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Walhalla
Teil 5 - In den Fängen der Schattenwanderer
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Informationen
- Story: Walhalla
- Autor: Xenotopia
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
KAPITEL SIEBEN - In den Fängen der Schattenwanderer
1
Drachenschiffe sahen wie gewöhnliche Schiffe aus: Sie hatten einen Rumpf, in dem sich die Quartiere für Besatzung und Passagiere befanden. Dann waren da zwei große Segelmasten und riesige, mächtige Segel. Den Bug zierte ein großer Drachenkopf. Doch dieser kunstvollen Verzierung verdankten die Drachenschiffe nicht ihren Namen, sondern der Tatsache, dass sie sich nicht nur wie gewöhnliche Schiffe auf dem Wasser übers Meer, sondern auch durch die Luft bewegen konnten und zwar mit Hilfe von zahmen Drachen, welche sie hinter sich herzogen wie Pferde Kutschen.
Die OBERON war das größte, modernste und mächtigste Schiff der Flotte und ihre Kommandantin war sehr stolz darauf, mit diesem Schiff einem überaus wichtigen Auftrag nachzugehen: Die Fahrt nach Südland, um dort das Schwarze Schiff aufzuspüren. Keine große Angelegenheit - jedenfalls offiziell. Nicht mal ihr Erster Offizier, Toram, wusste von den wahren Hintergründen dieses Befehls. Die Kaiserin selbst hatte sich dem Problem angenommen, als das Schwarze Schiff zum ersten Mal vor mehreren Jahren angefangen hatte, scheinbar wahllos Menschensiedlungen anzugreifen. Der Befehl lautete: Unbedingte Geheimhaltung! Niemand sollte erfahren, wer oder was dieses Schiff wirklich steuerte. Niemand sollte jemals erfahren, welche Gefahr wirklich von ihm ausging. Deshalb die Beschwichtigungen, dass ihr Auftrag mit Piraten zu tun hatte. Räuber, welche sich die Angst vor der Legende um das Schwarze Schiff zu Nutze machten.
Toram stand neben Nefentry auf der Brücke, einem halbrunden Raum, dessen vordere Hälfte im Freien lag, wo vier uniformierte Elfen jeweils mit Ferngläsern und Steuerhebeln ausgerüstet die Umgebung ständig überwachten und gleichzeitig geringfügige Kurskorrekturen vornahmen. Je nachdem, wie der Wind stand, wie das Sonnenlicht einfiel oder das Wasser Wellen schlug.
"Warum fahren wir noch auf dem Wasser?", fragte Toram beiläufig.
"Es ist noch nicht notwendig." Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. "Sei unbesorgt, der Drache wird schon noch zum Einsatz kommen. Solange wir nicht mit Höchstgeschwindigkeit reisen müssen, genügt der konventionelle Reiseweg."
Toram lächelte zurück, aber es war ihm nicht ganz wohl dabei. Vier Tage waren seit ihrem ersten Wiedersehen nach Jahren vergangen. Inzwischen trug er seine neue Uniform - blau mit weißen Ornamenten, einem schmalen Elbenschwert am Gürtel sowie dem Rangabzeichen aus Silber am Kragen - und war sehr stolz darauf, wieder Mitglied der Drachenflotte zu sein. Er hatte den Wind, die salzige Seeluft und das leichte Schwanken, das man auf einem Schiff immerzu wahrnahm, vermisst. Aber irgendetwas in ihm verschaffte ihm ein Gefühl von Unbehagen. So, als wüsste man instinktiv, dass es mit der Beziehung zu einem geliebten Gefährten nicht gut bestellt war. Zwar war es noch nicht zu einem Streit gekommen, aber die Zeichen standen auf Sturm. So, als wäre er kurz davor zu entdecken, dass er belogen und betrogen wurde.
Der Elf stellte sich immerzu die Frage, warum die Drachenflotte ihr größtes Schiff losschickt, um Piraten zu jagen, behielt diese Bedenken jedoch für sich. Und zwar aus dem Grund, um zu vermeiden, die Antwort nicht zu erfahren. Irgendwie hatte Toram den Verdacht, dass er die Fragen und das Geheimnis um das Schwarze Schiff - und darum ging es, da war er sich sicher - nur auf diesem Wege beantwortet bekommen würde.
Einer seiner besten Freunde, Ragnar, hatte seine Heimat verloren. Und was auch immer diese Katastrophen von damals ausgelöst hatten: Es sind keine Piraten gewesen, denn soviel er wusste, waren die Wikinger selbst einst ein Seeräubervolk gewesen.
"Steuermann", begann Nefentry einen Befehl. "gehen sie auf zwei Zoll südliche Richtung und dann auf Kurs Drei B Vier."
"Drei B Vier?" Toram runzelte die Stirn. Er ging zum Kartentisch und verfolgte mit dem Finger jenen Kurs, die Kommandantin befohlen hatte. "Dieser Kurs lässt uns aber ganz schön weit aufs offene Meer raus. Wäre eine Fahrlinie entlang der Küsten nicht sicherer?"
"Es ist die OBERON, Toram", sagte Nefentry kühl. "Wer mit diesem Schiff unterwegs ist, ist immer sicher. Außerdem ist dies die kürzeste Strecke."
Toram studierte die Karten weiter, nickte langsam und bemerkte: "Bringt uns verdammt nahe an die Seevulkane. Manchmal lauern dort wilde Drachen."
Nefentry klopfte ihm auf die Schulter und seufzte. "Sag' jetzt bloß nicht, dass du Angst vor Seeungeheuern hast?!"
Er schnitt eine Grimasse und wendete sich dann dem Steuermann zu. "Geschwindigkeit Helon fünf."
Die Befehle wurden entgegengenommen, das Schiff legte an Geschwindigkeit zu und verfolgte seinen Kurs.
2
Ragnar erspähte die Sorgenberge fast volle drei Tage, nachdem sie mit dem Drachenboot im Trollwald abgestürzt waren. Seine Nerven lagen alleine schon wegen dieser beiden Streithähne fast völlig blank. Während der kurzen Nachtruhe wurde er von immer beängstigenderen Träumen geplagt und wenn er schweißnass aufwachte, hatte er das Gefühl, sich etwas zu nähern ... das Gefühl, als wäre er einem Raubtier auf der Spur, das nur darauf wartete, dass sein Opfer zu ihm kam. Wie eine Motte, die vom Licht einer Kerzenflamme angelockt ins Feuer fliegt und verbrennt. Nur ist die Motte ahnungslos, Ragnar jedoch hatte Ahnungen. Vorahnungen. Oder hatte er einfach nur Angst?
Je öfter er diese Träume hatte, umso klarer wurden einige Botschaften in ihnen: Toram. Er träumte immer häufiger von dem Elfen, der damals bei ihrer Rettung dabei gewesen war. Drohte ihm Gefahr? Und dann waren da noch diese Träume über Loki. Zuerst waren sie sehr wage und undeutlich. Ragnar glaubte zuerst, er träumte von alten Erlebnissen mit Loki. Jene Träume, in denen Loki ihm als Monster erschien hielt Ragnar für das Ergebnis seiner Schuldgefühle. Er fühlte sich schuldig für Lokis Tod, denn er hatte ihn fallen lassen...
Doch auch diese Träume wurden deutlicher, klarer. Immer mehr hatte Ragnar das Gefühl, dass Loki ihm etwas mitteilen wollte. Mit ihm sprach, doch er konnte nicht verstehen, was er ihm sagte.
Die Begegnung mit den Schattenwanderern hatte ihm deutlich gemacht, dass er den Dämonen seiner Vergangenheit verdammt nahe kam. Ragnar hatte wirklich mit dem Gedanken gespielt, einfach umzukehren. Doch je näher er den Sorgenbergen kam, wurde er das Gefühl nicht los, dass dort nicht nur Gefahren, sondern auch Antworten auf ihn warteten.
Der Kampf gegen die Schattenwanderer und der immer düsterer und kälter werdende Wald um sie herum schien seine Begleiter weniger zu beeindrucken: Artem war zwar in den letzten Tagen ihres Fußmarsches über das unwegsame Gelände ruhiger geworden, aber nicht müder. Spätestens nach solch einer Begegnung - mit untoten Wesen, deren Aura alles Leben einfrieren ließ und denkende und fühlende Wesen mit Traurigkeit und Verzweiflung erfüllten - hätte Ragnar fest damit gerechnet, dass ein Kauz wie dieser Möchtegern-Pilot das Weite suchte. Doch Artem folgte ihm und Morke tapfer weiter, stets mit der Begründung, dass er "sein Geld" haben wollte, welches ihm zustand.
Ragnar wusste nicht, ob Artem tatsächlich mutig war oder sein Verhalten von Feigheit kündete, denn: Wohin hätte er gehen sollen? Sie waren in den letzten Tagen an keiner Siedlung, keinem Gasthof, noch nicht einmal anderen Reisenden begegnet, obwohl es im Trollwald vor Trollen und Froggys nur so wimmeln sollte. Ragnar vermutete, dass längst andere Wanderer sie vertrieben hatten: Die Schattenwanderer.
"Diese wandelnden Toten haben den ganzen Wald rund um die Sorgenberge für sich eingenommen", sagte Morke, als hätte er wieder Ragnars Gedanken gelesen. "Seht euch nur die Bäume an oder das Wasser."
Die Bäume hatten fast keine Blätter mehr, das Holz ihrer Stämme sah seltsam glatt und glänzend aus und hatte eine dunkelgraue Farbe angenommen. So, als seien sie langsam verkohlt worden. Der Boden war steinig und tot: Kaum noch grünes Gras, keine Insekten. Gelegentlich waren Vögel zu sehen oder Spinnen und Käfer, aber je näher sie sich den dunklen, finsteren Felsen der Sorgenberge näherten, umso mehr waren sie von Tod, Ödnis und Kälte umgeben.
Die drei unterschiedlichen Reisenden, die notgedrungen zu Weggefährten geworden waren, hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Nächte auf hohen Bäumen zu verbringen, da ihnen immer öfter Schattenwanderer begegneten, die in ihrem schwarzen Kutten über den toten Waldboden schwebten. Einmal hatte Artem laut aufgeschrien, als einer der wandelten Toten zu ihnen in den Baum, auf dem sie schliefen, geblickt hatte. Sie hatten das "Gesicht" dieses Wesens nur kurz gesehen, aber Ragnar glaubte etwas gesehen zu haben, das einem schlafenden Menschen ähnelte, mit unendlich abgemagerten, eingefallenen Wangen.
Wie hatten die Elfen damals dieses Wesen genannt, das mit dem Schwarzen Schiff gekommen war? Todesgott?
Ragnar zwang sich dazu, nicht zu sehr darüber nachzudenken, vor allem nicht über die alten Geschichten und Legenden, die sich mit dem Thema Tod und Leben befassten. Es ließ ihm jedes Mal ein eiskaltes Gefühl in der Magengrube entstehen. Das Gefühl, etwas zu essen, was verdorben war. Also ließ er es, denn jeder Gedanke daran ließ ihm seine Trauer und Verzweiflung größer werden.
3
Ragnar, Artem und Morke hatten sich hinter einem Felsen verschanzt und späten zu einer Art Eingang in den Berg. Er sah aus wie eine gewöhnliche Öffnung zu einer Mine oder Stollen. Auf Schienen glitten kleine Waggons heraus und hinein. Interessanterweise waren keine schwarzen Gestalten, keine Schattenwanderer zu sehen, sondern normal gekleidete Männer - aus der Ferne betrachtet scheinbar Menschen - mit Glatzen und mit Speeren bewaffnet - welche kleine, grüne und braunhäutige Wesen antrieben, die Waggons zu schieben.
"Sie lassen Froggys und Trolle schuften", flüsterte Ragnar. "Deshalb sind wir keinem Troll im Trollwald begegnet."
Neben sich hörte er Artem laut atmen; wie ein Kind, das Atemnot bekam. Ragnar kannte diese Art des Atmens. Es war pure Angst, ja Panik gar, welche Artem ausstrahlte. Er konnte sein Zittern spüren, seinen Herzschlag hören.
"Trolle auch ...", flüsterte Artem kaum hörbar.
Morke fletschte seine Zähne und kratzte mit seinen Klauen über den dunkelgrauen Felsen, hinter dem sie sich versteckten. "Diese ... Dreckskerle!"
"Es sind Menschen", sagte Ragnar. "Was haben die mit den Schattenwanderern zu schaffen?!"
"Vielleicht stehen sie unter einem Zauberbann?!", stammelte Artem unsicher. Es war eine Frage als auch eine Vermutung zugleich.
Morke schüttelte langsam den Kopf. "Nee, kein Zauberbann. Es sind angeheuerte Verbrecher. Männer ohne Ehre und ohne Skrupel. Die machen die Drecksarbeit für jemand ganz anderen."
Ragnar atmete tief durch, drehte sich um und presste sich mit dem Rücken fest gegen den Felsen.
"Gut. Jetzt müssen wir unbedingt einen Weg hinein finden."
"HINEIN?!", keuchte Artem entsetzt auf. Sein kleiner Drache Kix schüttelte heftig den Kopf.
Ragnar sah Artem mit einem gleichgültigen Blick an. "Du kannst immer noch abhauen."
Artem schnitt eine Grimasse. "Ab ... und wohin, hä? Hier wimmelt es von diesen Monstern. Gestern Nacht wären wir fast von einem von diesen Dingern gefressen worden. Ich gehe nicht alleine wieder in diesen Wald und außerdem ..."
"Willst du dein Geld", sagte Morke gelangweilt.
"Niemand zwingt dich", sagte Ragnar ruhig, ohne auf die Bemerkung des Froggys einzugehen. "Auch dich nicht, Morke. Ich wollte hierher und jetzt bin ich hier. Alles was jetzt geschieht, geht nur mich etwas an."
"Deswegen?" Morke zog den blauen Stein hervor. "Willst du dir mit Mondschatten eine goldene Nase verdienen oder was?"
Ragnar musterte den Froggy nachdenklich, dann nahm er den Mondschatten an sich.
"Er ist ein Nordmann", sagte Artem mit überraschend ernstem Ton. "Ein Volk von Wikingern und Seeräubern. Jedenfalls war das mal so gewesen. Vielleicht ist er wirklich auf große Beute aus."
Ragnar trafen diese Worte wie Stiche ins Herz, aber er blieb ruhig, jedenfalls nach außen. Der Kauz hatte recht, tief in seinem Herzen war er ein Wikinger, ein Nordmann. Deshalb - weil die Wikinger ein Volk von Seefahrern waren - wollte er auch zur Drachenflotte. Aber seine Absicht war es nicht, die Sorgenberge auszurauben. Das wäre für einen Mann alleine auch glatter Wahnsinn und völlig absurd. Er wollte nur, dass das Elfenreich von dieser Mine erfuhr, wollte diesem verbrecherischen Treiben ein Ende bereiten, um...
Sich so einen Platz in der Drachenflotte zu ergattern? Ist es das, lieber Ragnar? - es war Lokis Stimme, die zu ihm sprach. Mit dem frechen, flinken Zungenschlag eines Schelms sprachen Ragnars Gedanken zu ihm in Lokis Stimme. So, als würde er neben ihm sitzen und als sein Gewissen agieren. Doch wie ein echter Schelm und Possenreißer hatte auch dieser eingebildete Loki irgendwie recht: Ragnar erhoffte sich dies tatsächlich. Er wusste, dass Sklaverei verboten war, wusste, dass der Trollwald und die Sorgenberge zum Hoheitsgebiet der Elfen gehörten. Ihnen dabei zu helfen, dieses Gebiet und seine Bewohner zu befreien, würde ihm einen Platz auf der Akademie sichern.
Aber ...
Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die Elfen nichts davon wissen, oder? Wieso solltest ausgerechnet du der Erste sein, der davon erfuhr, nur weil du einen entlaufenen Froggy gefunden hast? Ganz zu schweigen davon, dass du hier mit deinen beiden Witzfiguren von Gefährten in der Falle sitzt, umzingelt von Schattenwanderern und diesen glatzköpfigen Söldnern?!
"Ich bleibe dabei", sagte Ragnar, ohne Artem oder Morke anzusehen. "Ihr könnt gehen und euer Glück alleine versuchen. Ich werde reingehen. Ich MUSS da rein."
"Du bist verrückt", flüsterte Artem. Er stand ruckartig auf, stemmte die Hände in die Hüften und machte ein finsteres Gesicht. "Du ... du bist doch nicht ganz bei Trost. Und ich ..." Er lachte humorlos auf. "Ich Trottel bin dir gefolgt, weil ich mein Geld wollte. Aber jetzt ... nee nee, ich -"
Dann ging alles sehr schnell: Jemand packte Artem am Schwanz und riss ihn hoch in die Luft, sodass der Pilot in der Luft hing wie eine Maus oder Ratte, die man am Schwanz hochhielt. Gleichzeitig machten sich zwei andere glatzköpfige Hünen über Morke her, indem sie ihn packten und festhielten.
Ragnar versetzte seinem Angreifer einen Fußtritt und flüchtete in den Wald zurück. Hinter sich hörte er das gellende Kreischen und Schreien von Artem, während Morke seine Angreifer mit seiner rauen Stimme mit Beschimpfungen und Beleidigungen bombardierte. Kix stieß zahllose kleine Feuerstöße auf die Angreifer ab, wurde jedoch wie ein lästiges Insekt mit einem Handschlag weggeschleudert und verschwand im dornigen Unterholz des toten Waldes.
Mit einem brennenden Schmerz in der Brust rannte Ragnar ziellos und verwirrt durch das unwegsame Dickicht aus Dornen und abgestorbenen Sträuchern, während er mit zittriger Hand nach seinem Schwert griff. Er sprang über einen umgestürzten Baumstamm, stolperte kurz, konnte sich jedoch wieder aufrappeln und weiterlaufen. Dann glitt er über eine zugefrorene Pfütze und stieß gegen einen weiteren Baum, als er kurz über seine Schulter hinter sich blickte. Seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Ragnar ignorierte den pochenden Schmerz seiner blutenden Nase und rannte weiter, verlor seinen Helm, beachtete aber auch das nicht.
Der Boden unter seinen Füßen bebte leicht, so, als hätte es irgendwo eine Explosion gegeben. Im selben Augenblick war sein Körper von einer beißenden Kälte erfüllt.
Abermals stolperte er und verlor dabei sein Schwert. Er richtete sich auf und sah sich umgeben von schwarzen Gestalten.
"Nein!", brüllte er. "NEIN!"
Ragnar raffte all seine letzten Kräfte zusammen und rannte direkt auf die vor ihm stehenden Schattenwanderer zu, als er immer mehr das Gefühl hatte, sich nicht durch Luft, sondern durch Wasser zu bewegen: Seine Bewegungen wurden immer mühsamer, immer zäher...
Die Welt war von einem weißen Nebel erfüllt, die Geräusche von Stiefeln, die über trockenes Laub rannten, welche seine Verfolger machten, wurden leiser, stattdessen vernahm er nur noch seinen eigenen Atem, seinen Herzschlag, bis er schließlich gegen die schier undurchdringliche Schwärze der Schattenwanderer stieß und Lokis hämische Stimme in seinem Inneren sagen hörte:
Hab' ich es dir nicht gesagt ... ?!
Dann verlor Ragnar sein Bewusstsein.
4
"Erzähl mir meine Lieblingsgeschichte! Los, jetzt mach schon, komm schon …"
Ragnar blinzelte und konnte zuerst nur schemenhafte Umrisse erkennen. Es war so, als versuche man unter Wasser etwas zu sehen: Verschwommen und undeutlich. Die Augen brannten, wussten nicht, ob sie dem Reflex nachgehen und sich wieder schließen oder besser offen bleiben sollten, da man sonst stockblind wäre. Er hatte das große Bedürfnis, beides gleichzeitig zu tun, denn beides schmerzte ihn zu sehr.
Wieder diese vertraute Stimme, die von sehr, sehr weit herzukommen schien:
"Was ist los mit dir? Willst du nicht oder kannst du nicht?!"
Die Stimme klang erwachsen und fremd, aber auch zugleich wieder vertraut. Als ob sie von einer Person stamme, die man sehr lange nicht mehr gesehen hatte: Ein Freund aus Kindertagen, dem man jetzt als Erwachsenen begegnete.
Er träumte. Ragnar war sich sicher, dass es ein Traum war. Die Kälte der Schattenwanderer und die Verletzungen an seinem Kopf brachten ihn zum Fantasieren, zum Träumen. Traum und Wirklichkeit vermischten sich. Denn jene Gestalt, die er langsam aus den verschwommenen Schemen auf sich zukommen sah, konnte unmöglich derjenige sein, der er anscheinend war.
Ragnars Sinne wurden immer klarer: Er schien gefesselt zu sein. Jedenfalls konnte er seine Arme nicht bewegen. Der Raum um ihn herum war dunkel. Wahrscheinlich eine Höhle, jedenfalls glaubte er grob behauenen Fels zu erkennen. Irgendwo brannte Feuer: Das Knistern und Knacken von Flammen war zu hören. Der Raum – die Höhle – wurde von Fackeln erleuchtet. Es roch nach brennendem Öl und Harzen.
"Och bitte, erzähle mir meine Lieblingsgeschichte. Ich würde sie so gerne wieder hören."
Es war eine raue, etwas hohe Stimme. Sie klang hämisch, als ob ihr Besitzer ein ziemlich zynischer und sarkastischer Zeitgenosse wäre, dem die Gefühle anderer Leute völlig egal waren. Es war ihm auch egal, wenn diese anderen Leute gefesselt und mit Schmerzen irgendwo an einem Pranger hingen, in einer finsteren, feuchten Höhle in den Sorgenbergen.
Ragnar blinzelte wieder und konnte die Gestalt jetzt besser erkennen: Es war ein schlanker, hochgewachsener junger Mann mit kupferrotem Haar, das von seinem Kopf hoch stand wie loderndes Feuer. Seine Gesichtszüge waren zu einem hämischen, aber nicht unsympathischen Grinsen verzogen. Seine Augen waren feuerrot und schienen im Dunkeln zu glühen. Er trug eine rabenschwarze Uniform mit einem roten Umhang.
Er kam mit seinem Gesicht ganz nahe an Ragnars Gesicht und flüsterte: "Nun komm schon, Ragnar. Ich warte schon seit Jahren darauf zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht."
Ragnar kicherte unsicher. Wieso tat er das? Hatte man ihm Rauschgift gegeben und hielt er diese Szene für so absurd, dass ihm nichts Besseres einfiel, als darüber zu lachen?!
"Ich werde von Schattenwanderern gefangen genommen, nur um eine Geschichte zu erzählen?!" Er lachte wieder. "Hat der Froggy euch meine Träume und Gedanken verraten und tut ihr nun so, als wärt ihr mein Freund aus Kindertagen? Wie verrückt seid ihr eigentlich?"
Der Rothaarige lächelte und trat einen Schritt zurück.
"Das wäre wohl die beste Erklärung, nicht wahr?", sagte er gelassen. "Der Froggy ist ein Traumwandler. Deshalb hätte er mir alles über dich erzählen können, was es zu wissen wert war. Dann eine gute Verkleidung und schon haben wir den Freund aus Kindertagen, nur um zu erfahren, wie die Geschichte zu Ende geht." Er lachte leise. "Aber so kompliziert ist es gar nicht, mein Freund."
Ragnar legte den Kopf schief. Seine Arme schmerzten – man hatte ihn an beiden Handgelenken an die Felswand gefesselt – trotzdem konnte er nicht mehr, als nur lachen. Es war absurd, einfach nur absurd.
"Du lachst", stellte der Rothaarige überrascht fest.
"In der Tat, aber nicht, weil es komisch, sondern, weil es blöd ist." Ragnars Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. "Und geschmacklos."
"Findest du?!"
"Und widerlich", fügte Ragnar hinzu, jetzt mit zunehmend finster werdendem Gesicht. "Wie viel habt ihr dem Froggy bezahlt? War der kleine Trollwicht auch Teil eures Plans, mich zu euch zu locken? Warum habt ihr mich nicht einfach entführt und mein Dorf niedergebrannt?"
Der Rothaarige verschränkte seine Arme. "Aber aber, ich bin doch kein wilder Barbar, mein Freund. Der Froggy ist nicht bezahlt, wir haben ihn mit Absicht laufen lassen – und dabei riskiert, einen Mondschatten zu verlieren. Was den Troll angeht: Dieser kleine Wicht war nicht Teil des Plans. Es war purer Zufall, dass er zu euch gestoßen war."
"Aber wozu das Ganze?"
Der Rothaarige lächelte. "Um dich wieder zu sehen, Ragnar."
Ragnar schluckte, blies sich eine Haarsträhne aus dem schweißnassen Gesicht und grunzte verächtlich. "Ach? Wirklich?"
Der Rothaarige schritt auf ihn zu, legte seine Hände auf Ragnars Schultern und sagte lächelnd: "Erkennst du mich gar nicht mehr?"
Der Nordmann schnitt eine Grimasse. "Seid ihr des Theaterspielens nicht langsam müde?"
"Ich spiele kein Theater", sagte der Rothaarige geduldig. "Ich bin es wirklich."
"Loki ist tot", sagte Ragnar ernst und funkelte den Rothaarigen böse an. "Er fiel in einen Vulkankrater, als wir beide noch Knaben waren. Mein bester Freund und vielleicht auch mein Seelenverwandter starb, als wir feige von einem Schwarzen Schiff angegriffen wurden. Das ist viel zu ernst, als dass man damit ..."
"Du hast mir abends immer Geschichten erzählt und dabei mit einem Kohlenstift die Bilder der Geschichten an die Wand in unserer Kammer gezeichnet. Ich habe meine Fähigkeit, Feuer zu entfachen dazu genutzt, dir ebenfalls Freude und Unterhaltung zu bereiten."
"Das kann euch alles der Froggy ..."
"Und ich habe dich als meinen Bruder angesehen, obwohl ich eine Waise bin."
Der Rothaarige wandte sich von Ragnar ab und sprach mit leiser, trauriger Stimme. "Meine Eltern sind bis heute unbekannt. Meine Herkunft ein Rätsel. Ein einfacher Junge von einfachen Leuten, die einem kleinen Wikingerdorf angehörten sollte mein Bruder, mein Gefährte, mein Seelenverwandter sein. Noch heute hast du dieses schöne, hellblonde Haar, dieses kraftvolle Funkeln in den Augen. Es macht mich traurig, dass du mich nicht mehr als jenen erkennst, der ich immer noch bin."
Für eine ganze Weile herrschte Schweigen.
Ragnars Verstand sagte ihm, dass es nicht möglich sein konnte, dass er reingelegt wurde. Doch die Stimme seines Herzens wurde immer lauter und sagte ihm, dass der Rothaarige die Wahrheit sprach. Es war Loki …
"Aber", begann Ragnar immer noch misstrauisch. "Ich sah dich in den Vulkankrater stürzen."
"Ich verfing mich im Seil eines anderen Schiffes und hing kopfüber direkt über dem Feuer des Vulkans. Meine Fähigkeit, Feuer zu entfachen gibt mir auch die Macht, dem Feuer zu widerstehen: Meine Haare und meine Haut können nicht brennen. Stattdessen verwandelte ich meinen Körper selbst in Feuer und flog davon. Ich landete auf einem anderen Schiff und verfiel in eine tiefe Ohnmacht. Als ich erwachte, bemerkte ich, dass ich mich auf dem Schwarzen Schiff befand."
Er drehte sich um und sah Ragnar ernst an.
Ragnar glotzte ihn ungläubig an, doch sein Misstrauen wurde zunehmend kleiner: Was der Rothaarige – Loki – ihm das erzählte, klang immer plausibler.
"Auf dem Schwarzen Schiff?!"
Loki nickte. "Ja."
"Warst du sein Gefangener?"
"Zu Beginn schon. Doch dann ..."
"Konntest du entkommen?", rief Ragnar aufgeregt.
Loki kam lächelnd auf ihn zu, öffnete die Fesseln und ließ Ragnar frei.
"Es kam viel besser", sagte Loki mit einem hämischen Unterton in seiner Stimme; wie jemand, der etwas Gemeines, aber Geniales ausgeheckt hatte. "Folge mir und du wirst die ganze Wahrheit erfahren."
5
Ragnar war misstrauisch, aber auch neugierig. Sollte er diesem Mann wirklich vertrauen? Er sah wie eine erwachsene Version jenes Jungen aus, mit dem er befreundet gewesen war. Wieder erwachten jene Bilder vor seinem Inneren Auge, als er versucht hatte, seinen besten Freund und Bruder im Geiste festzuhalten. Wie ihm seine Hand entglitt und er in die Tiefe stürzte.
Das Schwarze Schiff hatte jenes Feuer entfacht, das Ragnars Heimat vernichtete. Und jetzt sollte er einem Mann vertrauen, der zwar scheinbar dieser tot geglaubte Freund war, jedoch mit den geheimnisvollen Mächten des Schwarzen Schiffes im Bunde stand?
Während sie einen schmalen, engen Felsenkorridor entlang gingen, entging Ragnar nicht, dass es Loki sehr eilig zu haben schien: Er musste sich Mühe geben, mit ihm Schritt halten zu können. Und während er ihm folgte, sprach Loki ununterbrochen wie ein Wasserfall - was ihn an das Geplapper von Artem erinnerte - von Dingen, die ihn zunehmend verwirrten:
"Die Mächte des Schwarzen Schiffes sind unbesiegbar. Es besitzt Waffen, von denen keiner je zuvor gehört oder gesehen hat. Weißt du was? Mir fehlten deine Geschichten. Erzählst du mir wieder Geschichten, wenn das hier alles vorüber ist? Ich würde gerne wieder ein paar Geschichten hören. Bist du eigentlich ein Geschichtenerzähler geworden? Bei der Drachenflotte scheinst du ja nicht zu sein, was ja immer dein Traum gewesen ist ..."
Bei dem flüchtigen Gedanken an Artem fragte Ragnar sich, wo der Halbtroll und der Froggy - Morke - wohl stecken mochten. Er wusste nicht, warum, aber er brachte die Frage, ob Loki vielleicht wüsste, was mit seinen beiden Begleitern passiert war, nicht über die Lippen. Seine Stimme war diesbezüglich irgendwie gelähmt.
Das Wort "Drachenflotte" sprach Loki irgendwie seltsam aus: Als würde es ihm sehr schwer fallen, überhaupt davon zu sprechen. Wie jemand, der über eine Krankheit sprach, über die man eigentlich nicht sprach. Etwas, was ein lästiges Übel war, das ekelig, aber unvermeidbar zu sein schien.
"Das Schwarze Schiff hat unsere Insel zerstört", sagte Ragnar und unterbrach dabei Lokis Redeschwall.
Der Rothaarige blieb abrupt stehen und schwieg für einen Augenblick. Dann drehte er sich um und zu Ragnars Überraschung grinste er. Es war das freche Grinsen eines Jungen, der etwas ausgeheckt hatte oder als einziger von einer Sache wusste, die höchst peinlich war.
"Ich weiß", sagte er knapp.
Das schockierte Ragnar noch mehr: Das Grinsen in Kombination mit "Ich weiß" ließ ihn nichts Gutes erahnen. Wieder stellte er sich die Frage, ob es wirklich Loki war, der vor ihm stand. Gut, er hatte bisher nur den Jungen, das Kind Loki gekannt. Als Junge war Lokis Verhalten, seine Art, zu sprechen und zu grinsen, "normal" und irgendwie sympathisch. Aber die erwachsene Version von ihm machte Ragnar etwas Angst.
"Viele Menschen sind gestorben", fügte Ragnar hinzu. "Wie kannst du deshalb von diesem Schiff und seiner Macht schwärmen?"
"Weil ich sie gesehen habe." Loki machte eine kurze Pause, seufzte, und fügte dann hinzu - er sprach wie mit einem begriffsstutzigem Kind, das keine Ahnung hatte, dass man es nur gut mit ihm meinte. "Und weil ich sie unter Kontrolle habe."
Ragnar weitete erschrocken seine Augen.
"Du hast ... was?", rief er.
Loki hob beschwichtigend die Hände. "Alles zu seiner Zeit."
Er machte einen Schritt auf Ragnar zu und kam mit seinem Gesicht so nahe an Ragnars, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. Zum ersten Mal erkannte Ragnar den Jungen wieder, den er als seinen Bruder angesehen hatte. Das feurige Glühen in seinen Augen, das spitze, scharf geschnittene Gesicht, die feinen, roten Haare ...
Sie sahen sich tief in die Augen und schwiegen.
Schließlich sagte Loki leise: "Vertraust du mir, Ragnar?
Ragnar tat es. Und er tat es auch wieder nicht. Er war hin und hergerissen, trotzdem nickte er langsam.
"Denk daran, wir sind Brüder im Geiste. Unser Schwur, den wir als Jungen geleistet haben, gilt immer noch."
Ragnar erinnerte sich daran. Natürlich tat er das.
Wieder nickte er langsam.
"Dann folge mir jetzt und du wirst sehen, alles wird sich zum Guten wenden." Mit einem warmen Lächeln fügte er hinzu: "Entspanne dich, Ragnar. Ich bin wieder da. Wir haben uns gefunden! Du wirst sehen, jetzt erfüllen sich alle deine - unsere - Träume!"
Ragnar musste lächeln. Er nickte wieder. "Ja, endlich."
Loki schlang seine Arme um ihn und Ragnar erwiderte die Umarmung. Es war ein sehr schönes, befreiendes Gefühl. Endlich hatte er ihn wieder gefunden: Nach all den Jahren der Trauer und des Suchens. Er und Loki waren wieder zusammen, waren wieder vereint.
"So und jetzt komm mit. Ich habe eine Überraschung für dich!", sagte Loki und Ragnar folgte dem Rothaarigen.
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