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Walhalla

Teil 6 - Thiazis Erbe

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KAPITEL ACHT - Thiazis Erbe

1

Während Ragnar Loki durch mehrere schmale Tunnel folgte, sprach der Rothaarige unbekümmert weiter.

"Weißt du mein Freund, ich habe dir auch eine Geschichte zu erzählen." Er grinste verschmitzt. "Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten, denn ich habe sie ja selbst erlebt.

Stell` dir vor, da gab es mal einen Eisriesen mit Namen Thiazi, welcher der Göttin Idun die Äpfel der Jugend stehlen wollte - so ein böser Eisriese."

Er blickte über seine Schulter und sah das verdutzte Gesicht von Ragnar. Loki lachte und nickte. "Oh ja, so was gibt es wirklich: Äpfel der ewigen Jugend. Obst ist eben doch gesund, wer hätte das gedacht. Naja, ich fahre mit der Geschichte fort:

Der Riese ergriff einen jungen, rothaarigen Burschen, der Feuer mit seinen Händen machen konnte, als Adler verkleidet. Unser junger, rothaariger Bursche - nennen wir ihn mal Loki, das passt am besten - bettelte um sein Leben und versprach seinem Entführer Hals über Kopf, ihm die Äpfel der ewigen Jugend zu überlassen. Richtige Zauberäpfel, aber das erwähnte ich glaube ich schon."

"Wie bist du an Zauberäpfel gekommen?!", fragte Ragnar mit ungläubigem Ton.

Loki blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte seufzend den Kopf. "Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Du weißt immer noch nicht, mit wem du deine Kindheit verbracht hast oder?"

Er sah Ragnar ernst an. "Die Asen werden dir gnädig sein für dein Unwissen. Und ich bin es auch. Weil du ja so was wie mein Bruder bist. Nun ja, ich fahre mal fort...

Die Götter - eigentlich Menschen mit magischen Kräften - die ihren Hintern in Asgard breitsaßen, waren nicht sehr erfreut über das Geschäft, das ihr Kollege mit Thiazi gemacht hatte, denn als sie damit aufhörten, von den Äpfeln zu essen, wurden sie zusehens kränker, schwächer und verloren ihre ewige Jugend und ihre Macht.

Sie schnappten den hinterlistigen Burschen Loki und ließen ihn in Gestalt eines Falken in Thiazis Halle fliegen, um Idun und deren Äpfel zurückzuholen."

Loki gab ein lautes Seufzten von sich.

"Und dann?"

"Nichts. Es ist ihnen nicht gelungen. Ich habe keine Äpfel und keine Idun geholt. Beide sind immer noch da, wo sie waren."

Ragnar schwirrte der Kopf. Was erzählte Loki ihm da? Wollte er ihm allen Ernstes verkaufen, dass er die Asen kannte? Dass er magische Äpfel gestohlen und eine Göttin entführt hatte?!

"Ich kann deine Zweifel und Verwirrung verstehen, aber weißt du Ragnar, es ist alles in Ordnung. Wenn du erst begriffen hast, um was es geht, dann wirst du verstehen. Und dann wirst du auch mich verstehen."

"Du willst mir doch nicht erzählen", begann Ragnar ungläubig, "dass du der legendäre, verstoßene Feuergott aus Asgard bist?!"

Loki verschränkte die Arme. "Er steht vor dir."

Ragnar schüttelte den Kopf. "Nein, das kann ich nicht glauben. Es kann nicht sein ... wir kannten uns damals als Kinder. Du warst damals nicht unsterblich und ..."

"Kann ich Feuer entfachen? Ja! Heiße ich Loki? Auch ja! Und wer hat jemals behauptet, Götter seien unsterblich? Ich habe dir gerade erklärt, dass diese Asen-Nasen Menschen mit magischen Fähigkeiten sind, die durch die Äpfel ihre scheinbare ewige Jugend beziehen. Kapiert?"

"Und was hat das alles mit dem Schwarzen Schiff zu tun?"

Loki seufzte zuerst wie jemand, der Mitleid mit einem Ahnungslosen hat. Doch dann verzerrte sich sein Gesicht zu einem sehr breiten, beinahe furchterregendem Grinsen.

"Das mein lieber Freund, ist ja die Überraschung. Sein Name ist nämlich nicht Thiazi. Der echte Eisriese ist schon lange tot. Er ist auch kein Riese, dafür aber jemand, der uns unendliche Macht verleihen kann. Er kann Tote wieder zum Leben erwecken und neues Leben schenken. Und er wird uns beide reicher und mächtiger machen als jemals zuvor ein Mensch gewesen war."

Der schmale Tunnel verbreiterte sich allmählich, und sie gelangten in ein riesiges Höhlengewölbe, in dem Ragnar dutzende von Froggys sah, die mit nichts als mit Lumpen und Lendenschurzen bekleidet waren und unermüdlich mit Hämmern auf Felsen einschlugen. Erst auf den zweiten Blick konnte Ragnar die Ketten sehen, mit denen die grünen Sumpfwesen gefesselt waren. Viele lechzten nach Wasser und ihre langen, violetten Zungen hingen ihnen aus dem Mund.

"Keine Sorge, dieses grüne Ungeziefer arbeitet gerne für eine höhere Sache."

"Eine höhere Sache...", murmelte Ragnar entsetzt.

"Du bist natürlich mein Ehrengast, es soll dir an nichts fehlen mein Freund."

Ragnar wusste nicht, ob er sich immer noch freuen sollte, dass er seinen alten Freund und Bruder aus Kindertagen wieder gefunden hatte. Er war immer noch von der Tatsache, dass Loki der Feuergott aus Asgard war, überwältigt, genauso von dem glücklichen Umstand, dass er den Sturz bei ihrer Flucht von der untergehenden Insel wirklich überlebt hatte und jetzt als erwachsener, stattlicher Mann vor ihm stand. Doch was er ihm erzählt hatte ... dass er die Äpfel der Jugend gestohlen hatte und anscheinend mit der zerstörerischen Macht des Schwarzen Schiffes gemeinsame Sache machte, verunsicherte Ragnar.

Noch während er darüber nachdachte, ob er seinem Freund und Bruder nicht einfach vertrauen sollte und darauf, dass sich alles zum Besseren wenden würde, sah er plötzlich die von Loki angekündigte "Überraschung" und sie ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

2

Erst jetzt vernahm Ragnar die vertraute Stimme, die kreischte, zeterte und schimpfte. Lokis Worte - was und vor allem, wie er diese Dinge aussprach - zusammen mit den versklavten Froggys, die um sie herum überall schufteten, hatten Ragnars Sinne verwirrt. Zum ersten Mal griff er in Gedanken an jene Stelle seines Gürtels, an der sein Schwert hing. Einen Herzschlag später tastete seine Hand danach und er war nicht überrascht darüber, nichts dort zu finden. Natürlich hatten sie ihm seine Waffe genommen, wie konnte er nur so töricht sein?!

"Das werdet ihr alle bereuen! Ich bin Offizier der Drachenflotte, so könnt ihr mit mir nicht umgehen! Meine Leute werden sich grausam rächen, habt ihr gehört?!"

Loki führte Ragnar durch einen der vielen röhrenförmigen Tunnel in einen kleineren Raum, in dessen Mitte ein riesiger, runder Behälter stand, der mit Wasser gefüllt war. Über dem Wasser hingen Artem und Morke kopfüber, an den Beinen zusammengebunden wie geschlachtete Hasen. Während der eine - Artem - herumzappelte und wild mit den Armen fuchtelte und schimpfte und kreischte, war der Froggy erstaunlich ruhig und gelassen. Er blickte gelangweilt in die Menge der "Zuschauer" und sagte etwas in einer Sprache, die Ragnar nicht verstehen konnte. Vermutlich die Froggy-Sprache.

Ragnar ließ den Blick hastig durch die Menge der "Zuschauer" schweifen und stellte mit Entsetzen fest, dass es sich um eine bizzare Mischung aus unterschiedlichen Wesen handelte: Er sah jene glatzköpfigen Menschenmänner, die ihn und seine Gefährten gefangen genommen hatten. Sie hatten ein zufriedenes, beinahe entspanntes Grinsen auf den Lippen, als freuten sie sich auf ein üppiges Festmahl. Söldner? Kopfgeldjäger? Ragnars huschte in Gedanken hastig über diese Fragen und stellte fest, wie unsinnig und unwichtig dies im Augenblick war. Sie waren wahre Muskelberge, bis an die Zähne bewaffnet mit Schwertern und Messern. Da war es gleich, welchem "Beruf" diese Kerle nachgingen. Es waren Gesetzeslose, so viel stand jedenfalls fest.

Dann sah Ragnar eine Gruppe von Orks. Sie hatten eine grün-graue Haut, schwarze Haare, die an den Seiten abrasiert und zu langen, beinahe schon kunstvollen Zöpfen zusammengebunden waren und trugen in ihren Gesichtern Tätowierungen. Auch die Orks waren bewaffnet, grinsten jedoch nicht so zufrieden wie ihre menschlichen "Kollegen".

Am furchteinflößendsten waren jedoch die Gestalten in den Umhängen, deren Gesichter man nicht sehen konnte. Ragnar konnte insgesamt vier von ihnen zählen. Sie standen von den anderen Gesellen in einigem Abstand in der Ecke.

Schattenwanderer, dachte Ragnar und schluckte.

Die Lage sah mehr als hoffnungslos aus: Er war ganz alleine, umgeben von den - objektiv betrachtet - stärksten und skrupellosesten Kerlen, die man sich nur vorstellen konnte. Muskelbepackte Monster mit Waffen aus Stahl, die dafür bezahlt wurden, wehrlose Kreaturen wie Froggys oder Waldtrolle zur Sklavenarbeit einzutreiben. Oder sogar zu foltern und zu töten, wenn es sein musste.

Loki schien absichtlich gewartet zu haben, bis Ragnar sich ein ganzes Bild machen konnte, denn er räusperte sich, als würde er damit sagen wollen: Kann ich jetzt weitersprechen? Alles gesehen, mein Freund?

"Wie du siehst, haben wir die beiden Streithähne am Leben gelassen."

Ragnar blickte zu Artem und Morke, die kopfüber über dem Wasserzuber an ihren Fesseln baumelten.

"Ich weiß, sie gehen dir beide sehr auf die Nerven, vor allem diese Missgeburt aus Troll und Elf." Loki lachte bellend und Artem keifte:

"Ich bin Drachenpilot! Und ich bin ein Troll, merk` dir das, du Feuerrübe!"

"Ui, ganz schön frech oder nicht?!", rief Loki amüsiert und die Söldner und Orks begannen grölend zu lachen.

Ragnar wurde schlecht. Was war aus Loki geworden? War es wirklich sein Bruder im Geiste, der da neben ihm stand und Orks anfeuerte, eine wehrlose Kreatur auszulachen?

"Hast du das nicht gewusst?", fragte Loki dem kreidebleichen Ragnar. "Dein Drachenpilot, der nicht mal eine Fledermaus zum Fliegen bringen könnte, ist das Ergebnis einer unfassbaren Blutschande! Der Vater ein Troll, die Mutter eine Elfe." Er spuckte auf den Boden. "Und die beiden waren auch noch verliebt ineinander, stell` dir das mal vor!"

"Loki ...", keuchte Ragnar atemlos. Er konnte nicht glauben, dass er noch eine Stimme hatte, um mit ihr sprechen zu können, obwohl er kaum Worte fand, die er aussprechen konnte, so fassungslos war er. "Was soll das? Warum tust du das?"

Ragnar interessierte es nicht im Geringsten, wer oder was Artems Eltern waren. Dass er ein Mischwesen war, konnte man erkennen, wenn man nicht gerade blind war. Und ja, der Möchtegern-Drachenpilot ging im auf die Nerven. Aber was hier geschah, war barbarisch.

Loki lachte amüsiert. "Och, Ragnar. Ich dachte, dir würde das vielleicht gefallen."

Der Rothaarige ging auf eine komplizierte Konstruktion aus Seilen, Metallstangen und Zahnrädern aus Holz zu. Ragnar konnte erkennen, dass jene Seile, die um die Beine von Morke und Artem gebunden waren, in dieser Konstruktion zusammenliefen. Loki legte seine Hand auf einen Hebel, und Ragnar dämmerte, welche Funktion dieser Hebel zu haben schien.

"Wir haben uns wieder gefunden, mein Freund. Das Schicksal - und ein entflohener grüner Stinker - hat uns wieder vereint. Jetzt können wir für immer zusammen sein und der Welt endgültig zeigen, dass uns nichts und niemand mehr trennen kann."

Loki umschloss den Hebel mit seiner Hand und drückte ihn nach oben.

Im selben Augenblick schwankten Artem und Morke hin- und her und bewegten sich langsam auf das Wasser zu.

Loki hielt in seiner Bewegung inne, leckte sich über die Oberlippe und grinste breit.

"Es geht jedoch nur, wenn du mir beweist, dass du wirklich auf meiner Seite bist, Ragnar."

Vor Ragnars Innerem Auge erwachten Erinnerungen. Wie er und Loki jeden Abend sich gegenseitig Geschichten erzählt hatten. Wie sie von Drachen und Drachenschiffen geträumt hatten. Die Zeichnungen an den Wänden, die Feuerspiele, die Loki entfacht hatte. Er war so glücklich gewesen, war so zufrieden gewesen...

Und jetzt stand ein eiskalter, scheinbar seelenloser Mann vor ihm, der Spaß daran hatte, andere Kreaturen zu quälen.

"Du verlangst von mir einen Treuebeweis?", fragte Ragnar und versuchte, völlig gelassen zu bleiben. In Gedanken hatte er bereits alle Anwesenden gezählt: Fünf Orks, acht Söldner, vier Schattenwanderer und natürlich Loki selbst. Die Decke schien aus massivem Felsen zu sein, doch Ragnar konnte eine Art Öffnung erkennen. Vielleicht ein kleiner Tunnel oder Luftschacht. Außerdem brannten in unzähligen Schalen Feuer, welches die ganze Höhle erleuchtete. Und dann waren da noch Dutzende, vielleicht sogar hunderte von Froggys.

"Natürlich." Loki blickte Ragnar gelassen an und bewegte den Hebel wieder nach unten, sodass die Gefangenen nach oben gehievt wurden.

"Den muss ich doch haben, meinst du nicht auch? Die Zeiten sind schlecht, aber nicht für uns."

"Wenn du wirklich derselbe Loki bist, den ich als Junge gekannt habe, dann weißt du auch, dass wir dieses ganze Theater gar nicht brauchen. Wir waren Freunde für immer."

Lokis Gesichtszüge verfinsterten sich. "Du hast es nicht begriffen oder?", flüsterte er. "Du hast nicht begriffen, um was es geht, welches Geschenk ich dir anbiete?!"

Ragnar nickte in Richtung Wasserbehälter. "Ich soll die beiden ertränken, darum geht doch das Ganze oder?!"

Einige der Orks grölten, die Söldner hieben mit ihren Schwertern auf den felsigen Boden und lachten.

"Du hast es erfasst, mein Freund!", rief Loki lachend. "Man muss die Welt von diesem Schmutz befreien, genau das will Er nämlich."

"Er?"

Loki legte eine Hand auf Ragnars Schulter und zog ihn dicht zu sich heran. Er sah ihm in die Augen und sprach mit eindringlicher Stimme: "Er, der die Äpfel der Jugend nun besitzt, der den Elch bezwungen und den Tod überwunden hat. Er sucht sich seine Gefolgsleute genau aus, Ragnar. Denn wenn das Ragnarök naht, wird er dafür sorgen, dass wir den neuen Platz einnehmen."

Ragnar sah in diese feurigen Augen, in denen ein böses Feuer zu lodern schien. War Loki schlichtweg verrückt oder bösartig geworden? War es überhaupt Loki, der da vor ihm stand?

"Den neuen Platz einnehmen ..."

"Thiazis Erbe, mein Freund."

"Der Eisriese?"

"Jener, der den Eisriesen bezwungen hat um an seine Stelle zu treten."

"Ich dachte, er hat den Elch bezwungen."

"Den auch."

"Und wer ist dieser Er?"

Loki blickte Ragnar misstrauisch an. Dann schnitt er eine Grimasse und bedeutete auf die Hebelkonstruktion. "Nun, ertränke diese beiden Kreaturen, beweise deine Loyalität mir gegenüber und du wirst alles erfahren."

Ragnar blickte Loki emotionslos an. Er verzog keine Miene, obwohl er innerlich zerrissen war und am liebsten geschrien hätte. Dann blickte er zu Artem und Morke, welche ihn wiederum beide flehend ansahen. Er ging langsam auf die Hebelkonstruktion zu.

"Nein", hörte er Artem zuerst leise sagen, dann kreischen: "Nein! NEIN!"

"Ragnar ..." Es war Morke, der zum ersten Mal seine Stimme vernehmen ließ. "Tu das nicht, er lügt dich an. Loki lügt dich an!"

"Es dient einem höheren Zweck, mein Freund", hörte Ragnar Lokis Stimme hinter sich. "Und große Ideen verlangen auch große Opfer."

"Er lügt!", rief Morke und versuchte zum ersten Mal, sich zappelnd aus seiner Fessel zu befreien, sehr zum Vergnügen der Orks und der Söldner.

"Er steht mit dem Todesgott des Schwarzen Schiffes im Bunde!", rief Morke, mit zunehmend verzweifelt klingender Stimme. "Er hilft jenen, die dein Volk vertrieben haben!"

Ragnar schlug das Herz bis zum Hals. Er streckte den Arm aus und legte die Hand an den Hebel.

"Denke immer daran", sagte Loki hinter ihm, "dass ich dich immer geliebt habe, Bruder."

Ragnar schluckte eine Träne herunter und flüsterte. "Ich habe dich auch geliebt."

Dann drückte er den Hebel nach oben.

3

Artem und Morke fielen mit einem schnellen und lauten Platscher in das Wasser. Ihr Aufschrei wurde sogleich vom Wasser tränkt. Noch während die Menge aus Orks und Söldnern triumphierend aufbrüllte, sprang Ragnar auf den völlig überraschten Loki zu, entriss ihm sein Schwert und warf es gegen die Schattenwanderer, welche jedoch schneller waren: Sie wichen wie Schatten hastig zur Seite und Lokis Schwert zerschellte an den Felswand in einem lauten Funkenregen.

Ragnar wich Lokis Feuerblitzen aus und sprang auf den Felsvorsprung, welcher zu der kleinen Tunnelöffnung führte, die er vorhin entdeckt hatte. Er stieß mit einem Fußtritt eine der Feuerschalen um und ließ brennendes Öl auf die glatzköpfigen Söldner regnen. Er hörte Lokis gellende Stimme kreischen:

"Tötet ihn! Reißt ihm die Eingeweide aus und erdrosselt ihn damit!"

Ragnar hatte keine Zeit darüber nachzudenken, was Loki da von sich gab. Er sprang auf die Seilkonstruktion zu, welche weiterhin Artem und Morke festhielt und kletterte daran hinauf zur Höhlendecke, während er den Feuerblitzen auswich, die Loki wutentbrannt auf ihn abfeuerte. Einige davon trafen seine Kleidung, die in Flammen aufging. Er spürte den Schmerz der Verbrennungen und roch Rauch und verbrannte Haut.

"Was?!", rief Ragnar, und Schweiß rann ihm über die Stirn und das Gesicht. Die Hitze in der Höhle war sprungartig angestiegen. "Mehr hast du nicht drauf, du Möchtegern-Feuergott?!"

Loki brüllte wie ein wildes, angeschossenes Tier. Seine Augen glühten wie zwei explodierende Sterne und er spie einen Feuerstrom aus dem Mund wie ein Drache direkt auf Ragnar zu. Dieser ließ sich im letzten Moment, bevor das Feuer ihn treffen konnte, los und in das Wasser fallen.

Der Feuerstrom verbrannte das Seil und Artem und Morke, die unter Wasser gefesselt nach Luft rangen, sanken noch tiefer in die schwarzen Fluten. Ragnar tauchte zu ihnen hinab, sah jedoch verschwommen, dass die Fesseln zu fest waren: Er brauchte etwas zum Schneiden.

Artem und Morke zerrten im Todeskampf heftig an ihren Fesseln.

Ragnar konnte gerade noch Artems Schwanz packten und zog ihn zusammen mit dem Froggy nach oben.

An der Wasseroberfläche angekommen atmete Ragnar heiße, von Rauch und Schwefel erfüllte Luft ein und hustete.

Während die Söldner damit beschäftigt waren, das sich ausbreitende Feuer zu bekämpfen, machten sich die Orks mit Messern und Schwertern auf, die Gefangenen im Wasser zu erledigen. Ragnar sprang nach vorne und entriss einem der Orks ein Schwert und stieß es ihm sogleich in die Brust, während er einen zweiten Angreifer mit einem Faustschlag abwehrte. Doch Orks waren stärker als Menschen. Ragnar war sich dessen bewusst, doch sein erstes Ziel lag nicht darin, die Orks zu besiegen, sondern zuerst seine Gefährten zu befreien. Er durchschnitt mit dem Orkschwert die Seile und befreite Morke und Artem aus ihren Fesseln.

Die beiden tauchten hustend und prustend auf.

Ohne Zeit zu verlieren packte Ragnar beide an ihren Armen und zog sie gerade noch rechtzeitig aus Lokis Schusslinie, der unermüdlich Feuer und Blitze durch die Gegend schoss; laut kreischend und brüllend wie ein Monster.

Er ist ein Monster ... dachte Ragnar traurig und auch wütend.

Morke sprang aus dem Wasser wie ein Raubtier und zerkratzte einem der Söldner mit seinen schwarzen Krallen das Gesicht, während auch Artem es schaffte, sich ein Messer zu schnappen und gegen zwei kleinere Orks zu kämpfen.

Ragnar sprang aus dem Wasser auf den felsigen Boden und wich abermals einer Feuerattacke von Loki aus. Er rollte sich über den Boden zur Seite und sah Loki auf ihn zukommen.

"Ich habe an dich geglaubt, Ragnar", keuchte Loki mit heiserer Stimme. "Ich habe dich geliebt, mein Bruder. Und das ist der Dank dafür?!"

"Tja", begann Ragnar flüsternd und wartete, bis Loki nahe genug war. "Man darf eben nie mit dem Feuer spielen, mein Freund!"

Das Wort "Freund" spie Ragnar aus wie einen alten Kirschkern, dann stieß er eine weitere Feuerschale um und brennendes Öl ergoss sich über den Boden und erschuf eine Art Grenze zwischen ihm und Loki.

Der "Feuergott" sprang im ersten Augenblick erschrocken zurück, und das war genau jener Moment, den Ragnar zur Flucht ausnutzte. Er rannte hinter dem Wasserbehälter herum, wich den Schwerthieben und Messerstichen der Söldner aus und kletterte auf den Felsvorsprung auf den Tunnel zu.

Artem und Morke folgten ihm.

"Hinterher!", brüllte Loki, doch die Söldner waren damit beschäftigt, ihre brennenden Kleider zu löschen, die Orks schafften es nicht, die Felsen hochzuklettern, da diese unter ihrem Gewicht bröckelnd nachgaben. Außerdem war die Tunnelöffnung zu schmal für ihre massigen Körper.

Die Schattenwanderer verließen die Höhle schweigend durch den Haupteingang.

4

In der Enge des Tunnels konnten Ragnar, Artem und Morke nur auf den Knien kriechend vorankommen. Hinter sich hörten sie Loki mit irrer Stimme "NEIIIIN!", kreischen und dann wild Befehle brüllen.

"Was für ein garstiger Kerl!", schnappte Artem atemlos.

"Wo führt dieser Tunnel bloß hin?!", keuchte Morke.

"Keine Ahnung. Hoffentlich raus aus dieser Hölle!", sagte Artem und hustete.

Sie waren bis auf die Haut durchnässt, doch die Luft in der Höhle war so heiß, dass die Feuchtigkeit bereits anfing, dampfend zu entweichen. Artems dunkelbraunes Haar stand in alle Richtungen von seinem Kopf ab, was ihm ein noch wilderes, animalisches Aussehen verlieh. Seine Fliegerkappe trug er nicht mehr, die hatte er im Wasser verloren. Aber er war froh, dass er seine Handschuhe wenigstens noch an den Händen hatte, denn der Felsen, über den sie krochen, wurde immer heißer.

Morke hatte nicht nur keine Handschuhe sondern auch keine Schuhe, sodass er sich die nackten Füße und Knie immer wieder am immer heißer werdenden Felsen verbrannte.

Ragnar, der voranging, erblickte eine größere Öffnung vor ihnen.

"Wir müssen einen Weg herausfinden!", sagte Artem mit jammernder Stimme. "Ich verbrenne mir hier schon die Pfoten!"

"Ach ja? Was soll ICH denn sagen, hä?!", keifte Morke. "Ich bin ein Sumpfwesen und kein verdammter Drache."

"Seid still, alle beide!", zischte Ragnar mit gepresster Stimme. "Wir müssen einen Weg aus dem ganzen verdammten Sorgenberg finden."

Und nicht nur das, dachte Ragnar verbittert. Was Loki ihm da nur andeutungsweise erzählt hatte, hörte sich gar nicht gut an. Demnach war der Anführer des Schwarzen Schiffes im Besitz der Äpfel der Jugend und ein Feuergott - Loki selbst - schien ihm zu helfen. Und warum sprach Loki davon, die "Stelle der Götter" einzunehmen? Und die Geschichte vom bezwungenen Elch ... Sprach Loki da von diesem uralten Kindermärchen? War dieser rothaarige Bastard am Ende verrückt geworden?

Wie auch immer ... es hörte sich nicht gut an und Ragnar ahnte Schreckliches. Denn auch wenn Loki verwirrenden Unsinn erzählte, seine Kräfte waren durchaus real, genauso die Tatsache, dass ein ganzer Trupp aus Söldnern, Orks und Schattenwanderer hinter ihm standen. Was sprach also dagegen, dass Loki nicht doch die Wahrheit gesagt hatte und "ganz Großes" vorhatte?!

Sie kamen an der Tunnelöffnung an.

Die drei Gefährten legten sich nebeneinander auf den Bauch und blickten in eine große Höhle, die voller arbeitender Froggys und Trolle war. Sie waren angekettet und hämmerten unermüdlich auf Felsengestein. Andere trugen kleingehauene Felsen und Steine in Körben zu kleineren Tunneln. Und alle wurden angetrieben von hochgewachsenen Männern und auch Frauen - Ragnar konnte erkennen, dass es alles Menschen waren - mit Peitschen und Schlagstöcken.

Die grünen Sumpfwesen waren bis auf die Knochen abgemagert; die Trolle hatten Löcher in ihren Fellen und einige hatten sogar abgeknickte Schwänze oder ausgefranste Ohren. Es war ein schrecklicher, trauriger Anblick.

"Wir müssen ihnen irgendwie helfen", flüsterte Morke.

"Und wie, du Schlauberger?", flüsterte Artem zurück. "Wir sind nur drei und die haben Waffen und einen Feuergott im Handgepäck."

"Sag’ du es mir doch, du Drachenflotten-Offizier."

Artem holte Luft und wollte etwas erwidern, als Ragnar ihm den Mund zuhielt.

Er bedeutete auf einen glatzköpfigen Kerl mit Peitsche, der direkt unter ihnen einen Pfad entlangschritt, vorbei an schuftenden Froggys.

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