Stories
Stories, Gedichte und mehr
Glitter
Teil Zwei - Pock
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Glitter
- Autor: Xenotopia
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Zweiter Teil: P o c k
Donny hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und das noch nicht einmal wegen dieses doch sehr überraschenden Kusses. Er verspürte ein Gefühl, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Es quälte ihn wie Zahnschmerzen, nur mit dem Unterschied, dass ihm nichts weh tat.
Er wälzte sich auf die Seite und blickte zum Fenster hinaus. Der Mond war bereits untergegangen und die Morgendämmerung zeigte sich am Himmel. Der Zirkus erwachte nach und nach zum Leben, doch Donny fühlte sich wie ein Halbtoter: ohne Schlaf, ohne Ruhe, ohne Frieden.
Immer wieder sah er jene Bilder, welche er in jener Nacht gesehen hatte, vor seinem inneren Auge: Und einer der Goblins ist Pock - Er sitzt zusammen mit anderen seiner Artgenossen in der Höhle, umhüllt von den bedrohlichen Schatten der Schattenwanderer, die ihre Waffen auf ihn richten ...
"Was habe ich nur getan?", murmelte der Goblin grummelnd vor sich hin, als er in seiner Kammer auf dem Boden neben seinem Bett lag und die Zimmerdecke anstarrte. "Ich habe einen Pixy geküsst. Ich habe ihn wirklich geküsst. Ich muss den Verstand verloren haben."
Pock war kein Kind mehr. Und noch weniger war er von vorgestern; er wusste genau, warum man jemand anderen küsste, und in der Regel auch, wann dies geschehen sollte. Oder unter welchen Umständen. Aber so ...
Der Goblin weigerte sich in diesem Augenblick strikt, darüber nachzudenken. Er verbot es sich selbst. Es würde zu etwas führen, vor dem er viel zu große Angst hatte. Nicht nur um ihn, sondern auch um ...
"Donny ...", flüsterte Pock, und für eine Sekunde lang verspürte er wieder jenes weiche, sanfte Gefühl in seinem Inneren. Als würde eine besonders zärtliche Hand sein Herz sanft umschließen und festhalten. Dann biss sich der Goblin auf die Lippen, schnaubte und erhob sich.
"Pah", sagte er laut. "Ich liege hier herum, dabei habe ich heute jede Menge Arbeit!"
Er zog sich seine schwarze Tunika und den roten Umhang über und verließ seine Kammer, die sich direkt unter dem Dach der Bibliothek befand, nicht weit entfernt von Camos Kammer. Pock entschied sich für ein üppiges Frühstück in der Stadt, bevor er die neuen Bücher einsortieren und dann die Kundschaft bedienen würde. Gutes Essen und harte Arbeit lenken von allen albernen Gedanken ab, die man nur haben konnte.
Sela war nicht entgangen, wie schlecht es Donny ging. Der kleine Pixy war schon immer gespalten - auf der einen Seite lustig und lebensfroh, auf der anderen Seite aber auch einsam und traurig. An diesem Morgen schien der Gaukler jedoch besonders gespalten zu sein. Sie lächelte freundlich, als er zu ihr ins Zelt kam, wo sie gerade dabei war, einen morgendlichen Eintopf zu kochen.
"Wünsche dir einen guten Morgen und schönen Tag, Sela", sagte Donny tonlos.
Sela schöpfte ihm einen Teller Eintopf und reichte sie ihm. "Den wünsche ich dir auch, Donny."
Sie nickte einem Helfer zu, der ihren Posten übernahm, nahm sich selbst einen Teller Eintopf und setzte sich zu Donny an den Tisch.
"Der Eintopf ist heute etwas dünn", gestand Sela lachend. "Muss daran liegen, dass wir keine Kartoffeln mehr haben. Dann strecke ich immer mit alten Brötchen und Maismehl."
Donny nickte und versuchte, höflich zu bleiben. Sela konnte für seine üble Laune nichts.
Doch die Menschenfrau erkannte sehr wohl, was ihn bedrückte.
"Kennst du das Problem der Igel?", begann die Wahrsagerin urplötzlich, und zwar so überraschend, dass Donny für einen Augenblick aus seinen Gedanken herausgerissen hochblickte und sie mit großen Augen ansah.
"Äh, wie ... was meinst du?"
"Igel. Sie haben ein großes Problem."
"Und welches?"
Sela aß einen Löffel, kaute und nickte. "Ein sehr großes sogar."
"Willst du mich darüber aufklären?!", murmelte Donny missmutig. Die schlaflose Nacht und all die neuen Gedanken und Gefühle ließen ihn nicht gerade sehr geduldig sein.
"Sie haben Angst. Angst vor der Liebe, der Berührung und Nähe", sagte Sela unverblümt.
"Ach?"
"Da sie lange Stacheln haben, dürfen sie sich nie zu nahe kommen, ansonsten würden sie sich gegenseitig verletzen. Doch manchmal können sie dem Drang der Liebe nicht widerstehen, und sie gehen lieber das Risiko ein, sich gegenseitig schwer zu verletzen, als einsam zu sein."
Donny seufzte und schüttelte den Kopf. "Was willst du mir damit sagen?"
Sela lächelte verständnisvoll. "Das weißt du ganz genau. Nicht nur Igel, sondern alle Wesen haben mehr oder weniger einen Schutzpanzer aus Stacheln. Nähe verletzt sie und andere. Deshalb gibt es Wesen - darunter auch Menschen - die lieber die Einsamkeit vorziehen und aus Angst vor Verletzungen, Wunden, Enttäuschungen alle von sich stoßen, die ihnen etwas bedeuten könnten."
Donny schnitt eine Grimasse. "Simly und ich haben uns nie gegenseitig verletzt. Oder enttäuscht."
"Ich spreche von dem Goblin, mein lieber Donny."
"Der durchgeknallte, blauhäutige Bastard, der -"
"Genau den." Sela löffelte ihren Eintopf und blieb dabei so gelassen, als hätte sie Donnys Beinahe-Wutausbruch gar nicht bemerkt. "Ich frage mich nur, wer von euch beiden die längeren Stachel, den dickeren Panzer hat."
Der Pixy machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch er verharrte, denn dem, was Sela sagte, konnte er nichts entgegnen; jedenfalls nichts Sinnvolles.
"Es fehlt etwas Würze, oder nicht?", fragte Sela nach einer Weile. "Ich werde mal etwas Pfeffer holen."
Donny blickte ihr nach, als die Menschenfrau zu der Feuerstelle mit dem Kochtopf ging und in den vielen Gläsern, welche sie daneben zu einem kleinen Turm aufgebaut hatte, nach Pfeffer suchte.
Pock hatte bis zum Mittagessen im Archiv gearbeitet, nun saß er im Empfangsraum und quittierte geliehene Bücher. Immer wenn jemand ein Buch mitnahm, vermerkte er Datum und Name, sowie Buchtitel mit Feder und Tinte in einem schweren Buch. Diese Arbeit machte er - wie Pock es selbst immer nannte - im "Halbschlaf". Er war da und doch nicht da.
Eigentlich kein großer Unterschied zu sonst, nur dass er an diesem Tag anderen Gedanken nachhing als der Frage, wann er als nächstes heimlich im Wald trainieren oder Monster erledigen könnte.
Oder kleine Possenreißer vor Drachen oder Dummköpfen retten!
Pock schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, als würde dies seine Gedanken vertreiben, die er nicht haben wollte, die ihn jedoch trotzdem quälten.
Was hat dieser Possenreißer bloß mit mir gemacht ... Ich hasse dieses Herzklopfen ... Ich benehme mich mehr wie ein Elf als wie ein Goblin.
Ich weiß doch ganz genau, warum dies alles so ist. Warum ich mich so fühle, obwohl ich doch derlei Gefühle gar nicht haben sollte. Weil ich kein Recht darauf habe, glücklich zu sein. Dieser Fluch ...
Der Gedanke an den Fluch ließ seine Hand erneut erzittern und Pock ließ beinahe ein Buch fallen, welches er einem Kunden aushändigen wollte.
Der Fluch ...
Alles begann vor einundzwanzig Sommern ...
Pock war noch ein Kind gewesen, als er mit Grimmol, einem etwas älteren Goblin-Jungen eine absurde Wette eingegangen war. Grimmol hatte behauptet, dass alle Lebewesen etwas hätten, was die alten Goblin-Priester "Shakul" - die "Seele" -nannten.
"Pah, so was gibt es doch gar nicht!", brummte Pock. Beide saßen in einem uralten, eingestürzten Tempel, der einst den Menschen gehört hatte. Warum die Menschen diesen Teil des Landes verlassen hatten, wusste niemand, aber die Ruinen waren ein idealer Spielplatz für junge Goblins, denen der eine oder andere Knochenbruch oder die Hautabschürfung nichts ausmachte.
"Wenn ich`s dir doch sage", sagte Grimmol und hockte sich auf eine alte, mit Unkraut überwucherte Statue eines Mannes, der wie ein nachdenklicher Mensch aussah. Grimmol streckte seine nackten Füße aus und deutete mit seinen Klauen auf seine krummen Zehen. "Warum glaubst du wohl, predigen die Priester, dass wir Goblins niemals Schuhe tragen sollen?"
"Es macht keinen Spaß", meinte Pock und kletterte während er sprach auf eine andere Statue hoch, die direkt Grimmols Sitzplatz gegenüber stand. Die Steinfigur war noch ganz wage als Einhorn zu erkennen. "Außerdem kann man barfuß besser klettern."
Grimmol lachte, was wie das Kratzen von altem, rostigem Metall klang. "Du glaubst, wir Goblins sind ein `Füße-Volk` wie diese Halbling-Weicheier?"
Pock lachte ebenfalls, denn er verstand, was sein Kumpel damit meinte. Dann schüttelte er heftig den Kopf. "Nee, nur Weicheier tragen Schuhe oder Stiefel. Menschen oder Elfen zum Beispiel."
"Oder Pixy-Feen. Hu-hu!" Grimmol machte mit seinen langen, dürren Fingern Bewegungen, die einen Tanz andeuteten und verstellte seine Stimme so, dass sie fast weiblich klang. "Hu-hu! Schau` mich an, ich trage schöne Stiefel, ich bin eine Pixy-Elfen-Schwuchtel!"
Die Goblin-Kumpels lachten mehrere Minuten lang, und als sich beide wieder beruhigt hatten, kam Pock nochmals auf das Thema zurück.
"Du glaubst also, dass Lebewesen eine Shakul, eine Seele, haben?"
Grimmol nickte. "Natürlich. Sie ist Du. Du bist Sie. Ohne sie bist du ein Niemand. Die alten Gelehrten predigen es doch immer wieder: Nackte Füße verbinden deinen Körper mit der Erde. Die Seele will atmen, will mit der Erde immer verbunden sein. Mit Schuhen sperrt man die Shakul ein, es sei denn, man hat noch keine."
Pock legte den Kopf schief und schnitt eine Grimasse. "Hä? Dann wäre ich doch gar nicht hier."
"Sag` das nicht. Es soll Wesen ohne Seele geben. Diese werden nicht als Lebewesen von anderen Wesen erkannt. Sie geistern durch die Welt und bringen nur Unglück. Es sind ... wandelnde Tote."
Pock starrte Grimmol einen Augenblick lang an, dann lachte er schallend auf.
"So ein Blödsinn! Verdammte Drachenkacke, Seelen, Shakul ... Ich krieg` mich nicht mehr ein!"
Grimmol grinste verschlagen. "Wenn das so ist, dann verkaufe mir doch deine Seele."
Pock lachte noch lauter und hielt sich den Bauch. In seinen Augen standen schon Tränen. "Jo, aber klar doch! Ich verkaufe dir meine Shakul."
Der andere Goblin zog etwas aus seiner Hosentasche und hielt es Pock unter die Nase. Es war eine tote Schlange.
"Schlangenfleisch?", rief Pock erstaunt und der Sabber rann ihm bereits an den Mundwinkeln herunter. "Wo hast du das denn her ...?"
"Spielt keine Rolle", sagte Grimmol grinsend.
"Was willst du dafür? Ich kaufe es dir ab!", sagte Pock schnell. Schlangenfleisch aß er für sein Leben gern, und diese Schlangenart, welche Grimmol da in seinen Klauen Pock unter die Nase hielt, war verdammt selten - und umso köstlicher!
"Deine Shakul!"
Pock schnitt eine Grimasse und musterte seinen Kumpel misstrauisch. "Äh, wie?"
"Gib` mir deine Seele dafür." Grimmol zuckte mit den Achseln. "Wenn du nicht an die Shakul glaubst, dann hast du ja nichts zu befürchten, oder?"
Zunächst blickte Pock sein Gegenüber immer noch misstrauisch an, doch dann grinste er breit. "Du machst das schlechteste Geschäft deines Lebens, Eiterbeule! Ich soll dir nichts geben für das Schlangenfleisch?"
Wieder zuckte Grimmol mit den Achseln. "Nur deine Shakul."
Pock lachte schallend. Er griff sich einen Stein von der Größe eines Hühnereis, spuckte darauf und hielt ihn Grimmol hin. Die Spucke glänzte in der Sonne. "Hier, meine Seele! Und jetzt her mit dem Fleischbrocken!"
Grimmol nahm den Stein entgegen und reichte Pock das Schlangenfleisch.
Er schlug die Augen auf und fuhr hoch. Donny griff sich mit einer Hand an die Brust und tastete nach seinem Herzen - es schlug sehr schnell und heftig, als wolle es durch seinen Brustkorp herausspringen. Es war später Nachmittag und der ganze Zirkus bereitete sich auf seine Nachtvorstellung vor. Der Pixy hatte mit den Artisten den halben Tag die neue Nummer geübt und lag nun in seinem Wohnwagen im Bett, um Kraft für den Auftritt in der Nacht zu schöpfen, als er diesen seltsamen Traum hatte: zwei junge Goblins, die in einem verfallenen Tempel über die Shakul - die Seele - sprachen. Der eine Goblin hatte wie Pock ausgesehen, nur war er sehr viel jünger.
Donny stand schnell auf und lief in seinem Wohnwagen auf und ab, wobei er tief durchatmete. Er wollte dieses Herzklopfen wieder unter Kontrolle bekommen, sich beruhigen.
"Es war nur ein dummer Traum, also ganz ruhig bleiben ...", sagte er leise zu sich selbst.
Doch ein Teil von ihm wusste, dass er sich selbst ein wenig anlog, denn dieser Traum war mehr als seltsam gewesen: In diesem Augenblick, als Pock den Stein Grimmol gereicht hatte, verspürte Donny einen kurzen, aber verdammt heftigen Schmerz in seiner Brust; so, als hätte ein Blitz darin eingeschlagen. Für einen Moment sah er das Gesicht des Goblins, wie es vor Schreck und Schmerz sich verzerrte, dann war er aufgewacht.
Langsam kam Donnys Herz wieder zur Ruhe. Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und seufzte leise.
"Dieser Goblin macht mich echt fertig."
Du musst der Sache auf den Grund gehen!, sagte ihm eine innere Stimme. Komisch, warum klangen seine inneren Stimmen immer wie Sela? Erkundige dich, mach` dich schlau. Pock braucht deine Hilfe; er hat dich erwählt, ihm zu helfen ...
"Hä?!", sagte Donny laut in den leeren Raum. "Wie komme ich jetzt darauf? Dieser durchgeknallte Goblin ist mir doch völlig schnurz! Soll Sela doch so viel von Igeln sprechen, wie sie will. Ich ..."
Sein Blick fiel auf die Kristall-Rose, welche Simly ihm einst bei seinem Abschied geschenkt hatte, und er verharrte.
"Ich führe Selbstgespräche", murmelte der Pixy und seufzte wieder. "Und an all dem ist dieser blauhäutige Bastard schuld!"
Donny wusste, er hatte nicht viel Zeit, denn in dieser Nacht sollte sein Auftritt im Zirkus sein. Deshalb hatte er sich nicht mehr als seine Hose und ein Hemd übergestreift und rannte nur in Sandalen in die Stadt. Keuchend und mit einem Brennen in den Lungen kam er vor der Bibliothek zum Stehen und verschnaufte erst mal. Vor dem Gebäude auf der Straße herrschte wie immer reges Treiben, doch das beachtete der Pixy gar nicht. Er wollte zu Pock. Er würde ihn ganz einfach direkt zur Rede stellen. Er würde ihm ins Gesicht sagen, dass er ihn endlich in Ruhe lassen sollte.
"Ich werde ihm raten, eine Therapie bei einem Geist-Heiler zu machen", sagte Donny und setzte das grimmigste Gesicht auf, das er hatte. Nun, wenn Pixies versuchten, wütend oder grimmig zu blicken, sahen sie für andere Zeitgenossen noch niedlicher aus, denn diese Koboldwesen waren nicht dazu geschaffen, böse zu sein. Er ballte seine Fäuste und stampfte durch den Eingang in die Halle der Bibliothek.
"Bevor er mich noch mit seiner Geisteskrankheit ansteckt", murmelte Donny vor sich hin. "Drachen zu schlachten und mich zu küssen. Hat der sie noch alle? Kerle küssen doch keine Kerle. Na ja, es sei denn, sie sind verliebt. Aber dieser Holzkopf weiß doch noch nicht mal, wie man Liebe schreibt."
"L-i-e-b-e"
Donny zuckte vor Schreck zusammen, als er diese alte, raue Stimme das Wort "Liebe" buchstabieren hörte. Es war der Gremlin, Meister Camo.
"Und ich nehme an, du suchst Pock", sagte Camo, der hinter dem Tisch über dem selben Buch gebeugt saß, in das Pock an diesem Tag schon dutzende verliehene Buchtitel eingetragen hatte.
"Wie kommt Ihr darauf?", fragte Donny unsicher und mit zittriger Stimme. Plötzlich war seine Wut und sein Selbstbewusstsein wieder verraucht.
"Nun, nur Pock kann ein so zartes Kerlchen wie dich so in Wut versetzen. Es sei denn ..." Der Gremlin grinste, "du willst dir ein Buch ausleihen."
Donny seufzte. "Sagt mir einfach nur, wo er ist."
Der Gremlin stützte seinen Kopf auf eine seiner Klauen und blickte Donny verträumt an - jedenfalls sah das faltige, grüne Gesicht des Gremlins so aus, als blicke es verträumt. Oder wie jemand, der den Pixy nicht ernst nahm.
"Ach, wie schön muss es doch sein, wenn man verliebt ist", sagte Camo, mehr zu sich selbst.
"Hallo, Meister!", rief Donny entnervt. "Pock. Wo ist er?"
Camo blinzelte. "Nicht hier", sagte er und atmete wie jemand auf, der gerade aus einem Tagtraum geweckt worden war. "Und wenn du kein Buch ausleihen willst, dann verschwinde am besten wieder. Ich habe zu tun."
Donny machte den Mund auf, um etwas zu erwidern - dass er Camos Verhalten für unverschämt und respektlos hielt - als ihm wieder dieser seltsame Traum (Vision) einfiel; über die beiden jungen Goblins, und das, worüber sie sich unterhalten hatten.
"Seele", sagte Donny nachdenklich. "Über die Seele."
"Bitte?"
Er sah Meister Camo an und sagte dann entschlossen: "Ich suche ein Buch über die Shakul. Die Seele."
Camo hob eine Augenbraue. "So nennen Goblins ihre Seele: Shakul. Es gibt nicht mehr viele Bücher über das Goblin-Volk, seit dieser schreckliche Krieg zu Ende ist." Er machte eine Bewegung mit seinem Zeigefinger und bedeutete Donny, ihm zu folgen. "Aber", fuhr der Gremlin fort, "ich glaube, ich habe da etwas über die Shakul."
Donny folgte Camo einen engen Gang, der mit Bücherregalen gesäumt war. Am Ende der Regalreihe tippte Camo mit seiner Hand auf eine kleine Reihe Bücherrücken. Das Regal stand etwas abseits und war mit großen, schwarz lackierten Fledermäusen verziert. "Hier findest du vielleicht, was du suchst."
Der Pixy nickte dankend und wurde von Camo wieder alleine gelassen. Dann machte er sich auf die Suche - nach was oder wen auch immer - und zog das erste Buch heraus und blätterte es durch.
Pock wusste nichts über die Fähigkeiten, die ein Pixy besaß, trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Die Erinnerung an damals, als er noch ein Kind war und sich mit Grimmol über die Shakul unterhalten hatte, war so deutlich vor seinen inneren Augen abgelaufen wie ein Theaterstück. Wie ein sehr intensiver Traum einer Erinnerung. Nur mit dem Unterschied, dass er dabei nicht alleine gewesen war. Da war noch jemand, der ihn dabei beobachtete; jemand, der nun über jene Szene aus seinem Leben Bescheid wusste. Und das Gefühl, dass es dieser nervige Possenreißer war, ließ ihn einfach nicht los.
Dieses Wesen ist so voller Liebe, so voller Wärme und Sanftheit. Ich kann seine Anwesenheit nicht ertragen! Er ist wie ein Gebäck, das so süß ist, dass man alleine schon vom Geruch Zahnschmerzen bekommt. Sein Blick sticht aus zwei Augen hervor, die tief in mein Herz, meine ... (Seele ...) zu blicken scheinen. Diese Blicke, die er mir schenkt, sind anders als alles, was ich bisher erlebt habe.
Noch nie hatte er erleben dürfen, was Liebe ist. Noch nie hatte er erleben dürfen, was Freundschaft ist. Und jetzt ...
... ist da jemand, der tief in meiner Erinnerung herumwühlt und alte Wunden aufreißt. Ich hasse nicht ihn, aber ich hasse das, was er mit mir macht. Ich bin ein Krieger, und kein verweichlichter Elf oder Halbling, der heulend sein Herz ausschüttet. Außerdem ... der Pixy ist ein Kerl. Kein richtiger Kerl, wie man ihn sich vorzustellen hat, aber er ist verdammt noch mal ein Kerl!
Würde er sich dabei besser fühlen, wenn der Pixy ein Mädchen wäre?
Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal, ich will niemanden haben, der in meiner Erinnerung herumwühlt, mir weismacht, dass ich Gefühle hätte, und mich total verwirrt. Ich will niemanden, ich brauche niemanden!
Außerdem ... wie soll eine Seele berührt werden, wenn da keine ist? Pock hatte doch keine mehr ...
Er dachte diesen Gedanken nicht zu Ende, denn alles, was damit zusammenhing, alle Erinnerungen daran, schmerzten zu sehr. Sein Blick fiel auf das Dach der Waldkathedrale, in der er sich befand. Die Bäume waren über Jahrhunderte so gewachsen, dass ihre Stämme und Äste ein gewaltiges Dach erschufen, durch das die Sonne in dutzenden von schmalen Strahlen hindurchschien. Der Boden der Kathedrale war mit weichem Gras bedeckt. Die Waldkathedrale war sein Zufluchtsort. Es war ein für Goblins sehr heiliger Ort (obwohl er nicht unter der Erde lag, wie die meisten Heiligtümer der Goblins). Hier würde er wieder zu sich selbst finden. Zu seiner alten Einstellung, dass ein Leben ohne Gefühlsduselei das Beste für ihn war.
"Wer keine Seele hat, hat auch kein Recht auf Liebe", sagte er laut und ließ sich mit dem Rücken in das weiche Gras fallen und schloss die Augen.
In dem Buch stand sehr viel, aber Donny verstand nicht mal die Hälfte von den Überschriften, die er da so las: "Das innere Ich erkennen", "Wie man seine Seele findet" oder auch "Was ist das Ich und was ist das Du?" All das klang in seinen Ohren wie esoterischer Blödsinn, den sich Menschen gegenseitig erzählten, die im Wald die Bäume umarmten oder Pixies und Elfen immer noch für tanzende Geistwesen hielten. Nun ja, auf manche traf es vielleicht zu, aber nicht für alle.
Trotzdem ... dieses Buch war von einem Elfenzauberer verfasst worden: Venderval Flüsterwind. Ein typischer Elfenname. Also konnte das, was in dem Buch stand, nicht ausschließlich die Spinnerei sein, die sich oft verwirrte Menschen bedienten, die zu viel Traumwurzeln geraucht haben.
Donny wollte das Buch schon entnervt zuschlagen, als seine Augen den Begriff "Shakul" entdeckten. Er stand in einem kleinen Text unter der Überschrift "Das Geheimnis der Seelenspaltung".
Der Text war recht kurz und in kursiven, schwungvollen Buchstaben geschrieben:
SHAKUL ist der Begriff für "Seele" bei dem Volk der Goblins. Goblins glauben, dass die Seele mit ihrem Körper fest verbunden ist und er mit dem Tod getrennt wird. Deshalb herrscht bei den Goblins auch der Glaube, dass man seine Seele verkaufen oder verschenken könne, ohne dabei den Körper zu zerstören.
Tatsächlich existiert ein Zauber, der es erlaubt, einen Teil der Shakul vom Körper abzutrennen und auf einen anderen Gegenstand oder Lebewesen zu übertragen. Laut einer Legende sollen dies dunkle Zauberer und Hexen bereits versucht haben, um sich damit Ewiges Leben zu schenken, indem sie ihre Seele beispielsweise in einen unzerstörbaren Gegenstand wie einen Diamanten einschlossen. Doch dieser Zauber erfordert sehr viel Macht und zudem kann es unter Umständen das Leben anderer Wesen kosten, sodass diese Technik hier nicht näher erläutert werden soll. Sie gehört zu den Verbotenen Zauberkünsten.
Goblins glauben jedoch, dass die Shakul - die Seele - selbst untrennbar als solche ist.
Donny sah von dem Buch auf und blinzelte.
"Er glaubt, dass er seine Seele verkauft hat", sagte er laut und plötzlich fiel ihm alles wie Schuppen von den Augen; alles ergab einen Sinn.
"Pock glaubt, dass er keine Seele mehr hat. Vielleicht glaubt er sogar, kein Recht auf Leben zu haben. Er hat sich selbst aufgegeben ..."
Dem Pixy stockte der Atem. Er schoss von seinem Stuhl hoch und stürmte mit klopfendem Herzen aus der Bibliothek.
"Er weiß etwas", murmelte Pock und starrte durch das Blätterdach der Waldkathedrale in den Himmel. "Er weiß etwas, und das will ich nicht. Ich will niemanden in meinem Leben haben, der mich kennt. Niemand soll jemals erfahren, was ich getan habe. Wofür ich verantwortlich bin ..."
Pock sah sich wieder in dieser Höhle, umgeben von dutzenden anderer Goblins. Es herrschte Krieg und sein Volk war dem Untergang verdammt. Necros wollte alle Goblins von der Erde tilgen, da sie sich seinem Zauber nicht unterwerfen ließen. Sie waren immun gegen seinen Einfluss.
Ein besessener Ork stand vor dem einzigen Ausgang der Höhle und richtete sein gezacktes Schwert auf die Goblins. Es waren Frauen, Kinder und einige Jünglinge. Einer von ihnen war Pock ...
"Zeit, zu sterben, Ungeziefer ..."
Der Goblin schlug die Augen auf und atmete tief durch. Immer, wenn er diese Bilder vor seinem inneren Auge sah, setzte seine Atmung aus; sein Herz schien nicht mehr zu schlagen. So, als würde jedes Mal sein Körper ein kleines Stück absterben. Wie sollte er auch wirklich weiterleben ... ohne Shakul? Was hatte er alles angerichtet? An wie vielen Gräueltaten war nur er schuld? Nur, weil er so dumm gewesen war ...
"POCK! TU ES NICHT!"
Er setzte sich auf und seufzte. Warum überraschte es ihn nicht, den Pixy ausgerechnet jetzt schreien zu hören? Diese helle Glockenstimme. Dieses Stimmchen, das versuchte, ihn zu warnen oder zu retten.
Ohne hinzusehen wusste Pock, dass Donny sich gleich hinpacken würde. Und als er das erschrockene Stimmchen des Possenreißers hörte, gefolgt von einem "Autsch!" und dem Geräusch eines hinfallenden Kobolds mit dünnen, zarten Gliedern und großen Füßen, musste er tatsächlich lachen.
"Die Waldkathedrale ist für uns Goblins etwas Heiliges", sagte er ruhig, ohne sich nach dem Pixy umzudrehen, der auf dem Bauch lag und dessen Spitzhut in sein Gesicht gerutscht war. "Also sei ein bisschen vorsichtig, dass du beim Stolpern nicht die Wurzeln kaputt machst."
Donny rappelte sich leise und wütend vor sich hinmurmelnd wieder auf, rückte seinen Hut zurecht und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Ich dachte, ich wollte ...", stammelte er und verstummte, als er Pocks wegwerfende Handbewegung sah.
"Was? Mich vor einem Selbstmord bewahren oder was?"
Der Goblin stand auf, drehte sich um und sah Donny finster an.
Donny rieb sich verlegen den Oberarm und nickte unsicher. "Na ja, ich dachte, du ..."
"Du hast das Buch gelesen", sagte Pock nüchtern. "Du hast das Geschwätz von diesem Sitzpinkler Flüsterwald entdeckt, oder? Von der Untrennbarkeit der Shakul?"
"Eben nicht!", sagte Donny beherrscht, denn er bebte innerlich vor Wut, weil der Goblin so schrecklich unsensibel war. "Seine Seele zu spalten ist nur mächtigen Zauberern vorbehalten, und selbst die scheitern. Außerdem erfordert dieser Vorgang das Leben anderer Wesen, die ..."
"Vielleicht das Leben seiner Eltern? Seiner besten Freunde oder gar seinem eigenen Volk?", zischte Pock.
"Was -"
"All das habe ich nämlich verloren", flüsterte der Goblin und wandte sich von Donny ab. "Du hast ja gar keine Ahnung."
Donny näherte sich ihm, streckte die Hand aus und verharrte dann in der Bewegung. Er wusste nicht, ob es so eine gute Idee war, Pock eine tröstende Hand auf die Schulter zu legen.
"Aber ich wüsste es gerne", sagte Donny leise und vorsichtig.
Pock schüttelte den Kopf und lachte humorlos. "Wozu willst du das wissen? Was hast du überhaupt in meinem Leben zu suchen? Wie kommst du darauf, dass ich das dir oder sonst wem erzählen möchte?"
"Vielleicht deshalb", begann Donny langsam, "weil du mich urplötzlich geküsst hast?"
Der Goblin senkte den Kopf, schloss die Augen und schwieg.
"Was jetzt?", rief Donny, ging um Pock herum, sodass er direkt vor ihm stand. "Dazu hast du nichts zu sagen?"
Pock drehte seinen Kopf zur Seite wie ein trotziges Kind, das den Blicken seiner schimpfenden Eltern ausweichen wollte.
"Oder küsst ihr Goblins euch, um damit 'Hau ab!' zu sagen?"
Der Goblin schnaubte.
"Warum hast du mir diese Erinnerung gegeben?"
"Erinnerung ...?" Pock klang so, als wüsste er wirklich nicht, wovon Donny sprach.
"Die Erinnerung an deine Kindheit. Wie du für ein Stück Schlangenfleisch deine Seele hergegeben hast!"
Pock schnaubt wieder. "Bestimmt nicht mit Absicht. Du hast mich irgendwie ... verhext!"
Donny schüttelte heftig den Kopf. "Nee, bestimmt nicht. Meine Vorfahren waren Feen. Und Feen besitzen die Fähigkeit, Wünsche und Träume anderer Wesen zu spüren." Er machte eine kurze Pause, berührte Pock am Kinn und drehte seinen Kopf so, dass er ihm in die Augen blicken konnte. "Und manchmal können wir diese Wünsche auch erfüllen."
"Wieso?" Pocks Stimme klang unsicher und zittrig.
"Weil du ein verdammt schöner Goblin bist." Donny flüsterte diese Worte beinahe.
"Niemand mag Goblins", hauchte Pock. "Alle hassen sie uns."
Donny schüttelte den Kopf. "Necros' Macht ist längst erloschen. Es gibt keinen Goblin-Hass mehr. Und eines solltest du auch wissen: Auch wenn die ganze Welt euch hasst, ich ... ich ..." Der Pixy seufzte und schloss die Augen. "Ich liebe Goblins."
Pock neigte den Kopf zur Seite und blickte den Pixy misstrauisch an. "Eh, wie?"
Donny wandte sich von ihm ab und hielt sich die Hände vor das Gesicht. "Irgendwie ist mir das peinlich."
Plötzlich war die Luft von Pocks schallendem Gelächter erfüllt.
Donny wirbelte erschrocken herum und starrte den lachenden Goblin überrascht an.
"Das glaube ich jetzt nicht!", prustete Pock. "Ein Possenreißer und Pixy-Schwuchtel, die auf garstige Rübel-Goblins steht. Oh heiliges Drachenauge, das ist der Witz des Jahres!"
Der Pixy stürmte nach vorne und versetzte Pock eine schallende Ohrfeige - so schnell und heftig, dass Pock nichts anderes übrig blieb, als nur fassungslos und irgendwie blöde Donny anzuglotzen.
"Du ... du hast mich ... geschlagen ...", keuchte Pock. "Das ... das ... Wie kommst du ..."
"Das war für deine Undankbarkeit", sagte Donny leise aber bestimmt.
"Wie kommst du dazu, mich ..." Pock hielt inne. Er machte einen Schritt auf Donny zu und kam seinem Gesicht so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. "WOFÜR sollte ich mich bei DIR bedanken?"
"Dafür", sagte Donny leise, "dass ich der einzige war, der dir wieder einen Lebenssinn geben wollte. Aber jetzt wirst du weiterhin ganz alleine sein."
Er wandte sich ab und entfernte sich.
"Jaaaa, geh' doch!", brüllte Pock dem Pixy hinterher. "Wer braucht schon Gesellschaft? Mehr Platz für mich, wenn ich alleine im Bett bin. Habe sowas sowieso noch nie gehabt. Nie gebraucht!"
"Dann ist es ja gut."
"Außerdem ist es krank und unnormal!", brüllte Pock noch lauter, als Donny gerade noch in Sichtweite war. "Zwei Kerle, die sich paaren wollen. Wo gibt`s denn so was? Widerlich!"
Pock keuchte, so laut hatte er die letzten Worte gebrüllt. "Widerlich ...", sagte er nochmals leise zu sich selbst. "Wo gibt`s denn so was schon ..."
Die Kristallrose glitzerte im matten Mondlicht, welches durch das Fenster in seinen Wohnwagen fiel. Es war die einzige Lichtquelle; Donny saß im Zwielicht und starrte die Rose an, die Simly geschenkt hatte. Und er hörte die Worte, die sein Geliebter ihm damals gesagt hatte, noch immer in seiner Erinnerung:
Meine Liebe zu dir soll erst vergehen, wenn diese Kristallrose verblüht ...
Donny seufzte, denn die Erinnerung an diese Worte war wie Stiche in sein Herz. Die Kristallrose war natürlich nicht verblüht oder welk; lag es daran, weil sie kein magischer Gegenstand war oder dass Simly etwa noch lebte? Donny fühlte sich mies, sehr mies, denn er musste sich eingestehen, dass ihn Pock mehr als nur faszinierte. War er in den Goblin verliebt? Donny wusste es nicht. Oder wusste er es, und wollte es nicht wahrhaben? Weil sich für ihn dies wie ein Betrug anfühlte? Als würde er Simly betrügen?
Die Tür seines Wohnwagens öffnete sich und Norin rief: "Dein Auftritt is' gleich. Bist du bereit?"
"Ja."
Natürlich war Donny bereit. Wie immer.
Er stand auf, setzte seine Narrenkappe auf und spielte ein weiteres Mal den lustigen Possenreißer.
Tage vergingen, ohne dass sie sich begegneten. Pock wusste genau, dass Meister Camo von ihm wissen wollte, was nun mit dem Pixy war. Warum mischte sich der kleine Kobold in sein Leben ein? Wieso war er in der Bibliothek aufgekreuzt und wollte ein Buch über die Shakul? Und vor allem: Wieso war er jetzt wie vom Erdboden verschwunden?
Pock spürte die fragenden Blicke in seinem Nacken, die der Gremlin ihm zuwarf. Er hörte die Fragen in der Stimme des Alten Bibliothekars, wenn dieser ihn wegen belangloser Dinge ansprach. Der Gremlin wartete, wagte es jedoch nicht, Pock direkt auf Donny anzusprechen.
Eines Tages, Pock hatte Donny seit über einer Woche nicht mehr gesehen, sprach der Goblin seinen Meister selbst an:
"Meister Camo, was ist Liebe?"
Der Gremlin, der gerade das Unterste aus einem riesigen Stapel Bücher herauszog, um es mit einer Bestellung zu vergleichen, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, warf Pock einen gelangweilten Blick zu - obwohl er innerlich zutiefst erregt war. Und überrascht. Pock wollte über Liebe sprechen? Das war etwa so, als verlange ein Orkkrieger urplötzlich warme Milch mit Honig. Doch Camo reagierte gelassen.
"Willst du was Bestimmtes wissen?" Camo grinste schief.
Pock schnaubte. "Ach, lasst es gut sein. Ich war dumm, so was Euch zu fragen ..."
"Jetzt lauf' doch nicht gleich weg." Er folgte Pock, der sich umgedreht hatte und den von Bücherregalen gesäumten Korridor entlangstiefelte wie ein Soldat, der in den Krieg ziehen wollte.
Der Goblin blieb abrupt stehen.
"Du wirst verstehen", begann Camo vorsichtig, "dass es mir etwas fremdartig vorkommt, dass ausgerecht du mir solch eine Frage stellst."
Pock atmete tief durch und drehte sich zu Camo um. "Es ist nur so", begann der Golbin zögernd, "dass ich gerne wissen würde, ab wann man es weiß."
Der Gremlin hob eine Braue. "Dass man verliebt ist?"
Pock nickte knapp und presste seine Lippen zusammen. Wäre er ein Mensch gewesen, wäre er jetzt knallrot im Gesicht geworden.
Camo lächelte freundlich, berührte Pock am Arm und bedeutete ihn, ihm zu einer kleinen Sitzgruppe zu folgen. "Mein trotziger Goblin wird erwachsen. Recht so."
Sie setzten sich. Camo faltete die Hände, blickte Pock eine Weile an. Schließlich räusperte er sich und sagte: "Jeder versteht unter Liebe etwas anderes. Es gibt die Liebe, die Eltern für ihren Nachwuchs hegen. Andere lieben ihr Gold oder die Natur."
"Ich glaube, Ihr wisst genau, welche Art von Liebe ICH meine", sagte Pock kühl.
"Du musst mich ausreden lassen", sagte Camo gelassen. "Und es gibt jene Liebe, die man für eine Person empfindet, die man ohne es sich selbst erklären zu können, unglaublich gern hat."
"Aber ..." Pock schien mit seinen Worten zu kämpfen. "Aber ... ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Jemanden ... gern zu haben."
"Pock, niemand muss dir erklären, wie sich das anfühlt. Das weißt nur du selbst, wie sich das anfühlt." Camo lächelte. "Ich zum Beispiel empfinde das Verliebtsein wie die Freude über ein schönes Essen, den Fund eines unglaublich seltenen Buches oder die schlichte Schönheit eines Sonnenuntergangs." Er seufzte. "Doch was die meisten Wesen bei Liebe empfinden, ist das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, mit dem man sich nicht einsam fühlt."
Sie schwiegen eine ganze Weile und Pock nickte langsam. "Und habe ich überhaupt das Recht dazu, nicht einsam zu sein?"
Der Gremlin schnitt eine Grimasse. "Pock, du hast deine Shakul nicht verkauft. Vergiss' diesen Blödsinn."
"Aber …" Pock war plötzlich ganz aufgebracht. Es kam nicht sehr oft vor, dass er seinem alten Meister gegenüber ausfällig wurde, aber wenn dieser die Shakul ansprach, traf er einen besonders wunden Punkt bei ihm.
"Alle, die mir etwas bedeutet haben, sind tot", flüsterte Pock. Es war nicht so, dass Camo dies nicht wusste, aber der Goblin hatte das Gefühl, er müsse diesen Umstand nochmals betonen. "Und zwar seit jenem Zeitpunkt, als ich ..." Er verharrte und schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er mit gepresster Stimme fort: "Als ich meine Seele verkauft habe."
"Wie kommst du darauf, dass du deine Seele verkauft hast?"
"Seit jenem Zeitpunkt war ich bei den anderen Goblins nicht mehr willkommen. Meine Eltern starben, als unsere Höhle einstürzte, und schließlich brach der Krieg über unser Land herein. Necros wollte mein Volk ausrotten."
"Und warum willst ausgerechnet du daran schuld sein?"
"Ich ziehe das Unglück an", sagte Pock und ballte seine Klauen zu Fäusten. "Ich ... ich bin ein Niemand, Seelenloser, der ... der das Böse und das Unglück anzieht."
"Die Bibliothek steht noch. Und ich bin auch bei bester Gesundheit."
Pock starrte Camo ratlos an. "Nein, das ist was anderes."
"Bedeute ich dir etwa nichts?"
"Ihr wisst genau, dass diese Frage dumm ist. Ihr seid mir sogar sehr wichtig, Meister", sagte Pock mit ernster Stimme.
"Wenn ein Fluch auf dir liegt, warum trifft es dann mich nicht?"
Darauf wusste Pock keine Antwort. Er schwieg, doch Camo fuhr unbarmherzig fort:
"Ich glaube viel eher, dass du Angst hast. Angst davor, dir bei einer Umarmung den Stich eines Stachels einzufangen."
"Hä?!"
"Das Problem der Igel", sagte Camo gelassen. "Sie haben Angst, einander näher zu kommen, weil jede Nähe, jede Berührung Schmerzen bedeutet. Jeder von uns hat solche Stachel - mehr oder weniger. Aber wir können nicht ohne Nähe, Berührung und Liebe sein. Deshalb müssen wir das Risiko eingehen, außer Liebe auch Schmerz zu erfahren."
Er beugte sich zu Pock vor, legte seine Hand auf seine Schulter und sagte: "Lass' es zu, Pock. Lass' diesen Pixy dir deine Seele zurückgeben, bevor du sie völlig verlierst. Bevor du wirklich nicht mehr zur Liebe fähig bist."
Der Goblin biss sich auf die Oberlippe und schloss die Augen.
Der Pixy ... jede seiner Berührungen fühlen sich wie tiefe Schnitte in mein Fleisch an. Jeder seiner Blicke wie ein Glühen, welches Feuer in meinem Inneren zu entfachen droht. Er ist ... er ist ...
Pock schluckte.
"Habe keine Angst vor den Schmerzen, die du vielleicht haben wirst", sagte Camo. "Habe Angst vor der Einsamkeit."
"Ich habe vor nichts Angst." Pock ballte seine Klauen zu Fäusten und hob seinen Kopf. "Ich bin ein Krieger."
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.