Bradley hatte sich immer für den Frieden in der Welt eingesetzt. Dieses Tagebuch war wirklich Zündstoff für die Journalisten. Ich musste es unbedingt vor der Welt verstecken, es würde das Ansehen Bradleys postum ruinieren.

Wie hatte Bradley nur so leichtsinnig sein können, es einem x-beliebigen Fan zu schicken. Die Gefahr war so groß, dass dieser der Versuchung von schneller Bekanntheit, schnellem Ruhm und vor allem schnellem Geld erliegen würde. Ich würde das Tagebuch für kein Geld der Welt herausgeben, das war mir klar. Aber nicht jeder Fan war so fanatisch. Bradley war entweder furchtbar naiv und vertrauensselig oder schlichtweg dumm. Letzteres konnte ich nach dem Eintrag aber ausschließen. Er hatte sich selbst für ein Genie gehalten.

Und wer war dieser Harry? Wenn Bradley so gut mit ihm befreundet gewesen war, warum kannte ich ihn dann nicht? Ohne bescheiden zu sein, konnte ich von mir behaupten, mehr über Pitt Bradley zu wissen, als die meisten Menschen. Zum einen, weil er mir so manchen Brief geschrieben hatte und mir darin viele Fragen zu sich beantwortet hatte, zum anderen, weil ich sehr viel recherchiert hatte. Ich wollte der weltgrößte Bradley-Fan sein, und ich glaube, dass ich es zuletzt auch war. Und deshalb sah ich es als Bestimmung an, Hüter von Bradleys Geheimnissen zu sein, egal wie schrecklich sie auch sein mochten. Darum machte ich mich daran, so viele wie möglich davon zu ergründen.

04.11.1999

Gestern hatte ich leider keine Zeit zum Schreiben, da war Harry den ganzen Tag bei mir, um Latein zu büffeln. Hat davon leider keinen blassen Dunst. Später haben wir uns dann über unsere vergeblichen Bemühungen in der Liebe unterhalten und Harry hat mir erzählt, dass er nicht immer auf Jungs stand. Das hat mich verwundert. Bisher dachte ich, dass das ganze Schwulsein so eine Art genetische Variation ist, die von Geburt an besteht. Aber Harry meinte, dass er bisher immer nur unglücklich in Mädchen verliebt war, bis er sich eben plötzlich von Männern angezogen fühlte.

Das macht mir dann doch Angst. Kann mir so etwas auch passieren? Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber selber so … geartet sein? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Harry hat mir erzählt, dass er mal in so 'nem Klub war - für Leute wie ihn - und da seine Geschichte gar keine Seltenheit wäre. Dass man aus Frustration wegen des anderen Geschlechts sich auf das eigene konzentriert. Das gefällt mir gar nicht. Was, wenn meine unerwiderte Liebe für sie plötzlich in diese … diese … Unregelmäßigkeit umschlägt?

Ich hab ihn gleich gefragt, ob er vielleicht eine Idee hat, wie ich ihre Aufmerksamkeit erregen kann. Er meinte, ich soll mir mal ein neues Aussehen zulegen, also halt frisurentechnisch. Gut, ich war schon seit mindestens 3 Jahren nicht mehr beim Friseur, es kann also gut sein, dass ich etwas … eigenartig aussehen. Er konnte mir aber keinen speziellen empfehlen. Muss ich mich wohl selber drum kümmern.

Darum mach ich jetzt auch Schluss. Hoffentlich find' ich was Gescheites.

Variation? Geartet? Unregelmäßigkeit? Mir schwirrte der Kopf vor lauter Abwertungen des Schwulseins. Das hatte ich nicht erwartet. Schließlich hatte es ja dieses Gerücht … Und ich hatte auch nie das Gefühl, dass Bradley Schwulen feindselig gegenübergestanden hätte. Im Gegenteil, sein langjähriger Manager war schwul gewesen und die beiden waren wirklich gut befreundet.

Und jetzt so was. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Zwei kurze Tagebucheinträge hatten mein Bild von Bradley schon einmal gehörig erschüttert, da konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich weiterlesen sollte. Auf der einen Seite war da natürlich die Neugierde über Bradleys Leben. Aber andererseits hatte ich auch Angst, dass ich vielleicht noch mehr zutage fördern würde, was mir nicht schmecken würde. Bradley war für mich immer DER Saubermann schlechthin gewesen. Die Seiten an ihm, von denen ich gerade erfahren hatte, mochte ich überhaupt nicht.

Aber natürlich konnte ich nicht der Erbe von Bradleys Tagebuch sein, ohne es zu lesen, ohne seine Geheimnisse zu ergründen, ohne mein Bild von ihm so zu verändern, dass es den wahren Pitt Bradley darstellte. Also las ich den nächsten - recht kurzen Eintrag.

05.11.1999

Du bist wahrlich Opa Elmars Tagebuch! Gerade als ich dich gestern geschlossen hab, ist ein Zettel zwischen deinen Seiten rausgefallen. Er war schon etwas vergilbt, aber die Schrift war noch deutlich zu lesen.

Sie möchten Erfolg? Ihnen fehlt nur die richtige Frisur?

Dann kommen Sie in den Salon

Glückssträhne

Wir machen Ihren Traum wahr!

Das stand da. Ist das nicht witzig? Genau so etwas hab ich gesucht. Das wird mir sicher helfen, bei ihr zu landen. Gleich morgen geh ich da hin und lass mich "auf Vordermann" bringen.

Salon Glücksträhne? Wo hatte ich diesen Namen nur schon gesehen? Ich wusste genau, dass er mir bekannt vorkam, dass ich den Slogan schon mal irgendwo gehört oder gesehen hatte. Aber mir fiel absolut nichts dazu ein. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich jetzt auf keinen Fall aufhören durfte mit lesen.

06.11.1999

Du bist echt Gold wert! Ich kann mein Glück kaum fassen, es ist alles … ich könnte in einem zu nur tanzen und jubeln! Jetzt bin ich der glücklichste Mensch der Welt! Danke, danke, danke. Ja, ich fang noch mal von vorne an. Du weißt ja schließlich nicht, worum es geht. Bist ja nur ein Buch!

Also ich war heut bei diesem Salon Glücksträhne. Mieser Schuppen. Kann mir nicht vorstellen, dass sich da sonderlich oft jemand reinverirrt. Aber ich hab mir gedacht, was soll's? Also bin ich rein. Innen war alles total muffig und sauber sah es auch nicht gerade aus. Ich wollt' grad wieder gehen - weil es sah irgendwie unheimlich da drin aus - da kommt der Besitzer und fragt, was ich denn wolle. Komischer Typ, klein und bucklig, aber mit schlanken Fingern und irgendwie vertrauenerweckenden Händen. Schien ein alter Meister zu sein.

Ich sagte, ich würde gerne Erfolg bei Frauen haben und außerdem beliebt sein.

Er sagte, das wäre kein Problem. Er schlug mir eine besondere Blondierung vor.

"Blond?", hab ich gefragt, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Das war eigentlich nicht das, was ich wollte.

Er meinte, das sei genau das Richtige für mich. Extrem verzweifelten Kunden biete er immer sein Spezial-Blond an.

Ich wollte wissen, wie viel er denn dafür verlange. Es war etwas komisch, was er antwortete: "Nun das kommt darauf an, um welchen Preis du beliebt sein möchtest, Bürschchen."

"Um jeden", hab ich geantwortet.

"Gut. Denn das, was ich verlange, ist nicht für jeden dasselbe. Jeder Mensch hat einen anderen Wert. Folglich hat die Behandlung jedes Menschen einen anderen Preis. Manche finden einen geliebten Gegenstand nicht wieder, andere verlieren einen an ihnen geschätzten Charakterzug. Jeder, der beliebt ist, hat irgendetwas aufgegeben, um im Mittelpunkt zu stehen. Den meisten fällt das gar nicht auf. Aber dir muss das klar sein."

"Mir ist kein Preis zu hoch", meinte ich selbstbewusst.

"Oh, das ist gut! Dann hab ich keine Bedenken, dass ich dir nicht helfen könnte. Du wirst so blond sein, wie eine frischgebackene Semmel und so strahlen wie die Sonne. Du wirst ein Stern sein. Aber noch eine Warnung: Diese Blondierung, und der damit verbundene Erfolg, hält länger als gewöhnlich. Manche meiner Kunden sind ihn nie wieder losgeworden."

"Um so besser!"

Der Alte hat nur gelächelt und dann hat er angefangen. Mir zuerst etwas die Haare geschnitten, dann ist er kurz verschwunden und mit einer Schale voll Blondierungsmittel zurückgekommen.

Naja, ganz normaler Friseurbesuch halt. Ich bin gegangen, ohne etwas zu zahlen, was ich komisch fand, aber mir nichts dabei dachte, vielleicht war er ja nur ein sozial eingestellter Mensch oder nicht mehr ganz dicht in der Birne. Grade als ich draußen auf den Gehsteig geh', rennt so'n Typ in mich rein. Ich hör' noch wie er in sein Mobiltelefon reinlabert: " … hundert Typen, die dafür geeignet wären, warum zum Teufel will er …"

Dann sind wir zusammengestoßen. Er hat erst etwas rumgeflucht, dann hat er mich angesehen und irgendwas … ist passiert. Ich weiß nicht was. Es war … irgendwie unwirklich. Auf jeden Fall hat er plötzlich gelächelt, in sein Handy gesagt: "Ich glaub', ich hab ihn." Und zu mir dann gesagt: "Sag' mal, könntest du dir vorstellen, in einem Film mitzuspielen."

Stell dir das vor! Ich soll Schauspieler werden! Und es kommt noch besser: Ich hab also eingewilligt und der Typ meinte, ich solle morgen ins Café am Marktplatz kommen, da könnten wir dann alles Weitere besprechen. Dann is' er gegangen. Weißt du, wer dann kam? SIE! Und sie hat mich genauso komisch angesehen, wie der Typ.

Und jetzt kommt's: Sie möchte, dass ich ihr am Montag Latein-Nachhilfe gebe! Der Wahnsinn! Wie lange hab ich darauf gewartet?

Das ist alles dein Verdienst! Der Reklamezettel ist aus dir rausgefallen, danke, danke, danke! Jetzt muss ich aber los, weil mich Bernd zu seinem Geburtstag heute Abend eingeladen hat. Den hab ich nämlich auch noch getroffen.

Der Text ging zwar noch weiter und Bradley schwärmte davon, dass er noch einige andere aus seiner Klasse getroffen hatte, die ihn alle plötzlich ganz freundlich behandelt hatten. Doch ich starrte nur auf einen kleinen Zettel, der eben zwischen den Seiten des Tagebuchs herausgerutscht war.

Sie möchten Erfolg? Ihnen fehlt nur die richtige Frisur?

Dann kommen Sie in den Salon

Glückssträhne

Wir machen Ihren Traum wahr!

Kommen Sie jetzt in die Paradiesstraße 13

Ich starrte das vergilbte Papier an. Jetzt wusste ich, woher mir der Name des Salons so bekannt vorgekommen war. Er lag direkt auf meinem Schulweg, jeden Tag lief ich an dem verfallenen Gebäude mit der Nummer 13 vorbei. Hin und wieder hatte ich gedacht, jemanden darin zu sehen, aber ich hatte mir nicht vorstellen können, dass jemand in diesen verfallenen Schuppen zum Haare schneiden gehen würde.

Eine halbe Stunde später stand ich vor der milchigen Glastür, auf der in vergilbten Lettern der Name des Salons gedruckt war. Dann betrat ich den Laden.

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