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Die Ruhe der Toten
Kapitel 10 und 11
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Informationen
- Story: Die Ruhe der Toten
- Autor: Wölfchen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
Nachschub
„Dennis, was ist denn los? Willst du doch mit in die Klinik kommen?“, wurde ich hoffnungsvoll von Diana begrüßt, als sie mir endlich die Tür öffnete. Ich warf noch einen nervösen Blick hinter mich, dann drängte ich mich an ihr vorbei und warf die Tür zu.
Aufatmend schloss ich für einen Moment die Augen und fragte dann: „Ist er hier?“
„Nein, natürlich nicht. Er ist im Krankenhaus, sie würden ihn doch nie hinaus lassen“, antwortete sie verwirrt. „Aber... was ist denn passiert?“
„Keine Ahnung. Wieso ist Jonathan im Krankenhaus?“ Vor allem, da sie dort nichts für ihn tun können.
„Wieso Jonathan? Ich rede von unserem Vater.“
„Und ich von Jonathan. Also ist er hier?“
„Nein. Wieso... ?“
„Onkel Dennis“, wurden wir plötzlich von Kim unterbrochen, die wohl meine Anwesenheit bemerkt hatte. Noch im Schlafanzug und mit einem großen plüschigen Hasen unter dem Arm rannte sie die Treppe hinunter und umarmte mich mit viel Schwung.
„Hallo Kimmi.“ Ich strich ihr über die strubbeligen braunen Haare und wandte mich dann wieder meiner Schwester zu. „Ich bin heute Morgen kurz weg gegangen und als ich wieder gekommen bin, war er verschwunden.“
„Kommt, wir gehen frühstücken. Du hast bestimmt auch noch nichts gegessen!“
Wenige Minuten später saß ich mit den beiden bei meinem zweiten Frühstück und erzählte Diana, von meinen Erlebnissen mit dem seltsamen Geistermädchen.
Und dass ich mir schreckliche Sorgen um Jonathan machte.
Aber Diana konnte nur den Kopf schütteln.
Kurz vor der Verzweiflung beschäftigte ich mich deprimiert mit einem Brötchen und zerrupfte es systematisch.
„Wo könnte er denn sein?“, versuchte Diana mich zu inspirieren.
„Das ist es ja! Wenn er nicht hier ist, dann ist er irgendwo! Ich habe wirklich keine Ahnung.“
„Vielleicht kommt er ja noch. Er wird sicher wissen, dass du dir Sorgen um ihn machst und bei mir nach dir fragen wollen.“
„Und wenn er nicht kommen kann? Wenn er schon längst von irgendeinem Nekromanten beherrscht wird?“
„Was kann ich für Sie tun?“
„Nun... Ich möchte jemanden besuchen. Sara Nell.“
„Oh, ja natürlich! Nun, Sie kennen ja den Weg.“ Die Frau lächelte freundlich und erstaunlich natürlich, Paul nickte nur. Er musste sich mal nicht um eine betrübte Mühe bemühen, seine Laune war gerade dabei, in den Minusbereich zu sinken.
Es war eine Weile her, seit dem er zuletzt hier gewesen war und anscheinend hatte sich einiges geändert. Die vielen, ungeklärten Todesfälle hatten Verdacht erregt. Der Kontaktmann hatte ihn gewarnt, doch nun sah er es mit eigenen Augen: In den ehemals recht verlassen Gängen tummelten sich jetzt Männer und Frauen, eilten geschäftig hin und her, unterhielten sich, rannten zu ihren Zielen oder gönnten sich eine Pause.
Mehr als einmal wurde der Nekromant misstrauisch beäugt und nach dem Grund seines Aufenthalts gefragt.
Doch schließlich stand er vor dem richtigen Zimmer und trat ein.
Zufrieden sah sich Paul noch einen Moment um, dann trat er in die Mitte des kleinen Raums und legte seinen Rucksack auf einen Stuhl. Mit wenigen Handgriffen zog er das Messer und die Schale heraus. Der Verlust seines Handwerkzeugs hatte ihm nicht wirklich viel ausgemacht. Es war nicht das erste Mal, dass er sich neue Dinge besorgen musste und ein scharfes Messer sowie eine flache Schale waren nicht besonders selten. Ganz im Gegensatz zu dem nekromantischen Buch. Viele Formeln und Sprüche standen doppelt oder sogar dreifach in seinen verschiedenen Nachschlagewerken, aber in jedem Einzelnen gab es auch Einzigartige.
Sobald er wieder etwas Zeit hatte, würde er seine Geister auf die Suche nach dem gestohlenen Buch schicken. Oder vielleicht fand er es ja zusammen mit dem freien Geist.
Paul vertrieb den Gedanken an den Geist aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf sein Messer.
Nach einem kleinen, unauffälligen Schnitt an die richtige Stelle, das Handgelenk, füllte er die Schale mit etwas Blut. Es war nicht viel, aber es würde reichen.
Dann nahm er ein Buch heraus, in dem mehrere schwarze Lesezeichen steckten. Der Nekromant schlug eine Seite auf und las sich den richtigen Text zur Sicherheit noch einmal durch. Dann streckte er die Hand aus und legte sie vorsichtig auf den kleinen Schnitt.
Am liebsten hätte er sein Messer benutzt um die Frau vor ihm zu töten, doch das wäre viel zu auffällig gewesen. Also musste er stattdessen etwas mehr Nekromantie anwenden. Leise las Paul die alten Wörter vor, seine Augen huschten über die lebendig gewordenen Zeichen und er spürte ein Kribbeln in seinen Fingern, die auf der faltigen Haut lagen.
„Was machst du jetzt?“
Ich sah auf. Diana stand vor dem Sofa, auf dem ich lag und sah mich besorgt an.
„Ich meine, willst du hier bleiben. Ich mach jetzt Mittagessen.“
Ich setzte mich schwungvoll auf und vergrub mein Gesicht kurz in den Händen. Dann sah ich auf und schüttelte den Kopf.
„Nein, danke. Ich denke, ich wage es, in meine Wohnung zurück zu gehen. Ich muss etwas holen, falls es noch da ist. Ich hoffe es jedenfalls.“ Ich stand auf und ging zur Haustür.
„Sei vorsichtig.“ Diana umarmte mich noch einmal, dann ging ich hinaus und schlug den Weg nach Hause ein.
Diesmal war ich vorsichtiger. Ich lief so schnell ich konnte, ohne zu rennen und sah mich immer wieder um.
Aber ich bemerkte keine weiße Nebelschwade, kein zierliches, gesichtsloses Mädchen und auch niemanden, der so aussah, als würde er ein Nekromant sein.
Trotzdem atmete ich erst auf, als ich die Treppe hinauf eilte und zitternd den Schlüssel ins Schloss steckte.
Einen Moment wartete ich noch, dann drückte ich die Tür auf und lauschte. Alles war still.
So schnell ich konnte, eilte ich in die Küche, packte den Rucksack des Nekromanten und einige Klamotten zusammen und warf dann noch einen Blick in Jonathans Zimmer. Wie erwartet war es vollkommen leer. Ich blieb einen Moment stehen und seufzte leise.
Dann ging ich in den leeren Raum hinein und sah mich um. Nein, er hatte mir keine Nachricht hinterlassen. Vielleicht, weil er nicht mehr dazu gekommen war. Vielleicht, weil er es nicht gewollt hatte. Vielleicht hatte er nicht daran gedacht.
Fluchend versuchte ich, an etwas anderes zu denken und sah mich weiter um.
Dann warf ich einen Blick aus dem Fenster. Einige Meter weiter schwebte ein Nebelfetzen durch die Luft. Er war erstaunlich klein, und bewegte sich teilweise hektisch. Ich brauchte einen Moment um zu erkennen, dass dieser Geist gar kein Mensch war. Er sah aus wie ein verschwommener Vogel und wahrscheinlich war er das auch. Vielleicht hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, ohne Flügel zu fliegen.
Ich blieb einen Moment wie erstarrt stehen.
Wenige Minuten später stand ich wieder auf der Straße und zog mir eine Mütze, die ich ebenfalls aus der Wohnung mitgenommen hatte, tief ins Gesicht. Auch wenn ich nicht glaubte, dass das viel helfen würde.
Paul hätte fast gelächelt, als er endlich sein Werk beendete. Er war müde und ausgelaugt, außerdem quälte ein dumpfer Schmerz seinen Kopf, aber trotzdem war er zufrieden.
Er war nicht erwischt worden.
Er hatte alles bekommen, was er gewollt hatte.
Jedenfalls fast.
Der Nekromant warf einen kurzen Blick auf seinen Zettel, den er von dem Kontaktmann bekommen hatte. Der verdiente sich seit gut vier Jahren eine goldene Nase an den Nekromanten, die ihn dafür bezahlten, Opfer für sie zu finden. Viele Nekromanten hielten sich geradezu einen Hofstaat von gut dreißig oder vierzig Geistern. Sie hofften darauf, dass das Schutz genug war, auch wenn sie so viele Geister unmöglich gut kontrollieren konnten. Viele litten unter fiesen Kopfschmerzen oder wurden krank, weil es eine viel zu große körperliche Belastung war, sich über lange Zeit so stark zu konzentrieren.
Nur noch ein Name und eine Nummer standen auf dem Stück Papier. Paul erinnerte sich wieder daran, was der Mann zu ihm über die Personen auf der Liste gesagt hatte: Fast niemand würde sich um sie kümmern.
Paul zögerte einen Moment bei dem letzten Namen. Der Mann war anscheinend noch nicht ganz vergessen. Doch trotz des Risikos steuerte der Nekromant auch dieses Zimmer an. Er hatte noch nicht genug Geister beisammen. Außer den beiden menschlichen Geistern kontrollierte er nur noch einige Tiere, die bereits die Stadt ausspähten, aber die waren lange nicht so intelligent wie Menschen, Geister hin oder her.
Es war eine Weile her, dass er so viele Geister auf einmal bannte, denn normalerweise hielt Paul nichts davon. Unzählige schwache Geister nützten ihm nicht viel, er hatte Wert auf starke Geister gelegt, bis ihm einige abhanden gekommen waren. Jetzt musste er sich mit den Geistern zufrieden geben, die er kriegen konnte.
Aber Geister waren nur stark, wenn der Geist in dem Körper stark gewesen war. Dafür war das hier der falsche Ort. Hier gab es viele, die schon seit Jahren dahin vegetierten, kaum einen klaren Gedanken fassen konnten. Trotzdem hatte Paul acht neue Diener.
Entschlossen öffnete der Nekromant die Tür und ein weiteres Mal stellte er seinen Rucksack auf einen Stuhl und machte sich an die Arbeit. Er wollte gerade den Schnitt am Handgelenk durchführen, als sich der leblose Körper bewegte und zwei verwirrte, noch halb schlafende Augen anstarrten.
„Was .... tun Sie da? Sind Sie...“
Paul zögerte keinen Moment. Er presste dem schwachen Mann die Hand auf den Mund und beugte sich über ihn.
„Seien Sie still. Sie werden so oder so sterben, aber Sie könnten es wenigstens leise tun!“
Der Mann starrte ihn vollkommen verwirrt an, aber das reichte dem Nekromanten. Er ritzte die Hauptschlagader am Hals auf und hielt schnell eine Schale darunter. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass einige Tropfen daneben gingen und das weiße Laken beschmutzten. Immer noch mit einer Hand den Mund des Mannes zuhaltend, haspelte er den Spruch hinunter, um das restliche Leben aus dem Körper zu saugen und anschließend zu bannen.
Zuerst hatte der Mann noch versucht, sich zu wehren, Er hatte schwach nach Paul geschlagen, hatte versucht, seine Hand weg zu drücken oder Hilfe zu holen. Aber er war zu schwach, selbst für den Nekromanten
Die Kopfschmerzen wurden stärker, als er in irgendeiner Ecke seines Gehirnes einen weiteren Bannspruch einfror. Es erforderte ein gewisses Maß an Konzentration, aber jeder Nekromant musste es können: Das halten von Bännen. Sobald die ständige Konzentration nachlassen würde, wären die Geister frei.
Vielleicht war das eine der speziellen Gaben eines Nekromanten. Sie waren selbst im Schlaf nicht entspannt, dachten immer an mehrere Dinge gleichzeitig und selbst wenn sie ins Koma fielen, die Bannsprüche blieben bestehen.
Taumelnd machte sich Paul auf den Weg zurück in sein Haus. Er musste sich erst ein wenig ausruhen und dann die neuen Geister mit ihm bekannt machen.
Als ich wieder vor Dianas Haustür stand, fühlte ich mich schon fast sicher. Trotzdem sah ich mich mit einem paranoiden Blick um, bevor ich zum zweiten Mal heute auf die Klingel drückte. Meine Hand zitterte. Mein Herz schlug zu schnell.
Ich kniff kurz die Augen zusammen und wiederholte immer wieder, wie eine Beschwörung dieselben Worte: Er ist in Sicherheit, er ist in Sicherheit, es ist nur logisch, dass er in Sicherheit ist. Wenn er gefangen wäre, dann wäre das Mädchen nicht gekommen. Aber was, wenn es mehr als einen Nekromanten gab? Was, wenn der Herr des Mädchens und der Dieb der Knochen verschiedene Menschen waren?
„Ah, da bist du ja schon wieder. Hast du, was du wolltest?“, wurde ich von Diana begrüßt. Sie trat einen Schritt zur Seite und ich kam lieber schnell herein. Schweigend setzten wir uns ins Wohnzimmer, ich ließ mich auf dem Sofa nieder, sie setzte sich neben ihre Tochter, die leise vor sich hinsummend auf dem Boden mit Puppen spielte.
Auf dem Weg durch die Stadt hatten sich meine Gedanken verselbstständigt. Die Angst vor den Nekromanten und Geister, die Angst um Jonathan hatten nur dazu beigetragen, dass ich mir immer wieder vorstellte, was mit ihm passiert war. Mit mir passieren würde.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass Jonathan wieder in seinem Zimmer war und schlief. Ich hatte fast daran geglaubt, so sehr hatte ich es gehofft, aber dadurch war es trotzdem nicht wahr geworden.
Wütend über mich selbst fuhr ich mir mit meiner freien Hand über mein Gesicht und stellte fest, dass ich mich dringend mal wieder rasieren musste.
Ich lachte leise auf. Dass ich jetzt daran denken musste, war absurd.
„Alles in Ordnung, Dennis?“
„Mhm. Ja klar.“ Ich betrachtete nachdenklich den Rucksack und öffnete ihn dann. Wohlweislich holte ich nicht alles heraus, was darin war. Diana brauchte ich nun wirklich nicht mehr zu erschrecken. Stattdessen kramte ich die beiden nekromantischen Bücher heraus, die ich dem Knochendieb abgenommen hatte.
Ich betrachtete die beiden. Eigentlich sahen sie vollkommen gleich aus, jedenfalls für mein ungeübtes Auge. Beide waren etwa gleich groß und der Einband bestand aus braunem Leder. Und ich konnte die Schrift nicht lesen, die Runen waren vollkommen unverständlich für mich.
Nachdenklich starrte ich auf die Papierbündel in meinen Händen.
Vielleicht waren sie der Schlüssel. Der Schlüssel zu allem, zu einem ruhigen Leben, meiner Sicherheit und vor allem Jonathans Sicherheit. Bis mir wieder einfiel, dass er das gar nicht wollte. Er wollte kein sicheres Leben, sondern einen sicheren Tod.
Ein seltsames Wort für einen Menschen. Ein seltsames Wort für einen Zustand. Tot oder lebendig machte doch einen so großen Unterschied aus. Jedenfalls vollkommen tot.
„Ach, verdammt!“ Mit einem wütenden Schrei warf ich die beiden Schinken quer durch den Raum, nur um sofort aufzuspringen und sie wieder in dem Rucksack zu verstauen.
Dann klingelte das Telefon.
Diana, die mich verblüfft angesehen hatte, stand auf und ging hinaus.
„Du bist aber wütend, Onkel Dennis“, wunderte sich auch Kim und flocht ihrer Puppe weiter die langen, blonden Haare.
„Tschuldige, Kimmi. Ich...“ Weiter kam ich nicht, denn Diana stand weiß wie eine Wand in der Tür.
„Dennis, Kim, wir müssen sofort ins Krankenhaus. Etwas Schreckliches ist passiert!“
Im Krankenhaus
„Wie... was... ?“ Ich hatte keine Zeit, irgendwie zu verstehen, was eigentlich los war, denn Diana rannte in den Flur und kehrte einen Augenblick später mit Paar Schuhen zurück, die sie hastig ihrer Tochter über die Füße zog.
Als ich mich verwundert aufgerappelt hatte, landeten schon meine Treter und eine Jacke in meinen Armen, die ich gehorsam anzog.
Wenige Minuten später schloss Diana die Haustür ab und drückte mir Kim an die Hand.
„Einsteigen“, kommandierte meine Schwester dann und deutete auf das Auto. Sobald wir alle drei sicher saßen und uns angeschnallt hatten, ging es auch schon los. So dringend konnte es nicht sein, denn Diana hielt sich noch an die Geschwindigkeitsbegrenzung und ignorierte keine einzige rote Ampel.
Trotzdem reagierte sie erst, als ich sie das dritte Mal fragte, was denn nun eigentlich los sei und antwortete traurig: „Unser Vater ist tot! Dabei haben sie doch gesagt, er würde noch einige Wochen überleben. Irgendetwas muss schief gegangen sein!“
Ich biss mir auf die Zunge um nichts zu sagen. Jetzt war er also tot. Ich schloss für einen Moment die Augen um mich darauf zu konzentrieren, was ich eigentlich fühlte.
Aber da war... nichts. Es war mir vollkommen egal, egal, was er mir alles angetan hatte, nun war er tot. Und er würde es auch bleiben.
In diesem Moment parkte Diana und wir stiegen aus. Ich nahm Kim auf den Arm, die nicht so ganz verstanden hatte, was los war, aber ausnahmsweise nicht fragte.
„Hatten sie eigentlich viel Kontakt?“, fragte ich leise Diana und nickte zu ihrer Tochter, die sich stumm an mich klammerte.
„Nein, wir haben ihn ab und zu zusammen besucht und er ist auch hin und wieder zu mir nach Hause gekommen, aber sie mochte ihn glaub ich nicht besonders.“
Wieder erwiderte ich nichts, drückte aber meine Nichte kurz ein wenig fester an mich. Sie war eben ein kluges Kind.
Schweigend gingen wir weiter, selbst Kim war still und sah mit großen Augen das Krankenhaus an. Genauso interessiert sah sie sich um, als wir eintraten und Diana leise mit einer Schwester sprach. Die nickte ein oder zwei Mal, dann hantierte sie mit irgendeinem Gerät herum.
„Sie holt den zuständigen Arzt. Er soll uns wohl erklären, was schief gelaufen ist“, erklärte meine Schwester, die wieder zu uns trat und rieb sich mit einer zitternden Hand über die Augen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie kurz davor stand, zu weinen. Ich setzte Kim ab und führte Diana zu einem der unzähligen Plastikstühle, die hier überall herum standen.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Ich bin... war der behandelnde Arzt. Vogel. Mein Beileid.“ Ein Mann, der nur wenige Jahre älter als ich sein konnte, streckte mir die Hand entgegen. Ich schüttelte sie und warf dann meiner Schwester einen kurzen Blick zu. „Ich werde mich darum kümmern, Diana. Bleib hier sitzen.“
„Mhm.“ Sie legte die Hände um ihre Tochter und ich folgte dem Arzt einige Meter weit, sodass die beiden uns nicht hören konnten.
„Sie sind sicher sein Sohn, nicht wahr?“
Ich nickte knapp.
„Nun, wie Sie wissen litt ihr Vater an einer Leberzirrhose. Allerdings ist er nicht daran gestorben. Ehrlich gesagt, wir wissen nicht, woran Ihr Vater...“
„Hören Sie bitte auf, ihn so zu nennen!“ Ich biss die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzte. Immer wieder dieses Wort, das er nicht verdient hatte!
Der Arzt starrte mich einen Moment überrascht an, dann hatte er sich wieder gefangen: „Wie gesagt wissen wir nicht, woran Herr DeTarun gestorben ist. Es war auf keinen Fall die Krankheit, die verhielt sich ruhig. Stattdessen ...“
„Kann ich ihn sehen?“, unterbrach ich ihn unhöflich. „Wie Sie sich denken können, hatte ich einige Probleme mit ihm, aber trotz allem war er mein Vater. Nur ein letztes Mal“, log ich problemlos und verstand selbst nicht, warum ich es eigentlich tat. Mir lag wirklich nicht besonders viel daran, sein aufgedunsenes Gesicht noch einmal zu sehen. Aber irgendwie wollte ich sicher sein, vielleicht einfach sicher sein, dass er tot war.
Denn Tote mussten nun einmal nicht tot bleiben. Wenigstens das hatte ich von Jonathan gelernt.
Vogel zögerte noch einen Moment, dann nickte er knapp. „In Ordnung. Natürlich dürfen Sie niemandem davon erzählen. Kommen Sie mit.“
Fest entschlossen, als müsste er sich davon abhalten, zu viel nachzudenken stürmte er durch einen Gang, eine Treppe hinunter, wieder durch eine Tür, eine weitere Treppe, noch ein Gang. Schließlich standen wir vor einer wesentlich größeren Tür vor der ein Tisch und ein Stuhl stand.
„Sie müssen sich beeilen. Normalerweise sitzt hier immer jemand, der aufpasst, dass niemand hier hereinkommt.“ Er drückte die Tür auf und winkte mich hindurch. Einige Schritte später fand ich mich in einem großen Raum wieder, in dem fünf Liegen herum standen. Auf jeder lag etwas, das von großen weißen Tüchern bedeckt war. Alles andere betrachtete ich lieber nicht so genau, ich war mir fast sicher, dass die Schalen und Eimer und Geräte nur dazu da waren um Organe entweder aufzubewahren oder aus den Körpern herauszuholen.
„Das ist er.“ Vorsichtig zog der Arzt das Laken ein kleines Stück von einem der toten Körpers, sodass gerade der Kopf enthüllt wurde. Tatsächlich. Ich hatte meinen Erzeuger seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, aber selbst als Toter sah er noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Sein breites Gesicht war aufgedunsen, seine knollige Nase war immer noch so rot wie ich sie in Erinnerung hatte und selbst der ewige, widerliche Fünf-Tage-Bart war nicht gewichen. Die einzige Ähnlichkeit die ich jemals zwischen uns anerkennen wollte, waren die braunen, leicht lockigen Haare, die von grauen Strähnen durchzogen waren. Irgendwann war er wohl zu faul gewesen, sie sich schneiden zu lassen und nun reichten sie ihm in verfilzten Zotteln bis zu den Schultern.
„Das einzige Ungewöhnliche, das wir feststellen konnten, war das hier.“ Vorsichtig schob der Arzt das Tuch noch ein Stück zurück und zeigte mir einen Schnitt am Hals. Interessiert beugte ich mich näher. Tatsächlich war es einfach ein kleiner Schnitt, wahrscheinlich von einem Messer. Die Wunde war nicht einmal so lang wie mein Daumen, hatte aber fast ganz genau die Halsschlagader aufgeschlitzt. Ich ging um den Tisch herum und betrachtete den Hals des Mannes noch ein wenig näher. Dann hob ich die Hand und streckte einen Finger aus, als würde ich ein Messer halten.
Wenn ich mich nicht irrte, dann hatte jemand die Ader mit einer Klinge aufgeschlitzt, hatte sich aber im letzten Moment doch noch bewegt, sodass er ein wenig abgerutscht war.
Obwohl ich eigentlich keine Ahnung von Messerverletzungen hatte, war ich mir doch recht sicher, dass es so gewesen sein musste. Oder zumindest könnte.
Trotzdem fragte ich meinen Begleiter, der geduldig auf der anderen Seite der Liege stand: „Wissen Sie, wie das passiert ist?“
„Nein. Er wurde damit gefunden. Zuerst dachten wir, dass er sich vielleicht irgendwie vergiftet hat. Aber er ist einfach tot. Es gibt keine Ursache.“
Ich betrachtete nachdenklich die Leiche.
„Das ist nicht das erste Mal, dass Sie einen Toten sehen, nicht wahr?“
„Wie kommen Sie darauf“, antwortete ich zerstreut und musterte wieder das blasse, ungesunde Gesicht des Mannes, der einmal mein Vater gewesen war. Tatsächlich sah er aus, als wäre er einfach umgefallen. Ich hatte noch keinen Toten gesehen, der eines natürlichen Todes gestorben war, aber ich hätte gedacht, dass man es ihnen ein wenig ansehen würde. Den Tod.
„Sie sind nicht so verschreckt. Ihnen macht der Anblick nichts aus.“
„Hm.“ Ich sah ihn kurz an. Er wirkte neugierig, aber nicht misstrauisch. „Gehen wir. Ich bin hier fertig,“ stellte ich dann fest.
„Wollen Sie sich nicht verabschieden?“ Seine Frage holte mich ein, als ich schon fast an der Tür war und ich drehte mich noch einmal um. Das Tuch war wieder an seinem Platz, ich konnte die Umrisse gerade erahnen.
Plötzlich musste ich schief grinsen, auch wenn es wohl eher wie eine seltsame Grimasse aussah. „Nein.“
Damit drehte ich mich um und wartete einen Moment auf den Arzt, damit er mich aus diesem Labyrinth wieder zurückführte.
Hölle, mir machte es wirklich nichts aus, dass der alte Mann tot war!
Paul wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er hoch schreckte. Etwas fürchterlich Kaltes hatte ihn berührt, etwas Kaltes und vor allem: Etwas Totes.
Das Geistermädchen stand über ihm, ihr leeres Gesicht dem Nekromanten zugewandt, den linken Arm ausgestreckt. Unkontrolliert zitternd folgte Paul mit den Augen ihrem Arm und erkannte schließlich, WAS ihn da eigentlich aufgeweckt hatte. Ihre Hand war in seiner Schulter versunken. Ihr Ärmel verschwand kurz über dem Stoff seiner Jacke und die Luft flimmerte gespenstisch. Trotzdem spürte der Nekromant ganz deutlich jeden einzelnen Finger, die sich in seine Haut bohrten, durch seine Knochen griffen, sein Blut stauten und seine gesamte Schulter kühlten, als würden Eisstücke auf seinem Fleisch liegen.
Mit einem Schrei zuckte Paul zurück und drängte sich an die Wand hinter seinem Bett. Er hatte erst einmal einen Geist berührt und dass war genug für ihn gewesen. Seitdem hatte er Geister immer von sich fern gehalten. So fühlte sich ein Stück vom Tod an. So kalt.
Nach einigen Momenten hatte sich der Nekromant fast wieder beruhigt. Immer noch schwer atmend rutschte er an dem Mädchen vorbei aus seinem Bett und streckte seine verspannten Muskeln. Jeden Morgen bemerkte er sein fortschreitendes Alter wieder.
Die Kopfschmerzen waren verschwunden, waren von einem schwachen Summen abgelöst worden, das völlig normal war. Paul war daran gewöhnt.
„Du hast ihn nicht nur gesucht.“
Der Nekromant drehte sich mit gerunzelter Stirn zu dem Mädchen um. Sie stand immer noch vor seinem Bett, hatte sich kaum gerührt, nur ihr Arm hing wieder schlaff herunter. Zwischen den Fingern ihrer linken Hand tanzten weiße Nebelfetzen, die sich langsam zu ihren Fingern formten. Diese Nebelfetzen waren vor wenigen Sekunden noch in seinem Körper gewesen.
„Du hast ihn nicht nur gesucht, sondern ihm auch gesagt, wer wir sind. Vielleicht auch, wo wir sind.“
„Wie meinst du das?“ Paul biss die Zähne zusammen und versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie musste nicht die Wahrheit sprechen und wenn sich das Mädchen durch eine Lüge einen Vorteil verschaffen konnte, dann würde sie das sicherlich tun. Er konnte ihr nicht vertrauen.
Ebenso wenig wie irgendeinem anderen Geist.
„Du solltest mit dem Zauber eine Verbindung zwischen mir und ihm herstellen, die allerdings nur in eine Richtung führt. Dann hätte ich gewusst, wo er ist und was er gerade macht. Und was er gerade denkt.“ In der Stimme des Mädchens schwangen keine Emotionen mit, aber als sie sich nun umdrehte, hätte Paul beinahe sämtliche Schutzsprüche gegen böse Geister gesprochen, die ihm einfielen, er konnte sich gerade noch so zurückhalten, die ersten Silben auszuspucken, die nötig waren, um sie zu beschwören.
In der blassrosa, formlosen Fläche, die sich dort befand, wo Menschen ihr Gesicht hatten, leuchteten plötzlich zwei große, funkelnde Augen. Oder so etwas ähnliches, denn die beiden Lichter waren von giftig gelber Farbe, die sich jeden Moment veränderten, zwischen grün und gelb hin und her wechselten.
Das Leuchten wurde noch einen Tick intensiver, als der Geist fortfuhr: „ DU hast dagegen alles falsch gemacht, was du falsch machen konntest! Ich habe mir den Text noch einmal angesehen: Die Verbindung besteht in beide Richtungen, er weiß, was ich denke, was ich mache, wo ich bin. Der Text stimmt nicht mehr, ich habe ihn nicht so geschrieben. Irgendwie hast du alles verändert!“
„Wie schlimm ist es?“ Paul sprach leise und beherrscht, aber in ihm brodelte es. Er hasste es, wenn etwas nicht so war, wie er es haben wollte. Vor allem, weil er vielleicht dadurch den freien Geist noch mächtiger gemacht hatte.
„Ich weiß es nicht. Ich fühle, dass er in der Nähe ist, irgendwo hier, mehr nicht. Ich weiß, dass er besorgt ist, dass er Angst vor mir hat“, an dieser Stelle verfärbten sich die Augen des Mädchens wieder giftig gelb, „aber er hat den Zauber wohl bemerkt. Er schafft es irgendwie, vor mir etwas zu verschweigen. Ich komme nicht durch.“ Ihre Stimme hatte sich gesteigert und die letzten Worte schrie sie hasserfüllt, wütend, dass es etwas gab, das ihr nicht gehorchte. Wie ein kleines, verwöhntes Kind.
„Wie machen wir das wieder rückgängig?“ Das war alles, was zählte. Egal, welche Fehler er gemacht hatte, die meisten konnte man irgendwie wieder beseitigen. Auch wenn es natürlich einfacher war, erst gar nichts falsch zu machen. Paul schob den Gedanken beiseite, wie das überhaupt passieren konnte, auch wenn für ihn klar war, dass es reine Absicht des Mädchens gewesen war, ihm den falschen Spruch zu schreiben und konzentrierte sich auf die Antwort des Geistes.
„Ich bin auch nicht Allwissend! Finde du es doch heraus und lass mich nicht alle Arbeit machen!“, knurrte das Mädchen und marschierte an Paul vorbei aus dem Zimmer. Dabei streifte sie ihn, wie zufällig, noch einmal mit den Fingerspitze am Arm.
Der Nekromant zuckte zusammen und wich einen Schritt zur Seite. Der Geist kicherte kurz hämisch, dann war anscheinend ihre schlechte Laune zurück gekehrt und sie verschwand ohne ein weiteres Wort nach unten.
Paul sah ihr noch einen Moment nach und schüttelte nachdenklich den Kopf. Vielleicht sollte er jetzt schon dafür sorgen, dass sie problemlos verschwinden konnte, sobald er den Freien unter seiner Kontrolle hatte. Er wollte sich nicht länger als nötig den Ärger mit dem Mädchen antun. Wahrscheinlich war es an der Zeit, Nachforschungen anzustellen. Über das Mädchen und über den Zauber, den sie ihm gegeben hatte.
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