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Die Ruhe der Toten

Kapitel 3 und 4

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Inhaltsverzeichnis

Nekromantenzauber

Paul betrachtete nachdenklich die Leiche vor sich. Der Mann lag vor ihm auf dem dreckigen Boden, auf dem er sorgfältig einen großen weißen Stern gezogen hatte. Nicht, dass er etwas genützt oder dass Paul ihn gebraucht hätte, aber er gab der Angelegenheit etwas Ehrwürdiges.

Die Leiche war jung, vielleicht dreißig, und eine unauffällige Erscheinung. Schulterlange braune Locken fielen ihm in das runde Gesicht, das ein wenig verwirrt, aber ruhig an die Decke starrte. Paul kannte ihn nicht und wusste nichts über ihn, aber er ahnte, dass sein Opfer nicht groß vermisst werden würde. Dafür waren seine Kleider, ein T-Shirt, eine Jeans und Turnschuhe, zu alt und abgetragen.

Auch wenn die meisten sagen würden, an einer Leiche sei nichts Ehrwürdiges.

Paul dagegen fand die meisten Toten ehrwürdig. Ehrwürdiger als alle Menschen.

Dann senkte sich sein Blick wieder auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. Er hatte es auf dem Flohmarkt entdeckt, ein Beweis dafür, dass die meisten Menschen alles einfach verkauften, so lange sie dafür mindestens einen Euro bekommen konnten. Mehr hatte dieses seltene, alte und vor allem wertvolle Buch nicht gekostet, und nun half es Paul. Dabei hätte selbst ein halbwegs intelligenter Mensch geahnt, dass es ein wenig mehr wert war. Der glatte, schlichte, schwarze Ledereinband war schon so alt, dass man an einigen Stellen die ursprüngliche Farbe nur noch erahnen konnte. Wenn man vorsichtig darüber tastete, konnte man an einigen Stellen die Reste von dem Goldzeichen spüren, das einmal das Buch geziert hatte. Es war ein Kreis, um den sich ein Band schlang, von dem viele dünne Strahlen ausgingen. Selbst Paul, der seit mehr als fünfzig Jahren auf das Buch aufpasste, wusste nicht mehr darüber.

Daneben standen eine kleine, flache Schale aus Glas, in der sich etwas von Pauls Blut befand, und ein Stahlmesser, das er einmal zum Fleisch schneiden benutzt hatte. In gewisser Weise hatte sich daran nichts geändert.

Paul streckte die Finger, bis sie knackten, und blätterte dann einige Seiten des Buches um. Seine grauen Augen huschten über die blassen Zeichen. Die Wenigsten hätten verstanden WAS da eigentlich stand.

Einige der Formeln waren dazu da, unzählige Menschen zu töten, andere, um sie wieder zu beleben, wieder andere, um Körper ohne ihre Seelen lebendig werden zu lassen, Tieren den Verstand eines Menschen zu geben oder einen Geist in einen Körper einzusperren.

Aber sie waren alle nicht der Spruch, den Paul gerade suchte.

Ein leichtes Lächeln legte sich über seine bleichen Züge, die zu wenig Sonne bekamen, da er die meiste Zeit über alten Büchern verbrachte. Er hatte die richtigen Worte gefunden und mit leiser Stimme begann er die alte Sprache zu rezitieren.

Plötzlich begannen sich die Buchstaben zu regen, sie wuselten durcheinander, bewegten sich knisternd über die vergilbten Seiten und schienen keinen Augenblick still zu stehen.

Paul wusste trotz allem, was er sagen musste, die Worte kamen von ganz alleine aus seinem Mund. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte sie nicht aufhalten können.

Er riss die Augen von dem Buch los und sah zu der Leiche hin. Sein toter Mund öffnete sich ein Spalt weit und weißer Qualm stieg daraus hervor, ebenso wie aus der Nase und den Ohren. Die Wolke wurde immer dichter und knüllte sich zu einer kleinen Kugel zusammen die problemlos aus dem Kreidestern heraus flog und nur ein Ziel kannte: Die Schale mit dem Blut.

Zufrieden beobachtete Paul den Qualm dabei, wie er sich über die Schale stülpte. Dann beendete der Mann den Bannspruch mit einem harschen Befehl. Wie von einer unsichtbaren Klinge getroffen krümmte sich die Wolke zusammen und sträubte sich gegen die Ketten, die ihr Paul gerade anlegte.

Wie erwartet schaffte sie es nicht. Der Qualm stieg zwar fast bis zur Decke und wand sich wie unter Stromstößen, formte Gesichter von Menschen und Tieren, aber schließlich sank er wieder zurück auf den Boden.

Zufrieden wischte sich Paul das Blut ab, das aus seiner Nase gequollen war vor lauter Anstrengung den Geist zu fesseln.

Dann winkte er die Wolke heran und fragte: „Wie ist dein Name, bei dem ich dich rufen kann?“

Der Geist knurrte unwillig und antworte schließlich: „Manuel. Was hast du mit mir gemacht?“

„Nun, ich habe dich erst getötet, dann deinen Geist aus deinem Körper gelockt, wozu nur ein wenig frisches Blut nötig war, und schließlich habe ich dich gebannt. Ist es nicht erstaunlich, wie gierig ihr Geister doch seid? Ihr wollt jeden Tropfen Blut, den ihr bekommen könnt. Aber nun stell ich dich deinem Kollegen vor. Du wirst eine sehr lange Zeit mit ihm verbringen.“

Paul murmelte einige Worte und sofort erschien ein weiterer Geist. Auch er war nur eine nebulöse Kugel, die hin und her waberte als könnte sie sich nicht für eine Gestalt entscheiden. Mal war es ein Hund, dann wieder ein kleines Kind, dann ein geschlossenes Buch oder ein Bleistift.

„Lass den Unsinn!“, bellte der Herr der beiden Geister wütend. „Ich habe einen Auftrag für euch beide. Sucht die ganze Stadt nach freien Geistern ab, und wenn ihr einen findet, dann bringt ihr ihn sofort zu mir! Und du“, er zeigte auf seinen neuen Diener, „vernichte alle Spuren hier, die auf mich hindeuten. Und nun macht euch an die Arbeit!“

Der Mann packte das Buch, die Schüssel und das Messer in einen Rucksack, den er sich über eine Schulter hing, und verließ den Keller.

Die beiden Geister schwebten noch einen Moment unentschlossen im Raum, dann machten sie sich an ihre Arbeit, auch wenn der jüngere Geist immer wieder inne hielt und sich gegen den Bann aufbäumte, der ihn zwang gründlich alle Spuren zu vernichten. Er verwischte Fingerabdrücke auf dem Türgriff und Fußspuren im Dreck, klaubte Fäden auf und suchte nach Bluttropfen.

Als er endlich fertig war, verließ er den Ort an dem seine Leiche ruhte und machte sich daran, nach einem freien Geist zu suchen, von dem er nicht einmal wusste, was das überhaupt war. Wahrscheinlich würde er ihn schon erkennen.

Es waren nicht viele Menschen auf der Straße unterwegs, aber die meisten wunderten sich über den dichten Nebel, der aus dem Kellerloch emporstieg und in der warmen Sonne verblasste.

Einer wunderte sich sogar so sehr, dass er neugierig durch das Loch hinunter lugte, aufsprang und zur nächsten Telefonzelle rannte. Dort verbrauchte er sein letztes Geld, um die Polizei zu rufen.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand ich nicht sofort auf, sondern blieb ruhig liegen und ließ mir noch einmal die Geschehnisse von gestern Abend durch den Kopf gehen.

Jonathan war fröhlich gewesen, solange er mich nicht angesehen hatte. Er hatte mit den Kindern gelacht, ihnen Witze erzählt, mit ihnen gespielt und gegrinst wie ein Honigkuchenpferd.

Wahrscheinlich hätte außer mir niemand gewusst, dass es vollkommen verlogen gewesen war. Er hatte auch nachgedacht, es hatte hinter seinen dunklen Augen so hart gearbeitet, dass ich fast das Knirschen und Knistern habe hören können.

Er hatte bestimmt darüber nachgegrübelt, wie er den Knochen zurück ins Grab bringen könnte.

Irgendwann hatte er mir einmal gesagt, dass er ihn nicht anfassen kann, auch nichts, was der Splitter gerade berührt, also kann er ihn nicht selbst zum Friedhof tragen.

Aber als wir dann nach Hause gefahren waren, ohne noch ein Wort zu wechseln, hatte er ausgesehen, als hätte er einen Entschluss gefasst, irgendeinen endgültigen.

Gestern hatten wir einfach nur unsere Räder weggeräumt und waren dann beide schweigend ins jeweilige Zimmer gegangen. Und jetzt war ich zu feige aufzustehen.

Wahrscheinlich wollte ich es gar nicht wissen, was sich sein intelligenter Kopf da ausgebrütet hatte, es war sicher nicht angenehm für mich, auf die eine oder andere Weise.

Jetzt konnte ich nichts anderes tun, als abwarten.

Noch eine gute halbe Stunde blieb ich in meinem Bett liegen und lauschte auf jedes Geräusch. Aber die Wohnung schlief immer noch, ab und zu knackten die Rohre, aber das war wirklich das Einzige, was ich wahrnahm. Also musste Jonathan auch noch schlafen. Oder was er stattdessen tat.

Ich stand auf, sammelte ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und schlurfte ins Badezimmer. Unbewusst gab ich mir schreckliche Mühe leise zu sein, damit er mich nicht hörte.

Als mir das auffiel, schüttelte ich nur den Kopf und stellte mich unter den heißen Wasserstrahl.

Als ich frisch gewaschen und ordentlich angezogen mit Jeans und T-Shirt in die Küche ging, wäre ich fast zurückgewichen, als ich sah, dass der Geist auf dem Tisch saß und gedankenverloren Zeitung las.

„Mein Grab wird frisch belegt. In zwei Tagen. Es sterben zu viele, sie müssen die alten Särge wieder herausholen.“

„Oh.“ Etwas anderes fiel mir nicht ein. Was könnte ich schon sagen?

„Das wäre deine und auch meine Chance. Wir müssten nur Anspruch auf die Knochen erheben und sie dann irgendwo vergraben.“

Darauf fiel mir nun wirklich gar nichts mehr ein. Ich sollte irgendwo einbrechen, eine Urne oder was weiß ich klauen und sie dann irgendwo in der Erde versenken?

Jonathan wusste wohl, was in mir vorging, denn er nickte knapp, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden. „Aber es wäre besser als das Grab zu öffnen, nicht wahr?“

„Hm. Was liest du da?“, versuchte ich mich abzulenken.

Während ich zur Kaffeemaschine ging, drehte er die Zeitung zu mir um und erstaunt las ich die Überschrift: ,,Geheimnisvolle Erscheinungen, Toter ohne Todesursache, Entdeckung einer geheimen Sekte!''

Ah ja. Erstaunt sah ich Jonathan an. „Du glaubst diesen Unsinn?“

„Das ist kein Unsinn. In dem Artikel steht, dass in einem Keller, irgendwo hier in der Stadt, eine Leiche gefunden wurde. Es war ein Ritualmord, aber die Todesursache fehlt, der Tote ist einfach kerngesund umgekippt. Ein Penner wurde auf den Keller aufmerksam, weil ein seltsamer Nebel dort aufgestiegen ist. Da war ein Nekromant am Werk.“

„Ein Nekromant? Was ist das?“

„Jemand, der Tote wieder zum Leben erwecken kann. Je nachdem ganz, als wäre der Tote nie gestorben, oder er ruft einfach dessen Geist zurück in diese Welt.“

„So wie bei dir?“

„Nein. Ich bin hier, weil mein Skelett nicht vollständig ist. Ein Nekromant dagegen lockt nur die Geister an, die immer noch ein wenig hier sind, weil sie sich noch nicht von ihrem Körper gelöst haben. Und denen zwingen sie ihren Willen auf, sie können nicht sterben, solange der Nekromant sie nicht freigelassen hat. Und wenn er das nicht tut und dann stirbt, dann bleibt der Geist ewig hier. Sie werden zu Spukgestalten, die ab und zu die Menschen erschrecken.“

„Was hat das mit dir zu tun? Du bist doch endgültig tot, wenn der Knochen wieder in deinem Grab ist?“

„Ja. Aber solange ich nicht tot bin, kann er mich gewissermaßen einfangen. Weißt du, das Besondere an Nekromanten ist, dass sie Geister sehen können. Einen Geist beschwören kann jeder, der etwas zum Anlocken und etwas zum Binden hat. Aber sehen können sie nur die, die damit geboren sind oder die den Knochen eines Geistes besitzen. Und das ist ein ziemlicher Vorteil. Denn wer glaubt schon an Geister, wenn er sie nicht sehen kann? Wenn Geister gerade erst zurück in diese Welt geholt wurden, sind sie meistens auch noch sichtbar, wie hier.“ Er tippte auf das Papier.

„Gut, das habe ich jetzt verstanden. Aber was hast du damit zu tun?“ Inzwischen saß ich auf einem Stuhl, schlürfte meinen Kaffee und legte die Beine gemütlich auf dem zweiten Stuhl ab. Jonathan schien sich ernsthaft Sorgen zu machen, so sehr jedenfalls, dass er erstmal das Thema „Wie sterbe ich richtig?“ hinten an stellte.

„Ich glaube nicht, dass es ein erfahrener Nekromant war, er hat noch nicht viele Diener, deswegen musste er selbst jemanden umbringen, wahrscheinlich um wenigstens zwei Geister kontrollieren zu können. Ein erfahrener Nekromant hätte das niemals getan, weil er zu viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Und wenn er mich jetzt sieht, wird er auch versuchen mich unter Kontrolle zu bekommen. Meine Chance zu sterben sinkt mit einem Nekromanten in der Stadt auf eine Nachkommastelle, die nicht einmal weiß, wie das Komma von hinten aussieht. Oder es ist ein so mächtiger Nekromant, dass es ihm egal ist, was er tut.“

„Oh.“ Ich wusste doch, dass dieser Tag nichts Gutes für mich bringen würde. Sicher bestand er nun noch sehr viel stärker darauf, dass ich den Knochen zurück brachte.

Gut, wäre ich ein wenig mutiger, hätte ich es wahrscheinlich schon längst getan. Vielleicht.

„Aber die Stadt ist groß. Warum denkst du, dass er ausgerechnet dich findet?“

„Nekromanten sind Nekromanten. Sie haben einen Riecher für Geister.“ Unruhig sprang Jonathan auf, legte die Zeitung auf den Küchentisch und starrte aus dem Fenster.

Ja, eindeutig, er machte sich nicht nur große Sorgen, sondern geradezu riesige.

„Ich könnte die nächsten zwei Tage einfach hier bleiben, bis du meine Knochen geklaut hast.“

„Außer meiner Feigheit gibt es da noch einige andere Probleme: Hast du eine Ahnung, wo die Dinger hinkommen?“

„Danke, dass du meine Überreste als Dinger bezeichnest. Was noch?“

„Wie soll ich da rein kommen, wo auch immer das ist?“

„Das wirst du dann sehen. Ich weiß es auch nicht.“

Damit schien das Thema abgeschlossen, denn er sagte nichts mehr, ich sah ihm aber an, dass es wieder hinter seiner hellen Stirn gewaltig arbeitete.

Dann, während ich einige Haferflocken mit Milch und Kakao bearbeitete, platzte es plötzlich aus ihm heraus: „Du musst es gar nicht tun! Es könnte genauso irgendjemand anderes machen! Ich könnte einfach jemanden dafür bezahlen, den Knochen zurück zu bringen!“

...

Seine Ideen wurden auch immer besser.

Geisterjagd

„Meinst du das ernst?“ Fassungslos starrte ich Jonathan an.

„Natürlich meine ich das ernst! Ich finde bestimmt jemanden, der den Knochen zurück bringen kann. Das ist doch die beste Lösung. Du musst kein Grab öffnen und ich kann sterben.“ Damit hatte er seine gute Laune wieder. Grinsend schwang sich der Geist vom Tisch herunter, warf mir die Zeitung zu und verschwand in seinem Zimmer.

Ich brauchte einen Moment, um aufzuspringen und ihm zu folgen.

Schweigend sah ich Jonathan zu, wie er leise summend das Geld zählte, das er mit seinen Jobs einnahm. Er hatte einfach zu viel Energie, um sich lange zu langweilen.

„Aber was soll ich denn ohne dich machen?“, fragte ich leise seine Kehrseite. Einen Moment lang dachte ich, er hätte mich nicht gehört, dann drehte er sich zu mir um.

„Dasselbe, wie sonst auch. Du brauchst mich doch nicht, Dennis. Ich bin doch nur eine Last für dich. Sei doch froh, dass du mich bald los bist.“

„Wieso denkst du, dass ich dich loswerden will?“, erkundigte ich mich ziemlich erstaunt.

„Weil ich das Gefühl habe, dass du mir die Schuld für dein Leben gibst! Für alles, was jemals falsch gelaufen ist, und das ist eine ziemliche Menge. DU hast mir immer vorgehalten, dass ich daran Schuld sei, dass du dich geritzt hast, für die Drogen, deine schlechten Schulnoten, dass dein Vater dich verprügelt hat, und was weiß ich noch alles. Dafür, dass du keine Freunde hattest, dass deine Mutter tot ist und deine Schwester dich nicht gegen deinen Vater unterstützt hat. Einfach alles ist meine Schuld, denn du hast mich ja nicht gebeten zu kommen! Nein, du hast nur versucht mich loszuwerden, ohne dass du auch nur daran gedacht hast, meinen einzigen Wunsch zu erfüllen.“

Unter dem Ansturm von Beschuldigungen wich ich langsam zurück, bis ich mit dem Rücken an die Wand stieß und Jonathan, der mir gefolgt war, fast den ausgestreckten Zeigefinger zwischen meine Rippen stieß.

„Ja, für dich war ich immer an allem Schuld! Und nun entschuldige mich, ich versuche mich jetzt umzubringen.“ Damit schnappte er sich Schuhe und Jacke und rauschte hinaus.

Fassungslos sah ich ihm hinterher. „Aber mit dir wurde doch alles nur besser!“ Natürlich würde er mich nicht hören, dafür war er schon zu weit weg.

Langsam rutschte ich an der Wand herunter und stützte den Kopf auf die Hände.

Wahrscheinlich würde er jetzt nie mehr zurückkommen.

Nein, natürlich würde er noch einmal wiederkommen, um den Knochen zu holen. Und dann würde er für immer tot sein.

Ich würde wahrscheinlich nie mehr mit ihm reden oder lachen können, weil er sicher kein Wort mehr mit mir reden wollte.

Verzweifelt wischte ich mir über die Augen und ein kleiner Teil von mir fragte sich, wieso ich hier eigentlich saß und fast heulte. Ein kleiner Teil war froh, dass er weg war, dieser kleine Teil hatte ihm tatsächlich die Schuld an allem gegeben.

Aber nur ein kleiner Teil, den ich einfach überhörte.

Plötzlich war ich entschlossen Jonathan nicht gehen zu lassen. Ich musste noch einmal mit ihm reden! Ich sprang auf, schlüpfte in meine Schuhe und ignorierte die Existenz der Schnürsenkel. Dann hastete ich die Treppe hinunter, stolperte über meine leider doch existierenden Schnürsenkel und verdankte es wohl meinem Schutzengel, dass ich mir nicht das Genick brach. Dadurch wurde ich ein wenig aufgehalten und als ich endlich auf die Straße trat, war von Jonathan keine Spur mehr zu entdecken.

Ein wenig konfus sah ich mich noch einmal um, dann ging ich einfach in die nächstbeste Richtung los. Ich hatte wirklich gar keine Ahnung, wo er hin war, aber vielleicht fand ich ihn einfach zufällig. Ich musste einfach mit ihm reden.

Auch wenn er mir nicht zuhörte oder wenn er mich einfach ignorierte, ich würde mir den Rest meines Lebens Vorwürfe machen, wenn ich nicht wenigstens versuchte ihn zu finden.


Ungeduldig wartete Paul darauf, dass die Ampel grün wurde. Nicht, dass er es eilig gehabt hätte zu dem Treffen mit seinem alten Mentor zu kommen, aber er hasste es lange draußen zu sein. Er hasste es unter so vielen Menschen zu sein. Die Straße war so unübersichtlich und sogar ein Geist hätte ihm folgen können, ohne dass er es bemerkte.

Außerdem störte das pulsierende Leben seine feinen Sinne für das Tote. Kinder und Jugendliche rempelten ihn an und jedes Mal ging seine Konzentration wieder verloren, die er benötigte, um sich gegen andere Nekromanten zur Wehr zu setzen.

Er rechnete zwar nicht damit, hier angegriffen zu werden, aber nicht alle Totenbeschwörer waren so vorsichtig wie er und es gab mehr als einen Narren unter den Reihen der Begabten.

Endlich erschien das kleine, grüne Männchen und die Autos stoppten.

Der Nekromant warf einen schnellen Blick hinter sich, mehr aus Gewohnheit als aus dem Gefühl heraus, verfolgt zu werden, dann ging er weiter. Hastig wich er den anderen Menschen aus, die Kapuze seines langen, braunen Ledermantels tief ins hagere Gesicht gezogen.

Dann hatte er endlich sein Ziel erreicht. Mit einem erleichterten Seufzen schob er die Kapuze vom Kopf und drückte seine Aktentasche noch ein wenig fester an sich.

Einen Moment lang blieb er stehen und sah sich aufmerksam um. Das Viertel war das mit den billigsten Mieten der ganzen Stadt. Und mit der höchsten Kriminalitätsrate der Umgebung. Hier konnte man von Menschen bis zu Drogen alles kaufen und es war ziemlich billig.

Dementsprechend sah es auch aus. Die Häuser waren grau und kalt und man konnte erahnen, was sich hinter den kleinen Fenstern alles abspielte.

Paul trat einen hastigen Schritt zur Seite und wurde so nicht von einer leeren Coladose getroffen, die irgendjemand weggeschmissen hatte. Natürlich auf die Straße, denn Mülleimer gab es schon lange keine mehr. Solange die Autos noch durchkamen, störte es niemanden.

Sein Ziel unterschied sich nicht von den Häusern ringsum. Eine breite Metalltür führte ins Innere, die wenigen Fenster waren mit schwarzen Tüchern verhangen, so dass man keinen Blick hineinwerfen konnte.

Der Nekromant versicherte sich noch einmal, dass sich niemand seiner Tasche bemächtigt hatte und drückte dann die schwere Tür einen Spalt weit auf, gerade genug, um hindurch zu schlüpfen.

Das Lokal, das er jetzt betrat, hatte nicht gerade den besten Ruf. Die meisten sagten, dass sich dort Möchtegern-Nekromanten, Satanisten, Sektierer, Pädophile, Verrückte und was noch alles in der Gesellschaft nicht angesehen war, trafen. Wenn jemand wüsste, dass einer der Tische für echte Nekromanten reserviert war, hätten besorgte Eltern wahrscheinlich schon die Polizei gerufen, vom Zoll bis zum Drogendezernat. Aber da es niemand wusste, fühlten sich die Nekromanten unter all den schrägen Gestalten sehr wohl. Innerhalb der düsteren, mit schwarzer Seide bedeckten Wände gab es nur eine Regel:

Kümmere dich um deine eigenen Sachen, alles andere geht dich nichts an!

Paul hielt sich mit großer Freude daran.

Nachdem er seinen Mantel an die Garderobe neben der schwarzen Tür gehängt hatte, sah er sich kurz um. Ungefähr zehn kleine, runde Tische waren in dem Raum verteilt. Fenster gab es keine, dafür sorgten unzählige schwarze Kerzen für Stimmung. Überhaupt gab es keine andere Farbe als schwarz. Die Tische, die Theke, die Gläser, die Gäste, bis auf Paul, der Fußboden, die Decke, alles war in schlichtem Schwarz gehalten.

Da es immer noch Vormittag war, fläzten sich nur wenige Gestalten auf den schwarzen Hockern, die um die Tische herum standen, und der Nekromant hatte kein Problem damit, seinen ehemaligen Mentor zu entdecken.

Einen Augenblick später saß er ihm gegenüber und legte seine Tasche auf die kleine Tischplatte. Dann warf er dem Anderen einen kurzen Blick zu.

Er hatte sich nicht verändert. Er trug immer noch einen breitkrempigen, abgenutzten Hut, der sein Gesicht in Schatten tauchte. Nur ein dünnes, langes Kinn schaute ins Licht, das er auf seinen Brustkorb abstützte.

Die Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte, waren in ein einfaches, graues Hemd gehüllt, das zweifellos auch schon bessere Tage gesehen hatte.

„Da bist du ja endlich, ich habe schon gedacht, dass du nicht mehr kommst“, knurrte der ältere Mann unfreundlich und eine stinkende Alkoholfahne wehte Paul entgegen. Dieser verzog das Gesicht und zog aus der Tasche einige Papiere hervor.

„Hier ist alles, was du wolltest, Mike. Alle meine Aufzeichnungen über freie Geister, deren Fähigkeiten, die Unterschiede zu beschworenen Geistern, wie man sie fängt und über ihre Angewohnheiten.“

Zufrieden grunzte der Ältere, rollte die Blätter zusammen und schob sie in seine Jackentasche.

Paul tat es weh, wie sein ehemaliger Mentor das Papier vergewaltige, und um sich abzulenken fragte er: „Was hast du damit vor?“

„Was geht dich das an?“

„Immerhin ist das meine Arbeit. Ich habe daran mehrere Jahre gesessen, während du dich nur darum gekümmert hast, dass deine Diener noch mehr Alkohol klauen.“

Paul bereute seine Worte sofort. Nicht, weil sie gelogen gewesen wären, es stimmte, was er gesagt hatte. Aber er hasste es, seine berühmte Beherrschung zu verlieren.

Besonders gegenüber seinem ehemaligen Mentor.

Er hatte über vier Jahre damit verbracht, Mike zu bedienen, alles zu tun, was er wollte, seine Wünsche zu erfüllen, für ihn zu arbeiten und jeden Handgriff abzunehmen.

Dafür hatte er die Grundlagen der Nekromantie erlernt. Etwas, das selbst der dümmste Schüler innerhalb einer Woche lernte: Wie man die richtigen Worte aussprach, wie man die Geister anlockte und sie bannte. Und wie man sie wieder loswurde. Damit hätte er nicht einmal vor dem Rat bestanden, der alle jungen Nekromanten prüfte, um zu wissen, wie gut man auf ihre Fähigkeiten zählen konnte. Wahrscheinlich hätte Mike große Schwierigkeiten bekommen, hätte Paul nicht wochenlang die Nächte damit verbracht, dicke Bücher zu lesen, um alles zu lernen, was er wissen musste.

Trotzdem hätte sein Mentor fast verhindert, dass man ihn als vollwertigen Nekromanten ansah.

Paul hasste ihn, obwohl er seit über dreißig Jahren nichts mehr mit ihm zu tun hatte.

„Nun, es war deine Arbeit. Jetzt darf ich mich auch daran erfreuen.“ Mike grinste überlegen. „Du könntest sowieso nichts damit anfangen. Aber ich gebe dir einen Tipp: Jemand hat einen freien Geist gesehen. Sämtliche Nekromanten der Stadt machen sich gerade bereit für die Jagd. Und ich habe jetzt einen gewaltigen Vorteil auf meiner Seite. Dir traute ich sowieso nicht zu, irgendetwas Vernünftiges zustande zu bringen, außer in alten Büchern zu blättern, also habe ich bald einen sehr mächtigen Diener. Dank dir.“

Mike lachte hämisch, verpasste Paul einen heftigen Hieb gegen die Schläfe, und während sich langsam ein schwarzer Schleier über den Jüngeren senkte, verschwand er zwischen den Tischen nach draußen.

Paul kämpfte einen Moment gegen die Ohnmacht, flüsterte den Namen eines seiner Geister und ergab sich dann der Dunkelheit.

Wie gut, dass er damit gerechnet hatte. Er hatte Stunden gebraucht, um seine Arbeit zu fälschen. Aber es hatte sich gelohnt. Genauso, wie einem seiner gebannten Geister genaue Anweisungen zu geben, falls er ihn rufen würde. Mike würde sich jedenfalls nicht an der Jagd beteiligen.


Stirn runzelnd sah ich mich um. War ich überhaupt schon mal hier gewesen? Eher nicht, ich hatte absolut keine Ahnung, wo ich war. Und Jonathan hatte ich auch nicht gefunden.

Leicht verzweifelt sah ich mich um, vielleicht entdeckte ich ja wenigstens eine Straßenbahn oder Bushaltestelle.

Fehlanzeige. Die Häuser erinnerten mich ein wenig an eine Vorstadt: Vorgärten, nicht mehr als zwei Stockwerke und ein fröhlich bellender Dackel. Einige Meter vor mir entdeckte ich den Eingang zu einem Park, dort konnte ich in Ruhe Trübsal blasen und überlegen, wie ich nach Hause kam. Aus Frust darüber, dass ich Jonathan nicht fand, waren anscheinend meine grauen Zellen vollkommen eingeschlafen.

Ich sah mich kurz um und ließ mich dann auf einer Bank, die halb verbogen hinter einem großen Busch stand, nieder und starrte in den grauen Himmel. Wahrscheinlich würde es bald regnen.

Von der nächsten Telefonzelle aus könnte ich Diana anrufen und fragen, ob sie mich abholen könnte. So würde ich schon mal nach Hause kommen. Mein Handy hatte ich natürlich zu Hause liegen lassen.

Plötzlich erregten zwei seltsame Gestalten meine Aufmerksamkeit.

Der eine war ziemlich groß, dick und schmierig. Auf dem runden Schädel thronte ein großer Hut, unter dem lange, fettige, braune Strähnen hervorragten und der das Gesicht verdeckte. Überhaupt schien er es darauf anzulegen, möglichst unerkannt zu bleiben, denn außerdem trug er noch einen weiten, hellen Mantel.

Der Andere dagegen war ziemlich klein und sehr viel dünner, geradezu dürr. Das Einzige, was ich von seinem Gesicht erkennen konnte, war eine schiefe Hakennase. Er war ganz normal in Jeans und Pullover gekleidet.

Ich brauchte einen Moment, um zu merken, was mir an den beiden seltsam vorkam. Tatsächlich schwebte hinter dem einen eine kleine, weiße Wolke, schlängelte sich dicht auf dem Boden hinter ihm her. Keiner der beiden schien sie zu bemerken, während sie auf mich zu kamen und der aufkommende Wind ihre Unterhaltung zu mir herüber trug.

„... freier Geist! Er wurde gesehen, es ist sicher. Vertrau mir Mike, ich bin mir ganz sicher! Alle sind hinter ihm her, alle Nekromanten dieser ganzen verdammten Stadt. Natürlich hat niemand damit gerechnet. Alle, die ich kenne, sind noch damit beschäftigt sich ordentlich vorzubereiten. So ein freier Geist ist nicht ohne“, meinte der Kleine.

Der Andere nickte und meinte dann überheblich: „Mit dem Wissen von meinem nichtsnutzigen Schüler haben wir keine Probleme mit ihm! Er hat doch tatsäch...“ Mitten im Wort verstummte er und starrte auf den Boden. Anscheinend hatte er jetzt auch den Nebelschwaden gesehen. Hastig brabbelte er irgendeinen Kauderwelsch, den ich nicht verstand. Anscheinend wartete er auf irgendeine Wirkung, als nichts geschah, drehte er sich um und lief weg.

Er kam nicht weit.

Die Wolke stürzte sich auf ihn, jetzt keine Wolke mehr. Selbst ich erkannte, was es wirklich war: Ein Geist. Ein ziemlich wütender Geist. Er stürzte sich, nun mehr oder weniger in menschlicher Form auf den großen, dicken Mann. Er umarmte ihn kraftvoll, presste ihn immer fester an sich. Dann stiegen die beiden langsam in die Höhe. Immer höher und höher und bald sah der Mensch aus, als würde er in einer Wolke stecken.

Dann trennten sich die beiden.

Der Mann kam herunter, die Schwerkraft wirkte wieder auf ihn und mit einem hässlichen Geräusch prallte er auf die Erde. Der Geist vergewisserte sich kurz, dass er tot war, schwebte dann gen Himmel und in die Richtung aus der sie gekommen waren. .

Der kleinere Begleiter des inzwischen Toten, hatte dem Mord mit offenem Mund zugesehen. Er schien sich keine großen Gedanken über den Geist zu machen, er stürmte einfach weg, so schnell er konnte. Dabei erschien ein leichter Nebel um ihn, der sich allerdings nicht veränderte. Vielleicht hatte er sich ja selbst einen Schutz geholt.

Dann war es wieder ruhig.

Ich starrte auf die Leiche und versuchte zu verarbeiten, was jetzt eigentlich geschehen war.

Zwei komische Männer hatten über einen freien Geist geredet. Über einen freien Geist, der gejagt wurde. Von sehr vielen Nekromanten. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken und ich fröstelte. Schon allein das Wort Nekromant hörte sich unangenehm an, aber es wurde noch sehr viel unangenehmer, wenn von vielen Nekromanten die Rede war. Von allen Nekromanten einer Stadt. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie viele von ihnen hier lebten, aber es waren sicher nicht allzu wenige. Sonst wären die beiden nicht so besorgt gewesen.

Ich wischte mir mit meinem Ärmel über das Gesicht.

Nein, ich hatte zwar keine Ahnung, wen sie eigentlich jagten, aber wahrscheinlich würde dieser Geist nicht mehr sehr lange frei bleiben.

Der Tote war mir ziemlich egal, denn anscheinend waren ziemlich viele Nekromanten auf der Jagd nach dem Geist. Und irgendein Nekromant hatte einen seiner Kollegen umgebracht. Anscheinend waren sich die Herren wohl nicht so ganz einig.

Ich sprang von meiner Bank auf und dankte wieder mal meinem Schutzengel, dass niemand mich gesehen hatte. Dann rannte ich zum Ausgang des Parks, ignorierte die Leiche und sah mich suchend um.

Tatsächlich stand nur ein paar Meter weiter eine Telefonzelle. Wundersamerweise funktionierte sie sogar. Zuerst bettelte ich Diana an mich abzuholen. Dann, nach einigem Zögern, benachrichtigte ich die Polizei und gab ihnen meine Telefonnummer. Ich wollte nicht hier auf sie warten, ich musste Jonathan finden, bevor es irgendjemand sonst tat! Vielleicht waren sie gar nicht hinter ihm her. Vielleicht wollten sie einen ganz anderen.

Aber darauf konnte ich es nicht ankommen lassen.

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