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Walhalla

Teil 4 - Auftrag in Elbhorn

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Informationen

KAPITEL SECHS - Auftrag in Elbhorn

1

Er schloss die Klammer seines Umhangs, welche das Abzeichen der Drachenflotte trug und begab sich ins Freie. Der Tag war mild und windig, so, wie es meistens in der Küstenstadt Elbhorn war. Toram wanderte durch die Gasse auf den Marktplatz zu, der das Zentrum der Stadt ausmachte. Es herrschte geschäftiges Treiben. Überall waren Händler zu sehen, die ihre Waren feil boten: Vor allem Kartoffeln, Fleisch, Fisch und Gewürze. Ungewöhnlicher war der Anblick von Buchhändlern und Kaufleuten, welche mit Amuletten und Kristallen handelten. Nun, es war ungewöhnlich für Menschen, nicht jedoch für Elfen.

Toram war jedoch weder am schönen Wetter, noch an Waren interessiert. Vor etwa einer Stunde hatte man ihm eine Nachricht zukommen lassen, er solle sich zum Hafenbüro von Elbstadt begeben. Mit klopfendem Herzen war er nun dorthin unterwegs; zum einen, weil er nicht genau wusste, was ihn wohl erwarten möge, zum anderen auch, weil die Nachricht das Siegel der Drachenflotte trug. Die Signatur-Unterschrift war jedoch unleserlich, sodass er nicht einordnen konnte, ob die Botschaft von jemandem kam, den er aus seiner Dienstzeit für Asgard kannte.

Im Hafen lagen mächtige Schiffe aus der halben Welt vor Anker: Große, hohe Schiffe mit goldenen Ornamenten und Verzierungen, welche bei Elfenschiffen üblich waren. Sie schwammen wie gewöhnliche Schiffe im Wasser, die Segel waren eingezogen. Toram wusste jedoch genau, dass dies Drachenschiffe waren: Sie konnten wie gewöhnliche Schiffe auf dem Wasser gefahren werden, aber auch von Drachen in die Luft gehoben und gezogen werden. Er sah neben den mächtigen Drachenschiffen - es waren vier an der Zahl - auch noch kleinere Schiffe und Boote. Hauptsächlich Handelsschiffe der Menschen, Kobolde und Zwerge. Diese Völker arbeiteten meistens zusammen - nicht ganz uneigennützig, denn die Kobolde wussten besser als alle anderen, wie man Waren zu möglichst niedrigen Preisen erwarb, während die Zwerge als sehr arbeitsam und fleißig galten. Die Menschen wiederum waren in Wissen und im Umgang mit Waffen den beiden anderen Völkern überlegen und boten Schutz gegen Handelsabkommen an. So halfen sich diese Völker gegenseitig.

Das Hafenbüro war eines von vielen anderen Gebäuden aus weißem Stein erbaut und stand zwischen zwei kleinen Anlegestellen, wo kleine Ruderboote und auch Drachenboote vor Anker lagen. Als Toram es betrat, wurde er von lauten, wild durcheinander sprechenden Stimmen und stickiger Luft überrascht. Wo auf dem Hafengelände draußen alles recht ruhig war, herrschte im Hafenbüro ein regelrechtes Chaos aus Geschnatter, Rufen und Plappern.

Überall sah Toram Männer und Frauen in Seemannskleidern, Uniformen der Drachenflotte und hier und da auch Tiere. Es herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Basar im Südland.

Er kämpfte sich drängelnd durch die Menge auf einen der Schalter zu, wo Elfen und Menschen in schlichten, hellgrauen Uniformanzügen saßen und Papierkram entgegennahmen: Die meisten Besucher in diesem hilflos überfüllten Raum waren scheinbar an Arbeit interessiert und hofften, auf einem der Schiffe angeheuert zu werden. Andere mussten nachträglich Handelsgenehmigungen einholen oder Mahnung begleichen.

"Was ist euer Anliegen?", fragte der Schalterbeamte gereizt.

Toram hielt sich nicht mit langen Worten auf und schob dem Beamten das Schriftstück mit der Nachricht zu.

"Ich soll mich hier melden."

Der Beamte, ein älterer Elf mit grauen, kurzen Haaren und Brille, betrachtete das Siegel, dann nickte er Toram zu.

"Folgt mir bitte."

Toram folgte dem Beamten hinter den Schalter durch einen halbrunden Korridor in einen recht kleinen, aber sehr ruhigen und sauberen Raum.

"Kapitän, er ist hier", sagte der Beamte einer Person, die ihnen den Rücken zugewandt vor einem Fenster stand.

"Danke, ihr könnte gehen, Zarus", sagte eine weibliche Stimme.

Zarus verneigte sich knapp und verließ den Raum wieder.

Toram seufzte und verschränkte die Arme. "Kapitän?"

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn ernst an. "Habt ihr ein Problem damit, Kommandant Toram?"

Er schnitt eine Grimasse. "Ich hätte es nur nicht so schnell erwartet. Habt ihr mich zu euch geholt, um mir von eurer Beförderung zu erzählen?"

Die Elfe in der roten Uniform hatte schulterlanges, tiefschwarzes Haar, große, mandelförmige Augen und für eine Elfe breite, sinnliche Lippen. Sie kräuselte sie zu einem Grinsen.

"Was meint ihr denn?"

Jetzt konnte sich Toram ebenfalls das Grinsen nicht mehr verkneifen. Er schüttelte den Kopf und lachte leise. Dann schritten sie aufeinander zu und umarmten sich.

"Ich gratuliere zu deiner Beförderung, Nefentry!"

"Schön dich wieder zu sehen, Toram", sagte sie und musterte ihn. "Auch wenn mir unser Wiedersehen unter anderen Umständen lieber wäre."

Er runzelte die Stirn. "Wie meinst du das?"

Nefentry seufzte leise und lächelte freundlich. Sie bedeutete ihm, mit ihr auf einer Sitzgruppe aus roten Kissen in der Ecke ihres Büros Platz zu nehmen.

"Du bist eine ganze Weile nicht mehr in der Drachenflotte", sagte Nefentry. Es war keine Frage, es war eine Tatsache.

Toram nickte. "Ich habe angeblich gegen wichtige Gesetze verstoßen."

"Verschwiegenheit", sagte sie knapp.

"Es ist ein dummes Gesetz, aber ich habe mich immer daran gehalten", sagte er ein wenig aufgebracht. "Irgendjemand von ganz oben wollte mich aus dem Weg haben."

Nefentry ging zu einer großen Glasvitrine und holte ein Tablett mit zwei Gläsern und einem Krug aus blauem Kristall. Während sie sich selbst und ihrem Gast ein Getränk, das in der Elfenwelt als "Schimmerwasser" bekannt war, eingoss, sprach sie im beiläufigen Ton:

"Was auch immer gewesen war, man will dich wieder haben."

Sie reichte Toram sein Trinkglas. Er konnte sie nur anstarren.

"Wieso?"

Nefentry schnaubte und drückte Toram das Glas regelrecht in die Hand.

"Wieso? Muss es einen Grund geben?", fragte sie aufgebracht.

"Finde ich schon", meinte Toram. "Vor allem deshalb, weil der Grund für meinen Rauswurf damals auch mehr als zwielichtig gewesen war."

"Wie auch immer", Nefentry erhob ihr Glas. "Du bist wieder dabei. Und darauf sollten wir trinken!"

Sie stießen an und tranken einen Schluck. Dann musterten sie sich eine Weile schweigend.

"Du sagtest, du hättest unser Wiedersehen unter anderen Umständen lieber gehabt", sagte Toram schließlich, denn er hatte das Gefühl, dass sich seine Gastgeberin um eine Erklärung drückte.

Nefentry seufzte wieder und nickte. "Es hat teilweise damit zu tun, warum du damals aus dem Dienst entlassen wurdest. Du hast Recht: Jemand wollte dich loshaben, aber nicht nur dich." Sie sah ihn ernst an. "Du darfst nicht glauben, dass die Regierung korrupt oder die Kaiserin gar den Verstand verloren hat. Das ist es nicht."

Toram nahm noch einen Schluck und nickte langsam. "Wenn es das nicht ist, dann frage ich mich, was los ist."

"Was weißt du über das Schwarze Schiff?", fragte sie wie aus heiterem Himmel. Es klang so beiläufig und belanglos, als hätte sie nach dem Wetter gefragt, doch Toram bemerkte sofort, dass es nur darum ging. Nur darum und dass diese Frage Nefentry große Angst bereitet hatte. Sie hatte sichtlich damit gerungen, ihn danach zu fragen.

"Was ich in den offiziellen Berichten gelesen habe", sagte er tonlos. "Wieso fragst du mich das?"

"Aber", begann sie langsam. "du warst doch damals dabei. Du hast es doch selbst gesehen und ..."

Toram stellte sein Glas auf den Tisch, stand abrupt auf und wendete sich von ihr ab.

"Hör' auf damit, ich will nicht wieder damit anfangen", sagte er atemlos, als hätte man ihm Hände um die Kehle gelegt und zugedrückt.

"Du warst dabei!", sagte Nefentry mit erhobener Stimme. "Und du weißt mehr, als in den offiziellen Berichten steht. Du kennst die Geschichten, die man sich erzählt. Über das Schwarze Schiff. Und noch viel wichtiger: Über denjenigen, der es kommandiert."

Toram wirbelte herum und starrte sie mit geweiteten Augen an.

"Ja, ich HABE es gesehen, und auch die Gräueltaten, die von ihm ausgingen, aber ich weiß weder, wer oder was dieses Ding steuert, noch warum es diese Dinge tat oder woher es überhaupt kam", er schrie beinahe, so erregt war er. Er hielt inne und machte sich bewusst, dass vor ihm seine Vorgesetzte stand. Toram und Nefentry kannten sich zwar seit der Akademie, dennoch war sie jetzt seine Vorgesetzte und er musste sich mäßigen. "Verzeihung. Ich glaube nicht, dass ich an diese Dinge erinnert werden möchte."

Nefentry nickte langsam und verständnisvoll, doch sie blieb ernst; ihr Blick war kalt wie Eis.

"Dann weißt du auch, dass es seit jener Nacht vor acht Jahren verschwunden ist."

Toram nickte. "Der Himmel riss auf und ein gewaltiger Sturm soll es verschlungen haben. Überall waren Blitze und der Sturm war so heftig, dass er beinahe die Drachenschiffe zerstört hätte. Wir konnten gerade noch abdrehen und entkommen."

"Eines der Schiffe war die Drakon - dein Schiff, nicht wahr?"

"Ich war der Zweite Offizier und bei den Rettungsmaßnahmen der Zivilbevölkerung beteiligt", bestätigte er.

Nach einer langen Pause, in der sie sich tonlos ansahen, sagte Nefentry in kühlem und sachlichem Ton:

"Es wurde wieder gesehen. Das Schwarze Schiff.“

Toram blickte auf und sah in ihr Gesicht, welches reglos und eiskalt war. "Wo?"

"Hundert Meilen vor der Küste von Südland", sagte sie tonlos, als wäre sie eine Maschine. "Und nicht nur das. Man erzählt sich, dass auch Schattenwanderer wieder gesichtet wurden."

Toram ließ sich stöhnend auf eines der großen Sitzkissen fallen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. "Schattenwanderer ... so wie damals."

Es herrschte lange Stille und Schweigen, bis Nefentry in versöhnlicherem Ton sagte: "Du weißt, wie das mit Gerüchten und Geschichten ist. Die Menschen in Südland sind streng gläubig und halten jedes Gewitter für den Zornausbruch eines Gottes. Die Menschen im Norden wiederum halten an ihren Göttern wie Thor oder Odin fest."

"Du vergisst", begann Toram tonlos, "dass die Asen auch als Götter gelten und die sind lebendig und haben ihren Sitz in Asgard."

Nefentry seufzte. "Wie auch immer", fuhr sie fort, "habe ich den Befehl, der Sache nach zu gehen."

"Du sollst das Schwarze Schiff finden?"

"Wir sollen herausfinden, wer oder was hier seine Scherze mit den Menschen veranstaltet", korrigierte Nefentry ihn.

"Wir?"

Sie nickte und nahm eine gerade Körperhaltung an. "Hiermit ernenne ich dich, Toram, zu meinem Ersten Offizier. Wir haben den Befehl, nach Südland zu fahren und eine Piratenbande aufzuhalten, welche die Angst ihrer Opfer vor dem Schwarzen Schiff ausnutzt."

Toram nahm ihre ausgestreckte Hand entgegen und schüttelte sie.

"Es wäre mir eine Ehre, Kapitän", sagte er ernst. "Und du bist sicher, dass wir Befehl haben, Piraten zu jagen?"

"Glaube mir, Toram", sagte Nefentry leise, "ich bete zu den Göttern genauso wie du, dass es sich um Piraten handelt."

2

Sie waren schon seit Stunden unterwegs und genauso lange plapperte Artem auch vor sich hin. Zuerst hatte er sich darüber beschwert, wie kostbar doch seine Zeit als Pilot war und dass er diese Zeit Ragnar und Morke selbstverständlich in Rechnung stellen würde. Dann lamentierte er sich wegen seinem Drachenboot aus - welches er weiterhin als "Schiff" bezeichnete. Aber auch die wideren Umstände wie das unwegsame Gelände oder die Tatsache, dass er Hunger hatte, waren Themen seines Monologs.

Schließlich erreichten sie eine Lichtung und Ragnar beschloss, eine Pause zu machen.

"Hat jemand eine Ahnung, wo wir uns befinden?!", sagte Artem, stemmte die Hände in die Hüften und musterte die Umgebung: Mächtige Bäume, deren Stämme mit Efeu und Moos überwuchert waren, mannshohe Gräser mit weißen Blüten und ein kleiner Wasserfall, der sich in einen Bachlauf ergoss. Aus dem Dickicht des Waldes waren die typischen Laute und Geräusche wilder Tiere zu hören.

"Hast du Schlaumeier von einem Drachensegler-Piloten nicht mal eine Karte?", höhnte Morke. "Ach stimmt ja - kauzige Affenmenschen können ja nicht lesen!"

Kix fauchte und stieß warnend einen kleiner Feuerstrahl in die Luft, während Artem den Froggy wütend anfunkelte, ansonsten jedoch völlig ruhig blieb. Jedenfalls äußerlich.

"Zufällig HABE ich eine Karte." Er machte eine kurze Pause, kratzte sich am Hinterkopf und fügte leise hinzu: "Aber die liegt noch im Schiff."

Morke lachte verächtlich. "Hätte ich's mir doch denken können ..."

Ragnar, der die beiden die ganze Zeit hatte streiten lassen, weil er Besseres zu tun hatte - er hatte ihre Umgebung sondiert und festgestellt, dass in dem Bachlauf Fische schwammen, außerdem gab es hier essbare Pflanzen - kam zurück und sagte: "Davon abgesehen, dass ich unserem Piloten sowieso kaum was zutraue frage ich mich, warum DU den Weg nicht zu kennen scheinst."

Der Froggy musterte zuerst Ragnar, dann Artem, der ihn ebenfalls fragend anblickte und auf eine Antwort wartete.

"Ich war nicht den ganzen Weg hindurch zu Fuß unterwegs gewesen. Wäre ja auch ein bisschen weit gewesen."

Ragnar seufzte. "Das habe ich mir schon irgendwie gedacht." Er musterte erneut die Umgebung. "Ich schlage vor, wir essen etwas und dann laufen wir weiter auf die Bergkette zu." Er bedeutete mit einer Kopfbewegung nach Osten, wo die Sorgenberge kaum sichtbar durch die Bäume des Waldes zu erkennen waren. "Das ist unsere einzige Möglichkeit."

Während er sich daran machte, aus einem recht stabilen Baumast einen Speer zu schnitzen, schichteten Morke und Artem Äste und Holz für ein Lagerfeuer auf. Als aus dem Dickicht des Waldes das Kreischen eines Tieres und Blätterrascheln zu hören war, schreckte Artem hoch und blickte ängstlich um sich.

"Sind hier ... gefährliche ... Tiere?! Ich meine ja nur ...", stammelte er unsicher.

Morke erkannte mal wieder seine Gelegenheit, grinste diabolisch und flüsterte verschwörerisch: "Natürlich. Vor allem vor den Riesenkeilern musst du dich in Acht nehmen. Die zerfleischen ihre Opfer gerne mit ihren Hauern."

3

Ragnar fing drei große Lachse und Kix der kleine Drache entfachte das Lagerfeuer. Sie brieten den Fisch und aßen schweigend. Immer wieder drehte sich Artem ängstlich um, wenn ein Geräusch aus dem Wald zu hören war.

"Wie kommt es eigentlich", begann Ragnar. "dass du als Student der Akademie der Drachenflotte dich im Trollwald nicht auskennst?"

"Und solch ein Hasenfuß noch dazu bist", fügte Morke leise stichelnd hinzu.

Artem schaubte und machte ein mürrisches Gesicht. "Darüber möchte ich nicht reden."

"Peinlich?", fragte Morke und grinste.

"Vielleicht", sagte Artem tonlos.

"Nun ja", begann Morke mit erhobener Stimme. "das könnte ja dir wieder richtig Mut machen, oder?" Sagte er an Ragnar gewandt.

Der Nordmann runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht, wovon du sprichst."

"Ja, wie meinst du das?", wollte Artem wissen.

"Ragnar will doch auch die Akademie besuchen", sagte Morke gelassen. "Er träumt davon, große und mächtige Drachenschiffe zu fliegen. Ein echter Pilot von solch einem Ding zu werden."

Ragnar keuchte empört auf. Er warf den zu drei Vierteln gegessenen Fisch zur Seite, stand auf und baute sich über dem Froggy auf. "Was fällt dir ein?! Schlimm genug, dass du in meinen Träumen herumschnüffelst, aber ..."

"Reg' dich ab, Mann", sagte Morke gelassen mit seiner rauen Stimme. "Ich habe nicht geschnüffelt, sondern nur Eins und Eins zusammengezählt. Du warst völlig begeistert davon, jemanden zu treffen, der auf der Akademie war. Auch wenn es nur ein Versager wie der hier war."

Kix fauchte und baute sich mit kleinen Fäusten drohend vor dem Froggy auf. Auch Artem blieb diesmal nicht gelassen. Er stand ebenfalls auf, stemmte die Hände in die Hüften und sagte mit drohender Stimme: "Wenn du mich noch einmal einen Versager nennst, dann ... dann ..."

"Dann ... WAS, hä?!", rief Morke.

"Dann ... dann ..."

"HÖRT AUF! BEIDE!", donnerte Ragnar, und beide blickten ihn erschrocken an. "Es reicht! Hier ist niemand ein Versager!"

"Danke", sagte Artem und grinste Morke verstohlen an wie ein Kind, das von einem Erwachsenen in Schutz genommen wurde und recht bekommen hatte.

Ragnar lag noch etwas auf der Zunge, was er Artem gerne gesagt hätte, doch er verkniff es sich. Er hatte keine Lust zum Streiten. Er hatte andere Dinge im Kopf.

"Was ist eigentlich so besonders an diesen Sorgenbergen?", fragte Artem, um das Thema zu wechseln. "Und diesen Stein - zeig' doch mal her!"

Er riss den blauen Stein Morke, der ihn in diesem Moment aus Ragnars Ledertasche hervorgeholt hatte, um ihn zu betrachten, einfach aus der Klaue.

Artem betrachtete den Stein und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Er blickte auf und musterte zuerst Morke, dann Ragnar, dann wanderte sein Blick wieder auf den Stein.

"Woher habt ihr denn das bloß her?", flüsterte er mit den funkelnden Augen eines Kindes, das seine Geburtstagsgeschenke auspackte.

"Du weißt, was es ist?", fragte Ragnar, nicht ganz ohne Misstrauen, denn Artem konnte sehr gut schauspielern und so tun, als wüsste er, was er sagte oder tat.

"Natürlich weiß ich das. Das ist ein ziemlich wertvolles Erz", sagte Artem ernst. "Ich selbst wurde leider nie beauftragt, es zu transportieren. Aber andere schon. Die Schiffe, die es geladen hatten, waren sehr streng bewacht." Er sah Ragnar in die Augen, als er mit leiser, betonter Stimme hinzufügte: "Elfenschiffe."

"Du meinst die Drachenflotte?"

Artem schüttelte den Kopf. "Nein, ich meine nicht jene in den roten Uniformen mit dem Drachenabzeichen. Ich meine jene, die gelb und weiß tragen. Elfen, von denen man sagt, sie hätten reines Blut - was immer das heißen mag." Wieder fiel sein Blick auf den blauen Stein. "Angeblich soll ein solcher Brocken schon mehrere tausend Taler wert sein."

"Weißt du auch, wofür die Elfen dieses Zeug brauchen?", wollte Ragnar wissen.

"Zeug? Du nennst es Zeug, obwohl ich dir gerade gesagt habe, wie wertvoll es ist?"

Artem seufzte, als er nur Ragnars strengen Blick als Antwort bekam. "Ich kann es nicht genau sagen. Es heißt 'Mondschatten' und soll unglaublich selten sein - deshalb der hohe Preis. Die Elfen sammeln und kaufen es von überall her auf, verladen es auf ihre Schiffe und verschwinden damit."

"Aber", begann Ragnar ratlos. "WOZU brauchen sie es? Habt ihr das auf der Akademie nicht gelernt?"

Morke grunzte und schüttelte den Kopf. "Es kann nur einen Grund dafür geben."

"Und der wäre?", fragte Artem mit gelangweilter Stimme, denn er unterhielt sich nicht sehr gern mit dem Froggy.

"Die Elfen wollen es aus dem Verkehr ziehen. Sie horten es, damit kein anderer es in seine Hände bekommt." Er machte eine kurze Pause und blickte Ragnar an. "Ich sagte dir doch, dass man dieses Zeug – entschuldige - Mondschatten - dazu verwenden könnte, einen Gungnir oder zumindest etwas Ähnliches herzustellen."

Artem runzelte ratlos die Stirn, doch Ragnar glaubte zu verstehen, was der Froggy damit sagen wollte. Trotzdem ließ er ihn aussprechen.

"Mondschatten ist ein Erz, aus dem Waffen hergestellt werden", sagte Morke und zu Artem gewandt, fügte er hinzu: "Gefährliche Waffen."

4

Artem machte sein Versprechen, Ragnar nicht mehr von der Seite zu weichen, wahr. Erst wenn er sein "ganzes Geld" hätte, würde er ihn los sein. Ragnar musste zugeben, dass er die Hartnäckigkeit des ... er wusste Artems Spezies immer noch nicht - des kauzigen Piloten irgendwie bewunderte. Auf der anderen Seite war Artem jedoch jene Art von Persönlichkeiten, die Ragnar weniger schätzte. Artem plapperte beinahe pausenlos, war obendrein ein gewaltiger Jammerlappen und ängstlich und ließ sich ständig von Morkes Sticheleien provozieren. Das ging Ragnar gewaltig auf die Nerven, aber er konnte ihn auch nicht einfach wegschicken. Selbst wenn Artem es wollte, würde es keinen Weg geben, wohin er hätte gehen können: Sie waren mitten im Trollwald. Den Sorgenbergen waren sie zwar ein gutes Stück näher gekommen, aber Ragnar wusste nicht viel über diese Gegend; ob es Siedlungen oder Gasthäuser gab. Außerdem beschäftigte ihn noch eine andere Sache, nämlich die Tatsache, dass der Trollwald nicht umsonst Trollwald hieß: Wo waren die Trolle?

"Aus diese Gegend haben sich die stinkenden Gesellen schon lange zurückgezogen", sagte Morke, als hätte er Ragnars Gedanken gelesen. Er blickte ihn gelassen an und fügte hinzu: "Die Trolle. Du fragst dich doch bestimmt, wo sie sind, oder?"

"Ich kann auf diese Kerle verzichten", sagte Ragnar und zuckte mit den Achseln. "Es ist nur seltsam, dass wir noch keinem von ihnen begegnet sind."

"Denk' doch mal nach", sagte Morke. Sie schoben sich gerade durch einen mit dicken Wurzeln und Ranken bewachsenen Pfad und der Froggy ging voraus und schob hängende Ranken und Äste zur Seite. "Diese Gestalten, die manche 'Schattenwanderer' nennen, du weißt schon, die 'Toten', sind nicht nur bei uns Froggys gewesen und haben sich Sklaven geholt."

"Auch Trolle?", rief Artem erschrocken. "Bist du dir sicher?"

"Ich habe sie selbst gesehen", sagte Morke. "Ich vermute, dass die anderen geflüchtet sind. Bald kommen wir in jenes Areal, das ihnen - den Schattenwanderern - gehört. Ab dort ist unsere Reise definitiv kein Ausflug ins Grüne mehr."

Artem schnaubte verächtlich. "Du willst uns doch nur Angst einjagen."

Er blickte zu Ragnar. "Oder was meinst du? Er übertreibt doch bestimmt maßlos. Tote die umherwandern und sich primitive Völker als Sklaven holen -"

"Hey, pass auf was du sagst, sonst verpasse ich dir 'ne primitive Kopfnuss!"

Doch Artem plapperte unbeeindruckt weiter: "Warum arbeiten diese Schattenwanderer nicht einfach selber und suchen sich dieses blaue Zeug. Und außerdem ..."

"Still!", zischte Ragnar, packte seine beiden Begleiter an den Schultern und zog sie beide in die Hocke gehend zu sich runter auf den Boden.

Alles war still, abgesehen vom Rascheln der Blätter im Wind.

Artem machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Ragnar presste einen Finger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf.

Einen Herzschlag später war die Luft von einem kalten Windhauch erfüllt. Mit geweiteten Augen starrte Artem ungläubig auf die Pflanzen um ihn herum, die wie durch Zauberei ihre Farben verloren und zuerst grau, dann weiß wurden. Tote Insekten fielen wie kleine Hagelkörner auf die Erde und im Dickicht waren die Geräusche flüchtender Tiere zu hören.

Dann erschienen Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln zwischen den Bäumen und schlichen wie Geister durch das Gelände. Ragnar lugte hinter einem zu kleinen Eiskristallen gefrorenen Beerenstrauch hervor und sah drei Schattenwanderer, die direkt auf ihn und seine Begleiter zukamen.

Was ist das? formte Artem tonlos die Frage mit seinen Lippen.

Schattenwanderer, antwortete Morke und nickte, als wolle er damit sagen: Siehst du, ich habe es dir ja gesagt!

Vor Angst gelähmt starrte Ragnar auf die drei näher kommenden schwarzen Gestalten. Er wusste nicht, ob diese Wesen ihn, Artem und den Froggy sehen, riechen oder spüren konnte. Er wusste auch nicht, was diese 'Wandelnden Toten' dann mit ihnen machen würden, aber er hatte wieder dieses Gefühl, dass diese Begegnung nicht schön enden würde. Er wägte seine Möglichkeiten ab und entschied, auf Risiko zu gehen. Ragnar legte seine Hand auf den Griff seines Schwertes und wartete ab.

Zwei der drei Schattenwanderer drehten plötzlich ab und gingen in eine andere Richtung, der Dritte jedoch hielt weiterhin ungehindert Kurs auf Ragnar, Artem und Morke. Die beiden Streithähne waren wie gelähmt und starrten angsterfüllt ins Leere. Selbst der Drache Kix blieb ganz ruhig.

Ragnar versuchte so ruhig zu atmen wie er nur konnte. Langsam zog er sein Schwert aus der Scheide und machte sich für einen Frontalangriff bereit. Vielleicht hatte er Glück und konnte das Wesen sofort töten, damit sie genug Zeit hätten, um zu flüchten.

Als der Schattenwanderer vielleicht noch vier Schritte von ihnen entfernt war, konnte Ragnar eine hellgraue, dürre Hand aus den schwarzen Stoffärmeln hervorlugen sehen.

Noch drei Schritte, dann zwei, dann ...

Sprang Kix, der Drache, wie ein Blitz aus seinem Versteck hervor und blies dem Schattenwanderer einen hellroten Feuerstoß mitten ins Gesicht. Gleichzeitig schnellte auch Ragnar mit gezogenem Schwert aus seinem Versteck hervor und griff die schwarze Gestalt ebenfalls an.

Der Schattenwanderer griff sich mit beiden Händen an jene Stelle, wo eigentlich das Gesicht hätte sein sollen, doch Ragnar sah mit Entsetzen, dass unter der Kapuze nur noch mehr Schwärze war. Der Stoff der Kapuze sowie die Vorderseite des Mantels standen in Flammen. Ragnar holte aus und schlug mit seinem Schwert dem Schattenwanderer, der sich inzwischen in eine bewegliche Fackel verwandelt hatte, in die Hüfte. Das Geräusch, welches dabei entstand, klang, als würde man einen mit Knochen gefüllten Beutel schütteln. Brennend, aber stumm, sackte der Schattenwanderer in sich zusammen auf den Boden.

Kaum war der erste Schattenwanderer besiegt, kamen die beiden verbliebenen Gestalten und steuerten auf Artem zu.

Artem kreischte schrill auf, als er die weißen, skelettartigen Hände sah, die nach ihm griffen.

Kix wollte wieder mit Drachenfeuer angreifen, doch diesmal war einer der beiden Gestalten schneller: Es packte Kix am Schwanz und wirbelte den kleinen Drachen zur Seite. Der andere Schattenwanderer packte Artem am Hals und zog ihn zu sich heran.

Artem spürte, wie eine besonders aggressive Kälte seinen Körper erfasste. Er wollte schreien, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Er wollte sich wehren, nach der zupackenden Hand schlagen, doch sein ganzer Körper war von einem Moment zum anderen wie gelähmt. Alles, was Artem noch spüren konnte, war Kälte. Und Traurigkeit.

Der anderer Schattenwanderer, der Kix weggeschleudert hatte, näherte sich nun Morke: Er streckte seine Hände nach dem Froggy aus. Ragnar holte mit seinem Schwert aus und schlug mit einem Schlag dem Schattenwanderer die Arme ab. Sie fielen wie zwei ausgetrocknete Äste zu Boden und zerbrachen wie Tonkrüge. Der armlose Schattenwanderer senkte seinen Kopf und betrachtete die Armstümpfe. Dann schritt er weiter auf Morke zu, als wenn nichts gewesen wäre. Der Froggy war - wie Artem – wie gelähmt. Doch nicht nur das; es kam noch die fatale Tatsache hinzu, dass Morke als Froggy ein Amphibienwesen war, welches bei starker Kälte in eine Art Winterstarre verfiel.

Die Kälte wurde immer beißender und Ragnar spürte, wie er von einer starken Müdigkeit überwältigt wurde. Er blinzelte und konnte seine Umgebung nur noch verschwommen und durch einen Schleier von Müdigkeit und nahender Ohnmacht erkennen.

Das schaffst du doch mit links. Los, mach' diese Gesellen fertig, Ragnar!

Diese Worte ließen in Ragnar wieder neue Kräfte erwachen. Er schlug mit seinem Schwert auf den armlosen Schattenwanderer ein, packte die Gestalt an den Schultern und riss sie zur Seite. dann wirbelte er herum und stieß dem zweiten Schattenwanderer, der gerade dabei war, Arte, zu erwürgen, sein Schwert mitten durch den Brustkorb. Das schwarze Wesen hielt inne, bäumte sich ein letztes Mal auf, dann fiel es ebenfalls reglos zu Boden.

Artem stolperte rückwärts über Wurzeln und Steine und stieß mit dem Rücken gegen einen Baum. Er starrte keuchend und mit Herzklopfen auf die schwarze Gestalt oder vielmehr das, was noch übrig war: Der schwarze Kapuzenmantel fiel in sich zusammen, als wäre der Körper, der in ihm gesteckt hatte, verschwunden.

Dann starrte er Ragnar an, der die drei (toten?) Wesen auf dem Waldboden liegen sah. Er ging einen Schritt auf einen der liegenden Schattenwanderer zu und stieß mit seinem Schwert in dessen Schultern, dann den Rücken und er spürte, dass dort unter dem Stoff am Boden liegend, nichts mehr war, schon gar nicht der Körper eines aufrecht gehenden Wesens.

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