zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Die Ruhe der Toten

Kapitel 1 und 2

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

Zwei Jahre später

„Jonathan?“, rief ich in das Haus hinein, aber niemand antwortete. Das war ungewöhnlich, denn immerhin wohnten wir schon seit gut eineinhalb Jahren zusammen. Eigentlich seit ich die Schule beendet und mein Studium angefangen hatte.

„Wer ist das? Dein Mitbewohner?“ Lana sah mich interessiert an und strich sich einige braune Locken aus dem hübschen Gesicht.

„Ja. Aber eigentlich seltsam, er ist sonst immer da.“ Ja, Jonathan war immer bei mir, auch wenn unsere Verbindung nicht mehr so eng war. Zwar verbrachte er immer noch den größten Teil seiner Zeit seit meinem neunzehnten Geburtstag und unserer damaligen Unterhaltung in meiner Nähe, beziehungsweise mit mir, aber es kam auch vor, dass ich ihn einige Stunden nicht sah.

Was ganz angenehm war.

„Er ist auch jetzt da, aber er will dich nicht stören“, meinte ich Jonathans Stimme aus der Küche zu vernehmen. Ich zuckte zusammen und ging hinein. Ja, er war da. Wie immer. Allerdings nicht hier, wie eigentlich seit über zwei Jahren, sondern er befand sich wieder an dem Ort, an dem nur ich ihn sehen konnte. Er hatte mehrmals versucht, mir die Geisterwelt zu erklären, aber alles verstanden hatte ich immer noch nicht. Ich konnte ihn immer sehen und hören, da ich immer noch seinen Knochen besaß. Wenn Jonathan es wollte, dann war er auch für alle anderen sichtbar. Ansonsten befand er sich in einer Art anderen, parallelen Welt in der sich alle Geister befanden, die weder tot noch lebendig waren.

Und jetzt war ich erleichtert darüber.

„Aber immerhin hat er was zu Essen da gelassen“, meinte ich zu Lana und schnupperte interessiert am Inhalt des Topfes, der auf dem Tisch stand.

Kochen war einer der vielen Dinge, mit denen sich Jonathan beschäftigte. Kochen, Singen, Kellnern, ins Kino gehen und vieles mehr. Irgendwo auf dieser Liste stand wohl auch ich, wobei ich mir da nicht sicher war. Wenn überhaupt, dann wohl ziemlich weit unten. Er hatte Gefallen an dem Leben als Halbgeist gefunden. Aber trotzdem bemerkte ich seine sehnsuchtsvollen Blicke, mit denen er in den Himmel starrte.

Er hatte sich sehr verändert, seit meine Schwester vorgeschlagen hatte, dass wir uns doch vertragen könnten. Ich glaube, er hatte sich damit abgefunden, zwischen den Toten und den Lebenden zu stehen.

Ich hoffte es jedenfalls.

Jonathan sah mich Stirn runzelnd an, als hätte er meine Gedanken gelesen. Dann nickte er und verabschiedete sich. Er schwebte einfach durch die Wand und war verschwunden.

„Nette Wohnung.“ Lana ging durch die Räume und setzte sich dann zu mir in die Küche. „Krieg ich ne Führung?“

„Erst Essen oder erst Führung? Du darfst entscheiden!“

„Wie freundlich“, lachte sie und entschied sich dann für das Essen.

Es war ein hervorragender Auflauf, genau wie ich ihn mochte. Ja, Jonathan war wirklich ein hervorragender Koch, er war in allem, was er anpackte, hervorragend.

Wir ließen es uns schmecken, aber alles Angenehme hatte mal ein Ende und so räumte ich irgendwann die Teller weg.

„Dann zeig ich dir mal unser Reich.“

Lana folgte mir interessiert erst ins Wohnzimmer, dann ins Bad, zurück in die Küche und schließlich in mein Zimmer.

Sie sah sich interessiert um, begutachtete die wenigen Poster an den Wänden, das ordentliche Bett, den Computer und wandte sich dann dem Schreibtisch zu. Aber dort blieb ihre Aufmerksamkeit nur kurz, schon hatte sie mein Bücherregal entdeckt und stürzte sich darauf.

Interessiert las sie einige der Titel vor und kommentierte die meisten scherzhaft. „Nanu? Hier fehlt ja eines.“ Lana wies in eine Lücke, in der normalerweise der dritte Band irgendeiner Trilogie stand.

„Den muss sich Jonathan wohl grad ausgeliehen haben.“

„Ah, sein Zimmer hast du vergessen.“

„Weißt du… Ich glaube nicht, dass er es gern hätte, wenn wir…“

„Er muss es ja nicht erfahren.“

Er musste nicht, aber er würde. Da war ich mir sicher.

Nun ja. Sie war ziemlich hübsch, hatte ein wunderbares Lächeln und ich unterhielt mich gerne mit ihr. Also, warum erfüllte ich ihr nicht den Wunsch? So schlimm war das ja nicht.

Ich zeigte auf die letzte Tür, die ich noch nicht geöffnet hatte, und sie sprang sofort darauf zu.

„Das muss ja ein seltsamer Mensch sein, dieser Jonathan.“

Nun ja. Sein Zimmer war… seltsam. Eine Wand war von einem Regal bedeckt, auf dem allerlei Krimskrams stand. An Möbeln gab es nur noch eine kleine Kommode, in der er noch mehr Stoff für seine Hobbys aufbewahrte, ein riesiges Bett, obwohl er nicht schlief, und einen Schreibtisch. Ansonsten gab es nur noch eine Gitarre und einen Notenständer. Ich hatte keine Ahnung, woher er das Zeug hatte. Als ich hier eingezogen war, um den Weg zur Uni zu verkürzen, war der Raum leer gewesen. Einen Tag später standen alle Möbel darin.

„Ziemlich kahl, der Raum“, meinte sie abwertend.

„Dir muss es ja auch nicht gefallen, sondern mir“, schnurrte eine Stimme hinter uns. Natürlich war er da. Er war immer da, wenigstens ein Teil von ihm.

„Ich bin Lana“, lächelte sie und streckte die Hand aus.

Jonathan sah sie einen Moment lang verächtlich an. Dann ergriff er uns beide und schob uns hinaus.

„Ist der immer so? Wie hältst du es mit ihm nur aus?“, fragte sie mich geschockt.

„Eigentlich ist er ein lieber Kerl, aber im Bezug auf manche Dinge ist er sehr… eigen. Nun ja. Setzen wir uns doch an unsere Aufgaben.“

Denn Lana war eine Studienkollegin von mir, die mich gebeten hatte, ihr einige Probleme zu erklären. Ich war ein freundlicher Mensch, also hatte ich zugestimmt.

Wir setzten uns an den Tisch in der Küche und holten unsere Sachen hervor. Abwesend kratzte ich mir über die Unterarme. Die Narben waren schon alt, es waren nun schon seit zwei Jahren keine Neuen mehr hinzugekommen. Ich hatte seit langem überhaupt keine Gründe mehr dafür gehabt. Irgendetwas hatte sich verändert, von einem Tag auf den anderen.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, Lana die Probleme zu erklären, die sie nicht verstanden hatte. Dabei hatten wir erstaunlich viel Spaß, da sie eine amüsante Gesprächspartnerin war. Ich schickte sie trotzdem abends nach Hause. Mehr als eine Bekannte war sie wirklich nicht.

Als sich die Wohnungstür hinter ihr geschlossen hatte, öffnete sich eine andere. Jonathan betrachtete mich abschätzend und ziemlich wütend.

„Du bist ein Idiot, weißt du das eigentlich?“

„Nur weil ich ihr dein Zimmer gezeigt habe? Komm schon, sie ist in Ordnung.“

„Wo ist sie eigentlich?“

„Auf dem Weg nach Hause. Sie ist nicht mehr als in Ordnung.“ Ich bereute meine Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. Das hörte sich ja an, als würde ich mich vor ihm rechtfertigen müssen.

Wütend über diese Unterredung ging ich in die Küche und öffnete den Kühlschrank.

„Dafür redest du aber oft von ihr.“

Natürlich stand er hinter mir und wich mir geschickt aus, als ich mich wütend umdrehte und ihn fast mit der Wurst getroffen hätte.

Himmel, er hörte sich an als wäre er…

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, oder?“ Grinsend näherte ich mich ihm.

„Ich? Wieso sollte ich?“

Trotzig verschränkte er die Arme und sah mir wütend in die Augen. Da er allerdings kleiner war als ich, machte mir das nicht besonders viel aus.

„Oh, doch, du BIST eifersüchtig!“, grinste ich triumphierend und fuhr ihm durch die schwarzen Haare. „Aber keine Angst, ich glaube, ich würde sie nicht gegen dich eintauschen wollen. Sie ist nicht halb so nervig wie du“, scherzte ich und machte mich auf die Suche nach dem Brot. Als ich mich wieder herumdrehte, war er verschwunden.

Einen Moment wunderte ich mich, dann schüttelte ich nur ratlos den Kopf. Manchmal war Jonathan eben komisch. Ich hatte mich daran gewöhnt.

Nachdem ich die Reste meines Abendessens weggeräumt hatte, begab ich mich ins Wohnzimmer und warf die Glotze mit einem mürrischen Fußtritt an. Ich hasste meine Stimmungsschwankungen, aber ich konnte nichts gegen sie tun. Von einem Moment auf den anderen konnte ich brüllen vor Lachen oder weinen, wegen nichts. Und jetzt war ich wütend auf alles. Ablenkung war da das Beste.

Rückblick

Nachdenklich sah ich auf das Messer hinunter, das ich in meiner rechten Hand hielt. Der blinkende Stahl sah so unschuldig aus. Als könnte er niemandem etwas zu Leide tun. Mein Blick glitt weiter über meinen linken, entblößten Arm. Irgendjemand hatte mir den Ärmel zerrissen und über die Narben gelacht. Er hatte gehöhnt, dass ich anscheinend zu feige wäre, mich umzubringen. Noch immer sah ich sein Grinsen vor mir, als er mich fragte, ob er mir nicht helfen solle.

Manchmal fragte ich mich, was ich getan hatte.

Dann antwortete ich mir selbst, dass ich nichts getan hatte. Sie quälten mich, weil es ihnen Spaß machte. Weil ich gerade dreizehn Jahre alt war und kleiner als sie alle. Weil sie fanden, dass ich stank und widerlich wäre. Weil ich alte, geflickte Kleider trug und es irgendwie auf ein Gymnasium geschafft hatte, auf dem ich nicht mehr lange bleiben würde mit meinen Noten. Weil ich anders war als sie und sie jemanden brauchten, den sie quälen konnten. Und ich hatte niemanden, der mir half, der ihnen all das heimzahlen konnte.

Ich hätte es auch niemandem gesagt, denn danach wäre alles noch schlimmer gekommen. So aber erfand ich immer mehr Ausreden, die mir niemand glaubte. Aber es fragte auch niemand nach oder ich sorgte dafür, dass es niemand tat.

Den einzigen Mensch, der sich um mich sorgte, hatte ich einfach angeschwiegen, während sie vorsichtig meine Kratzer mit Salbe einrieb.

Ja, ich war das perfekte Opfer.

Entschlossen setzte ich die Klinge an und drückte ein wenig. Nur ein kleines bisschen, so dass noch nicht einmal Blut aus der Wunde quoll.

Interessiert sah ich mir den Schnitt an, der ungefähr so lang wie einer meiner plumpen Finger war. Dann drückte ich wieder den scharfen Stahl an meine Haut und sah der roten Flüssigkeit zu, wie sie über meine Haut rann.

Der Schmerz spülte alles weg.

Er ließ mich vergessen, dass ich ein kleiner, pickeliger, unbeliebter Junge war, auf dem eine ganze Gang herumhackte.

Ich dachte nicht mehr daran, dass alle meine Lehrer mich hassten, dass ich nur schlechte Noten schrieb und dass der einzige Mensch meine Schwester war, die mich auch bald verlassen würde. Sie hatte mich gefragt, ob sie sich Arbeit hier in der Stadt suchen sollte und ich hatte abgelehnt. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Frei von allen Verpflichtungen.

Also auch frei von mir.

Und schließlich verschwand auch mein Vater im Schmerz, der mich überflutete. Er, ein großer, schwergewichtiger Mann mit Bierbauch, der immer nach Alkohol roch, weil er ständig Alkohol trank, hasste mich so lange ich denken kann.

Er hasste mich, weil meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war.

Jeden Tag erinnerte er mich wieder daran, wenn er mich schlug und anschrie, wenn er mir nichts zu essen gab oder mich nicht einschlafen ließ, mit seinem Geschrei.

Wahrscheinlich war er einmal ein guter Mann. Diana, meine Schwester, sagte mir immer wieder, dass er uns beide liebte, aber ich wusste, dass er sie genauso liebte, wie er mich hasste, und ich versuchte, nicht eifersüchtig zu sein.

Es war nicht immer leicht, aber ich würde es schaffen.

Einfach, weil es ich musste.

Und vielleicht würden sich die Dinge ändern, bevor ich mich umbringen würde, bevor ich es nicht mehr aushielt.

Ich hoffte es jedenfalls.

Rückblick Ende

Ich erwachte wieder, als ich etwas auf mir spürte. Noch halb schlafend versuchte ich mich zu befreien, ich fühlte mich wie gefangen und wälzte mich hektisch herum.

Einen Moment später lag ich auf dem Boden, blickte desorientiert um mich und bemerkte erst jetzt, was wirklich passiert war. Irgendjemand musste eine Decke über mich gebreitet und sie unter mir festgesteckt haben. Wahrscheinlich damit ich nicht fror.

„Jonathan?“

Er war wirklich da, ich hörte sein unwilliges Knurren vom Flur, aber schließlich kam er herein und lehnte sich an den Türpfosten. Es war dunkel, nur der Mond schien durch die Fenster herein, die Vorhänge waren nicht zugezogen.

„Du bist wieder da“, stellte ich das Offensichtliche fest.

„Nein, natürlich nicht. Das bildest du dir nur ein“, fauchte er.

Ich sah ihn an, aber die langen Haare verdeckten seine Augen. Also stand ich mühsam auf und legte die Decke ordentlich wieder auf das Sofa. „Danke.“ Dann schlurfte ich an ihm vorbei und ging in mein Zimmer. Ich zitterte immer noch von meinem Albtraum, meiner Erinnerung, und schleppte mich zum Bett hin, auf das ich mich einfach fallen ließ.

Nur kurze Zeit danach hatte ich Jonathan kennen gelernt.

Ich hatte mich einer seltsamen Bande angeschlossen, die mehr kriminell als sonst irgendetwas war. Eine von ihnen war ein hübsches Mädchen, dessen Name ich heute, sieben Jahre nachdem ich die Bande verlassen hatte, nicht mehr wusste.

Nur für sie brach ich ein Grab auf und stahl einen Knochen.

Und seitdem war Jonathan bei mir.

Ohne mich auszuziehen, schlief ich wieder ein.

Kindergeburtstag

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, dass die Wohnung leer war. Jonathan war nicht damit beschäftigt, Frühstück zu machen und mich mit dem köstlichen Duft zu wecken. Es war unnatürlich still, ich hörte keine Schritte, kein Summen oder Singen, nicht einmal das Knarren einer Tür.

Ein wenig traurig stand ich auf und nahm mir vor, mit ihm zu sprechen. Er schien seit gestern furchtbar wütend auf mich zu sein, obwohl ich immer noch nicht verstand, was ich so Schlimmes getan haben sollte.

Aber anstatt weiter darüber nachzugrübeln, überlegte ich lieber, was heute für ein Tag war. In meinem Hinterkopf spukte die Erinnerung daran herum, dass heute irgendetwas Besonderes wäre.

Während ich mich unter die Dusche begab und mich von dem heißen Wasser betröpfeln ließ, wartete ich auf eine Eingebung und ausnahmsweise kam sie, wenn ich sie brauchte.

Natürlich!

Heute war der achte Geburtstag meiner Nichte Kim. Und vor gut einer Woche hatte ich Diana versprochen, auf sie und ihre Freundinnen aufzupassen, wenn sie feierten, denn sie selbst hatte irgendeinen wichtigen Termin. Wahrscheinlich mit dem Gericht wegen nicht vorhandener Unterhaltszahlungen von Kims Vater, einem absolut unzuverlässigen, verantwortungslosen Taugenichts.

Ich hatte nie verstanden, was Diana an ihm gefunden hatte. Sie wusste inzwischen auch nicht mehr, welcher Teufel sie geritten hatte, sich mit ihm einzulassen. Immerhin durfte ich sie mehrere Wochen lang aufheitern, als er sie verlassen hatte, nachdem sie ihm von dem Kind erzählt hatte.

Ich warf einen Blick auf die Uhr direkt vor der Duschwand und sprang aus der Kabine. Mir blieben noch zwanzig Minuten oder ich würde von Diana geköpft werden. Sie hielt viel von Pünktlichkeit, und da ich noch ein Weilchen ein Familienmitglied bleiben wollte, geriet ich langsam in Panik. Auf halbem Weg in mein Zimmer fiel mir ein, dass ich das Wasser noch ausmachen sollte, und hetzte wieder zurück. Bei Nervosität wurde ich immer vergesslich.

Trotzdem schaffte ich es, mir etwas anzuziehen, meine Feuchtigkeit zu ignorieren, mein Frühstück ausfallen zu lassen, die Schlüssel von meinem Fahrradschloss zu finden und sogar mir die Schuhe zuzumachen, ohne mich von meinem Stress behindern zu lassen.

In genau fünf Minuten sollte ich bei Diana sein und ihr mit ihren Vorbereitungen helfen. Wenn ich die beiden nicht so gern hätte, würde ich jetzt schlafen, anstatt mir die kalte Luft um die Nase wehen zu lassen.

Aber es war eben so.

Mit nur einer winzigen Verspätung stand ich vor Dianas Haus und klingelte.

Nach einem kurzen Augenblick öffnete sie, die Hände noch voller Teig und die dunkelblonden Haare zerzaust. Man sah ihr nur im Stress an, dass ihr Leben anstrengend war. Wenn sie nicht gerade mit Kim beschäftigt war, arbeitete sie als Innenarchitektin, stritt sich mich dem Jugendamt, Kims Vater und unfreundlichen Nachbarn. Ab und zu kam sie zu mir, redete sich den Frust von der Seele und meisterte ihr Leben ziemlich gut.

„Dennis! Sei doch wenigstens einmal pünktlich!“, wurde ich angeknurrt. Die berühmte Stresskrankheit. „Jonathan ist auch schon lange da!“

Ich versuchte mir einzubilden, dass sie nicht meinen Mitbewohner Jonathan meinte. Als ich aber sein fröhliches Lachen aus dem Wohnzimmer hörte, musste sogar ich es einsehen. Er hatte mich nicht geweckt und mich Dianas Zorn schutzlos ausgeliefert.

„Bist du festgewachsen?? Nun komm schon und beschäftige Kim, während Jonathan und ich die Kuchen backen.“

Sehr vernünftig. Wer mich in eine Küche ließ, der hatte die krebserregende Kohle selbst zu verantworten.

Also ging ich in das Wohnzimmer, den größten Raum des Hauses, und sah einen Moment zu, wie Jonathan mit Kim irgendein seltsames Kartenspiel spielte.

„Ähm…“

„Lass mich raten. Ich wurde abkommandiert zum Backen und du zum Spielen?“, mutmaßte Jonathan kühl. Er sah mir nicht in die Augen, strich abwesend mit den Fingern über die Karten. Seine Miene blieb unbewegt, starr.

Ich grinste und nickte. „Genau. Du weißt ja, wo die Küche ist.“

„ONKEL DENNIS!“

Ich zuckte zusammen. Kim war ein liebes, meist ruhiges und gut erzogenes Kind. Sogar ich, der nie viel für Kinder übrig gehabt hatte, freute mich immer, sie zu sehen. Aber manchmal… wünschte ich mir Stöpsel, um meine Ohren zu schonen.

Während Jonathan sich in die Küche rettete, wurde ich das Ziel von Kims ganzer Zärtlichkeit. Nach einer minutenlangen Knuddelattacke saß sie dann ganz friedlich neben mir auf dem Sofa und erzählte mir von der tollen Party, die heute steigen würde.

Hehe. Kinder. Es würden ja nur ein paar sein. Hoffte ich jedenfalls, denn als mir Diana die Einzelheiten erklärt hatte, war leider gerade meine Lieblingsszene von „Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des Königs“ gelaufen. Sie hatte meine gesamte Aufmerksamkeit an sich gerissen.

„Sag mal, du, Onkel Dennis, küsst du eigentlich Johnny?“

Ich musste einen Augenblick überlegen, bis ich verstand, dass sie Jonathan meinte. Dann erreichte auch der erste Teil der Frage mein Gehirn.

Einen langen Augenblick war ich sprachlos.

„Ähm, wie kommst du darauf, Kim?“

„Meine Freundin Poli hat gesagt, dass Jonathan schwul aussieht und dass Schwule Männer küssen. Sind dann auch alle Frauen schwul?“

Vielleicht sollte ich mal ein ernstes Wort mit Diana reden. Das hier war eindeutig ihre Aufgabe.

„Aha, deine Freundin Poli… Äh, nein, ich bin nicht schwul, ich küsse ihn nicht und schwul sind nur Männer, die Männer küssen. Frauen, die Männer küssen, oder Männer, die Frauen küssen, sind normal.“

„Aber meine Freundin Poli sagt, dass hat sie von ihrem Vater. Und ihr Vater, der ist Lehrer. Der sagt auch immer, dass Männer mit langen Haaren schwul aussehen.“ Kim nickte gewichtig.

„Wie fändest du es denn, wenn du nach deiner Mutter gucken würdest? Sie kann deine Hilfe sicher brauchen“, wechselte ich das Thema. Und dann müsste ich keine peinlichen Fragen mehr beantworten.

Tatsächlich stand sie auf und wuselte in die Küche.

Einen Augenblick später war sie wieder bei mir und richtete mir aus: „Mama sagt, dass wir aufräumen sollen. Und du sollst das Trinken aus dem Keller holen. Und die Spiele. Und der Teppich muss weg. Und du musst dich beeilen, in einer Stunde kommen meine Freundinnen.“

Immerhin hatte sie dann keine Zeit mehr, mich auszuquetschen.

Die nächste Zeit war ich mit allem beschäftigt, was mir meine Schwester auftrug. Jonathan schien mir aus dem Weg zu gehen, denn ich fand keine Gelegenheit mit ihm zu reden.

Dann klingelte es auch schon an der Tür und die ersten Gäste trafen ein. Kleine Mädchen in bunten Kleidern mit noch viel bunteren Geschenken und fröhlichen jungen Müttern, die sich schnell wieder verabschiedeten und wahrscheinlich froh waren, einen Tag frei zu haben.

„Sagen Sie mal, wer sind Sie? Hab ich Sie schon einmal gesehen? Polia, bitte halte dich von diesem Mann fern!“, hörte ich eine scharfe Stimme aus der Küche.

Neugierig ging ich dorthin, wo eine ältere Frau mit einem zierlichen, arrogant blickendem Mädchen stand. Jonathan war damit beschäftigt, den letzten Kuchen zu zerschneiden und Diana damit, ihre Verlegenheit zu überspielen. Anscheinend war das jene berüchtigte Poli mit ihrer etwas seltsamen Meinung über langhaarige Männer. Und ihre Mutter, die anscheinend auch etwas gegen dieselben hatte.

„Er ist ein Freund meines Bruders, den Sie bereits kennen gelernt haben. Und keine Sorge, er ist weder pädophil noch sonst irgendwie krank“, antwortete Diana ruhig.

Abgesehen davon, dass er tot war. Aber eigentlich war das ja keine Krankheit. Eher ein Zustand.

Diana schaffte es nach einigen Minuten, die besorgte Mutter zur Tür und schließlich hinaus zu komplimentieren, und ich bückte mich, um einen heruntergefallenen Löffel aufzuheben.

Dabei fiel mir etwas aus der Tasche und erst, als ich es in der Hand hielt, sah ich, dass es der Knochen war. Der kleine, ungefähr ein Fingerglied lange Knochensplitter von Jonathans Kopf.

„Jonathan…“ Ich wusste, dass er ihn gesehen hatte. Genauso wie ich wusste, dass ich keine Ahnung hatte, was ich jetzt sagen könnte.

„Es ist bald wieder soweit. Wir haben wieder Geburtstag. Zum siebten Mal. Dein Leben hat sich verändert, du ritzt dich nicht mehr, du studierst ein Fach, das dir irgendwann viel Geld einbringt, bis auf die Narben siehst du recht gut aus und mit deiner Familie hast du auch keine Probleme mehr. Warst du jetzt lange genug egoistisch? Kannst du nun endlich auch einmal an mich denken?“

Jonathan hatte leise gesprochen, hatte mir nicht in die Augen gesehen.

Aber nun drehte er sich zu mir um, starrte mich an.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. So hatte mich noch nie jemand angesehen, so hoffnungsvoll und gleichzeitig sicher, enttäuscht zu werden. Als hätte er noch ein wenig Hoffnung, einen winzigen Funken. Und dieser Funke war gerade dabei, zu erlöschen.

Natürlich wollte er immer noch seine Ruhe haben, endlich das Untotendasein hinter sich lassen und richtig tot sein.

Wie hatte ich jemals etwas anderes denken können?

„Jonathan, könntest du für einen Moment auf die Kinder aufpassen? Ich muss noch etwas mit meinem Bruder besprechen, bevor ich zum Gericht muss“, wurden wir von Diana unterbrochen, die gerade wieder hereinkam, und der Geist stürmte hinaus.

Ich war froh, dass ich seinem Blick nicht mehr standhalten musste.

„Ist irgendetwas mit ihm?“, wunderte sich meine Schwester, aber ich schüttelte nur den Kopf.

„Nichts Wichtiges.“

„Hm. Dennis, hör mir bitte einen Moment zu. Ich muss mit dir reden. Ich weiß, dass du dich nie für Vater interessiert hast, aber…“

Schon allein bei dem Wort Vater war ich alarmiert. Ich hatte keinen Vater mehr. Nicht mehr, seit er mich rausgeworfen hatte, nachdem er mir vier Knochen gebrochen hatte. Eigentlich hatte er mich gar nicht mehr aufgenommen, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Meine Sachen hatte ich mir nachts holen müssen, als er seinen Alkoholrausch ausschlief.

„Du hast Recht, Diana, er interessiert mich nicht. Nicht das kleinste Bisschen. Ich habe keinen Vater mehr.“

„Dennis…“

„Nein, Diana. Kein Dennis. Du weißt, ich tue alles für dich, aber bleib mir weg mit ihm!“

„Er stirbt! Er liegt im Krankenhaus, Leberzirrhose.“

„Das wundert mich nicht, bei den Mengen, die er immer gesoffen hat. Er hat es erstaunlich lange ausgehalten“, antwortete ich hart.

„Dennis, sprich nicht so über deinen Vater!“

Ich schnaubte nur verächtlich. Nach all den Jahren, in denen sie mich wieder aufpäppeln musste, hatte sie eines immer noch nicht verstanden: Ich hasste meinen Vater. Wahrscheinlich würde sie es auch nie verstehen.

Kein Wunder. Mit ihm hatte sie sich immer gut verstanden, er hatte ihr fast jeden Wunsch erfüllt. Er hatte mich auch nie verprügelt, wenn sie dabei gewesen war. Aber trotzdem wusste sie, dass er für sehr viele meiner Knochenbrüche verantwortlich war.

„Willst du nicht doch mit ins Krankenhaus kommen?“, versuchte sie es ein letztes Mal.

„Selbst wenn ich es tun würde, ich weiß doch, was er täte. Er würde mich beschimpfen und versuchen mich wieder zu verprügeln. Er würde mir wieder an den Kopf werfen, dass ich Schuld an seinem verpfuschten Leben bin. Vergiss es. Und du solltest jetzt gehen, sonst kommst du zu spät.“ Ich hatte zwar keine Ahnung, wann sie ihren Termin hatte, aber Hauptsache, sie ging.

Einen Augenblick dachte ich, sie wollte noch etwas sagen, dann ging sie in den Flur. Ich folgte Diana und sah zu, wie sie sich ihre Handtasche und eine Jacke schnappte. Dann ging sie tatsächlich ohne noch ein anderes Wort als: „Bis später“ zu sagen.

„Onkel Dennis, spielst du mit uns?“, rief Kim aus dem Wohnzimmer.

Der Kindergeburtstag brüllte nach mir.

Als ich hereinkam, sah ich Jonathan, der lächelnd neben Kim saß und ihr einen grünen Partyhut aufsetzte. Sobald er mich bemerkte, verschwand das Lächeln und er sah mich wütend an.

Vielleicht würde er sich wieder beruhigen.

Nein, das war eher unwahrscheinlich. Er hatte mir deutlich gemacht, was er von mir hielt.

„Ich hol noch den Schokoladenkuchen. Bin gleich wieder da“, meinte ich zu meiner Nichte und kehrte in die Küche zurück.

Dort kramte ich in meiner Tasche herum, bis ich die Kette mit dem Anhänger fand.

Damals hatte ich einfach irgendein Lederband durch das Loch gefädelt, das eine Kante in den weichen Säuglingsschädel gerissen hatte. Die Kette hatte ich dem Mädchen geschenkt, für das ich all das getan hatte, aber sie hatte sie nicht gewollt.

Rückblick

Ein erstauntes Keuchen riss mich aus meinen Gedanken und ich sah von dem Anhänger auf, der zwischen meinen Fingern herabbaumelte.

Vor mir stand ein seltsamer Junge, der mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, als könnte er nicht verstehen, was er da sähe. Ich wunderte mich, dass ihm nicht kalt war. Er war viel zu dünn angezogen für dieses kalte Wetter. Dabei sah er eigentlich ganz normal aus, wie ein Junge, ungefähr in meinem Alter. Glaubte ich jedenfalls, aber bei seinem zierlichen Körper konnte ich das nicht besonders gut einschätzen.

Trotzdem trug er nur ein weißes Leinenhemd, das ihm um die schmalen Schultern schlotterte und unter den langen Ärmeln verschwanden seine Hände. Das einzige andere Kleidungsstück war eine Hose aus demselben Stoff, ebenfalls sehr weit. Seltsamerweise war der Saum immer noch blütenrein, obwohl er ihn durch den Dreck der Straßen geschleift haben musste.

Dann schnaubte ich verächtlich. Was ging mich dieser seltsame Vogel an? Ich wollte mich schon an ihm vorbei drängen, als er doch noch sprach: „Was… Warum? Warum hast du das getan? Warum hast du mich zurückgeholt?“ Seine Stimme klang, als hätte er lange nicht geredet, ein wenig heiser und verwundert, als wäre er gerade aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht.

Ich sah mich um, aber anscheinend sprach er mit mir. Wenn ich jetzt noch wüsste, wovon er da eigentlich redete, wäre mir allerdings ziemlich geholfen.

„Hast du irgendwelche harten Sachen genommen, Kleiner? Verpiss dich!“

Er schüttelte nachdenklich den Kopf und rieb sich mit beiden Händen über die Augen. Langsam kam er mir wirklich bekifft vor.

Ich stopfte den Anhänger in meine Hosentasche und hoffte darauf, dass sie ausnahmsweise kein Loch hatte, und drängte mich an dem Jungen vorbei.

„Du weißt nicht, was du getan hast, oder? Du bist kein Nekromant. Nicht mal ein Irrer.“

Ich fuhr herum. Sollte das ein Kompliment sein?

„Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe!“, brüllte ich. Nun, meine Stimmungsschwankungen hatte ich damals nicht das kleinste Bisschen unter Kontrolle.

Die vorübergehenden Menschen sahen mich verwirrt an und eine alte Frau murmelte etwas von einer ungezogenen Jugend.

„Das würde ich ja gerne. Aber ich kann nicht. Mein Körper ist nicht vollständig.“

Ich war also nicht irre, aber dieser Typ vielleicht schon. Jetzt war also sein Körper nicht vollständig. Aha.

Ok. Er war auf jeden Fall vollkommen durchgedreht.

Er kam wieder näher und strich sich dann die Haare an der Schläfe beiseite. Dann griff er nach meiner Hand und ließ sie über seinen Schädel gleiten. Unwillkürlich wollte ich ihn von mir stoßen, aber da war nichts. Einfach… nichts. Der hatte ein Loch im Schädel.

„Wer… bist du?“

„Jonathan.“ Fast zärtlich tippte er gegen meine Hosentasche, in die ich den Knochen gesteckt hatte.

Ich kramte in meinem Gedächtnis nach diesem Namen. Ich hatte ihn erst vor kurzem gelesen. Aber wo?

Als ich auf sein ernstes, blasses Gesicht sah, fiel es mir wieder ein. Natürlich. Der Grabstein hatte dieselbe Farbe gehabt wie seine Augen.

Aber dieser Jonathan war drei Monate alt geworden, bevor er gestorben war. Und ich hatte das Skelett selbst gesehen, es angefasst, den Splitter herausgeholt.

Entsetzt schüttelte ich den Kopf, wich einige Schritte zurück, bevor ich mich umdrehte und so schnell ich konnte wegrannte.

Rückblick Ende

Von diesem Tag an vergingen viele Monate, bis ich halbwegs akzeptiert hatte, was ich eigentlich getan hatte. Und es dauerte noch sehr viel länger, bis ich mich daran gewöhnte, von dem stillen Geist verfolgt zu werden, der mich niemals alleine ließ.

Seufzend verdrängte ich wieder mal jeden Gedanken an die Vergangenheit an irgendeinen Platz in mir, der sehr, sehr viele Erinnerungen beherbergte, und widmete mich wieder Kims Geburtstag. Auch wenn es nicht einfach war Jonathans Lachen zu hören und in seinen Augen zu sehen, dass es nicht echt war.

Lesemodus deaktivieren (?)