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Goldjunge

Dienstag

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Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

„Nein, das darf doch nicht wahr sein. Ich bin doch gerade eben erst eingeschlafen“, dachte sich Julian, als ihn ausgerechnet die Rolling Stones – die Lieblingsgruppe seines Vaters – aus den Träumen rissen. Er hasste diese alten Säcke, wahrscheinlich aber auch nur deswegen, um seinen Vater damit aufzuziehen.

Nur mühevoll konnte er sich dazu durchringen seine Augen zu öffnen: Mick Jagger wollte gerade die Welt schwarz anmalen, der Radiowecker leuchtete in grellem Rot und zeigte – was noch schlimmer war als das leuchtende Rot – die unverschämte Uhrzeit an – 6.35 Uhr. „Kann doch nicht sein“, seufzte Julian schlaftrunken und im nächsten Moment landete auch schon seine Faust auf dem Wecker, die das ungeliebte Teil zum Verstummen brachte. Sofort war er wieder eingedöst, ehe er ein paar Minuten später ein weiteres Mal unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Dieses Mal war es sein Vater, der an die Tür seines Zimmers hämmerte: „Julian, ich bin´s langsam Leid, es ist jeden Morgen dasselbe Theater. In 20 Minuten ist Abfahrt, also tu weiter. Ich schreib dir sicher nicht schon wieder eine Krankenentschuldigung. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen!“

„Verdammt“, stöhnte Julian, denn gerade hatte er wirklich daran gedacht, wieder einmal irgendeine Krankheit zu erfinden, doch sein Pensum an `Krankentagen´ war scheinbar aufgebraucht und außerdem sollte in ein paar Wochen die schriftliche Klausur zur Matura stattfinden – da konnte es also nicht schaden, sich vielleicht doch zur Schule zu bequemen. Langsam richtete er sich im Bett auf – er saß eine Weile da und blickte sich um. Sein Widerwille wuchs noch mehr, als er bemerkte, dass es in Strömen regnete und es nicht danach aussah, als ob es tagsüber irgendwann besser werden würde. Wie gerne wäre er doch zu Hause geblieben – verlockend schien ihm sein nagelneuer Plasmafernseher regelrecht dazu einzuladen, ihn doch bitte einzuschalten. Auch sein Computer, den er am Vorabend wieder mal nicht runtergefahren hatte, schien selbiges zu wollen.

„Ach was soll´s!“ Missmutig hüpfte er aus dem Bett und schlich ins Bad. Er musste dazu nicht mal sein Zimmer verlassen, denn er hatte sein eigenes Bad. Gerade als er anfing das warme Wasser auf seiner Haut zu genießen, klopfte sein Vater abermals an die Tür.

„Ja, ich komm ja schon“, sagte Julian mehr zu sich selbst, kroch müde aus der Dusche, wickelte sich in ein Riesenhandtuch ein und ließ sich in seine Ledercouch fallen – ein 4.000 Euro teures Möbelstück, in dass er sich bei seinem letzten Besuch bei Harrods  verliebt hatte und das er unbedingt haben musste. Er blickte sich in seinem fast 40m² großen Zimmer um und begann schließlich doch sich abzuschrubben. Sein Blick wanderte umher und blieb wie meistens bei einem Bild hängen, dass ihn und den Twilight-Star Robert Pattinson zeigte, den er doch tatsächlich bei einer Filmpremiere in London getroffen hatte und der seinem Wunsch nach einem gemeinsamen Foto nachkam. Nicht nur das: Robert legte sogar seinen Arm um Julians Schulter! Dieser stand daneben und grinste wie irre. „Sieht ja voll schwul aus“, dachte er sich beim Betrachten des Fotos immer und meistens folgte ein tiefer Seufzer, gepaart mit wilden Gedanken an diesen Schauspieler. So ganz hatte er sich noch immer nicht damit abgefunden, dass er tatsächlich schwul war. Ein Grund mehr, um zu Hause zu bleiben und der grauen Welt da draußen den Mittelfinger zu zeigen!

„So jetzt reicht’s aber“, riss in diesem Moment sein Vater die Tür auf. „In 5 Minuten bist du draußen, sonst…oh…Entschuldigung, ich…“ Verschämt und stotternd drehte sich sein Vater zur Seite und schloss die Tür wieder. „Fünf Minuten!“, wiederholte er nochmals in eindringlichem Ton.

„Ups!“ Julian blickte an sich hinunter – er hatte selbst nicht bemerkt, dass er mittlerweile splitterfasernackt im Zimmer stand und noch dazu eine gehörige Latte hatte. „Fuck! Wie peinlich!“ Er lief rot an, schlüpfte in seine Hosen, zog sein neues Desigual-Hemd an und huschte aus dem Zimmer. In der Küche wartete bereits sein Vater mit Franz, seinem Chauffeur. „Guten Morgen Franz“, rief Julian – wohl etwas zu laut, denn im nächsten Moment legte sein Vater schon seine Finger auf seine Lippen. „Pst! Nicht so laut. Deine Mutter schläft noch – du weißt doch wie übellaunig sie reagiert, wenn man sie um diese Zeit weckt! Oh und Entschuldigung nochmals, dass ich vorher so einfach in dein Zimmer geplatzt bin. Ich konnte ja nicht wissen, dass … Nun ja, Entschuldigung!“

„Na toll, dass wenigstens irgendjemand hier noch schlafen darf“, maulte Julian, der prompt wieder rot geworden war und von der peinlichen Situation ablenken wollte. „Hättest mich ja auch krankschreiben können“, fuhr er fort und blickte wehleidig aus dem Fenster ins Freie, wo der Regen unaufhörlich niederprasselte. Wie automatisch griff er sich eine Tasse Kaffee und stopfte sich gleichzeitig die Hälfte eines Kipferls in die Backen, das er in Rekordtempo runterdrückte.

„Du warst erst vor zwei Wochen krank – langsam solltest du dich auf deine Matura konzentrieren. Danach kannst du immer noch verrückt spielen“, gab ihm sein Vater zur Antwort, ehe sie wenig später im Dienstauto seines Vaters Platz nahmen und die Luxusvilla im 19.Wiener Gemeindebezirk hinter sich ließen.

Vater und Sohn verließen fast immer gemeinsam das Haus, da sie praktisch denselben Weg hatten: Julians Privatschule war nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, genauso wie das Bürogebäude seines Vaters, der Eigentümer einer riesigen, auch international vertretenen Elektronikhandelskette war. Sprich: Er war steinreich und konnte seiner Familie jeden erdenkbaren Luxus bieten. Julian war ihm diesbezüglich auch sehr dankbar: Er hatte alles, wovon andere Jungs in seinem Alter nur träumen konnten. Was ihn dennoch störte, war die Tatsache, dass sein Vater seine Familie scheinbar auch als eine Art Geschäft betrachtete. Er zweifelte nicht daran, dass er ihn und seine Mutter liebte – aber alles lief irgendwie steril ab, vertraute Gespräche fanden selten bis gar nicht statt und so beschloss Julian, seinen Eltern vorläufig auch noch nichts von seinem `Schwulsein´ zu erzählen. Lieber verkroch er sich in seinem Zimmer, das ihm Ablenkung von allen Problemen des täglichen Lebens im Übermaß bot.

„Hier, fürs Essen und so“, drückte ihm sein Vater drei 20 Euro Scheine in die Hand, als sie schließlich an Julians Schule angekommen waren. Julian bedankte sich, verabschiedete sich von seinem Vater und lief ins Schulgebäude, wo gleich mal der Kaffee rausmusste.  

Seine Klasse bestand aus lediglich 10 Schülern – da es sich um eine Privatschule handelte, war man praktisch unter sich: Alle stammten aus wohlhabendem Hause und da alle Eltern enorm viel Kohle auf den Tisch legten, war das Bestehen der Matura in dieser Schule somit auch kein großes Problem. So wurde es zumindest gemunkelt …

In der ersten Stunde stand Latein auf dem Stundenplan – ein Fach, das Julian hasste. Also blickte er verträumt aus dem Fenster, ehe er am Tisch vor ihm Martin erspähte, der genauso herumlümmelte wie er. Martin war ein Junge, den er seit langem im Geheimen anschmachtete und in dem Moment begann sein Herz wie wild zu pochen: Durch die gebückte Haltung seines Vordermannes war dessen T-Shirt hinten etwas hochgerutscht und somit hatte Julian freien Blick auf den oberen Ansatz von Martins Arschritze. Sofort war Julian munter – er richtete sich auf, um einen noch besseren Blick zu haben und in den nächsten Minuten ging wieder mal seine Fantasie mit ihm durch, in der er alles Mögliche mit Martin anstellte. Klar, dass sich da in seiner Hose sofort einiges bemerkbar machte.

„Frau Professor?“ hob er die Hand, als er es schließlich nicht mehr länger aushielt. „Darf ich bitte auf die Toilette?“

„Julian, die Stunde hat doch gerade eben erst begonnen, warum bist du nicht vor dem Läuten gegangen? Kannst du es nicht bis zur nächsten Pause aushalten?“, ermahnte ihn die Professorin.

„Nein. Kann ich nicht!“ Konnte er wirklich nicht – er musste unbedingt wichsen, ansonsten hätte er wahrscheinlich in den nächsten Minuten ohne Zutun in seinen Shorts abgespritzt.

„Na dann geh halt!“

Julian eilte aus der Klasse – da sich die Tür zum Gang in der Klasse hinten befand und er in der letzten Reihe saß, bemerkte auch niemand seinen `Zustand´. Kaum am WC angelangt dauerte es nicht lange, ehe er heftig keuchend eine Riesenladung in und um die Muschel verteilte. Er nahm ein Stück Toilettenpapier, reinigte die Muschel notdürftig und stieg schließlich drauf, um das Fenster über sich zu öffnen. Eigentlich rauchte er nicht viel, doch nach einem Orgasmus gab ihm eine Zigarette zumeist noch einen zusätzlichen Kick. Er bemühte sich so gut wie möglich, den Rauch aus dem Fenster zu blasen, wozu er sich in eine eigenartig wirkende, gekrümmte Körperhaltung begeben musste. Plötzlich schreckte er zusammen – jemand anderer hatte die WC-Anlage betreten. Hastig warf Julian seine Zigarette aus dem Fenster, fuchtelte unnötigerweise mit den Händen herum und blieb schließlich auf der Muschel hocken.

„Scheiße, jetzt bin ich am Arsch. Das ist sicher Professor Ebner“, dachte sich Julian, denn dieser Professor hatte es sich zum Ziel gesetzt, allen Rauchern in der Schule den Krieg zu erklären, vor allem wenn sich diese noch dazu die Toilette für ihr ungesundes Tun aussuchten.

„Ich hab doch gesehen, dass er hier rein ist“, flüsterte jemand und jetzt bemerkte Julian, dass es sich um zwei Personen handelte.

„Pst. Idiot!“, unterbrach ihn der andere. „Wenn er hier ist, dann kann er uns auch hören! Also halt’s Maul!“

„Das gefällt mir gar nicht. Wir hätten doch den anderen Plan durchziehen sollen. Den mit dem Anruf“, meinte jetzt wieder der andere.

Es kam keine Antwort. Einer der beiden ging auf die Knie, um unter den geschlossenen Türen in die einzelnen Toiletten zu blicken.

„Verdammt. Wovon reden die?“ wurde es Julian heiß, als er schließlich hören konnte, wie beide Personen die Toilette wieder verließen. Professoren waren das keine, das war ihm sofort klar gewesen, doch wer sollte sonst hinter ihm her spionieren? Julian beschloss noch eine Weile sitzen zu bleiben, ehe er nach etwa zehn Minuten die Tür vorsichtig einen Spalt öffnete und nach draußen lugte. Außer dem Geräusch eines tropfenden Wasserhahns herrschte Totenstille. „Komisch“, dachte Julian, wusch sich die Hände und verließ die Toilette – als ihn plötzlich jemand von hinten packte und ihm einen Lappen auf seinen Mund und seine Nase presste, der nach Chloroform roch.

Noch ehe Julian einen Laut von sich geben konnte, schwanden seine Sinne und rings um ihn herum wurde es dunkel.


„Also, das darf doch nicht wahr sein“, beschwerte sich Frau Rosner, die Lateinlehrerin. „Ist Julian in die Toilette gefallen, oder was? Martin, dürfte ich dich bitten nach unserem Klomuscheltaucher zu sehen?“

Martin stand auf und verließ die Klasse, kam aber schon wenig später achselzuckend zurück in die Klasse. „Nicht da“, meinte er lapidar und pflanzte sich wieder auf seinen Platz, als es im nächsten Moment auch schon zur Pause läutete.

„Also, das lass ich mir nicht bieten“, fluchte Frau Rosner. „Seine Mutter bekommt jetzt aber einen gepfefferten Anruf von mir – der kann was erleben!“

Zum zweiten Mal wurde an diesem Morgen jemand im Haus der Steins unsanft aus den Federn geholt – dieses Mal erwischte es Julians Mutter, die für gewöhnlich lange schlief und daher noch ziemlich schlaftrunken zum Handy griff.

„Ingrid Stein. Wer stört?“ sprach sie ins Telefon. Unerhört, sie schon um neun Uhr zu wecken.

„Ja, hier Rosner. Ich bin die …“

„Lateinprofessorin meines Sohnes. Ich weiß“, unterbrach sie Frau Stein genervt. „Was kann ich für Sie tun?“

„Also dieses Mal hat Julian den Bogen überspannt. Er ist einfach abgehauen und das mitten unter der Stunde. Und dass, obwohl er ohnehin schon so viele Fehlstunden hat. Glauben Sie nicht, dass er die Matura so ohne weiteres geschenkt …“

„Was heißt abgehauen?“ unterbrach Frau Stein sie wieder.

„Na abgehauen eben. Er hat sogar seine Sachen hiergelassen. Er wollte aufs Klo gehen – und dann war er auf einmal weg. Moment, da kommt grade ein Schüler seiner Klasse …“

Frau Stein blieb dran und konnte hören, wie Frau Rosner mit einem Burschen sprach, konnte aber nicht verstehen worum es ging. Ein eigenartiges Gefühl der Unruhe machte sich in ihr breit. Klar, sie wusste dass ihr Sohn öfters mal krank zu Hause blieb, aber einfach von der Schule abzuhauen, das war nicht sein Ding.

„Das ist ja komisch“, meldete sich in dem Moment wieder die Professorin zu Wort. „Christian, ein Schüler aus seiner Klasse hat mir gerade berichtet, dass Julians Jacke und Schuhe noch da sind. Er kann doch nicht …“

Frau Stein sprang aus dem Bett und war mit einem Schlag hellwach. „Frau Rosner“, sprach sie mit bebender Stimme, „Irgendetwas stimmt hier doch nicht. Es schüttet in Strömen und er geht einfach ohne Schuhe nach Hause? Ich komme sofort zu Ihnen in die Schule.“

Auf dem Weg zum Auto verstärkte sich ihr ungutes Gefühl noch, als sie probierte, Julian auf dessen Handy zu erreichen. Doch alles was sie hörte war: Unter dieser Nummer ist kein Teilnehmer bekannt. Die nächste Nummer, die sie mit zittrigen Händen wählte, war die der Polizei, die sie zur Schule bestellte.


„Herr Stein, Telefon“, tupfte eine Sekretärin ihrem Chef nervös auf die Schulter, da dieser es hasste, während der Arbeit gestört zu werden.

„Doch nicht während einer Betriebsversammlung, Fräulein Liebhart!“, meinte dieser genervt.

„Aber es ist Ihre Frau, sie klingt, na ja, sie klingt ziemlich beunruhigt.“

„Ach“, schnaubte Herr Stein, erhob sich aber dennoch von seinem Stuhl. „Entschuldigen Sie mich für einen Moment. Sie wissen ja: Frauen!“

Seine Geschäftspartner, die am Tisch um ihn herumsaßen, quittierten seinen Spruch lachend und waren sichtlich erfreut über eine kleine Kaffeepause.

„Schatz, du weißt doch, dass ich heute eine wichtige Sitzung habe, also warum störst du mich dann?“ sprach Herr Stein schließlich ins Telefon, doch schon im nächsten Moment erkannte er, dass es scheinbar wirklich ein Problem gab, denn seine Frau weinte.

„Julius, bitte komm sofort in Julians Schule. Ich glaube … ich glaube … er ist entführt worden …“, weinte sie und einen Augenblick später hörte er die Stimme eines Mannes.

„Herr Stein? Grüß Gott, hier spricht Inspektor Platzer. Das, was ihre Frau gesagt hat, lässt sich zu Zeit noch nicht bestätigen, aber es wäre dennoch hilfreich, wenn sie sofort herkommen würden. Ich will Sie nicht beunruhigen – vielleicht hat sich Ihr Sohn ja nur einen Scherz erlaubt und taucht wieder auf. Sie wissen ja, wie Jungs in diesem Alter so sind. Um jeden Preis auffallen. Also, wenn Sie es einrichten könnten zu kommen?“

„Ja natürlich“, meinte Herr Stein. „Ich komme!“ Er war wütend, verdammt, wenn das wirklich ein Scherz seines Sohnes sein sollte, dann könne er aber etwas erleben. Alles würde er ihm streichen: das tägliche Taschengeld, den Osterurlaub in Mauritius – alles.

„Franz!“, brüllte er. „Wir fahren zur Schule!“

„Gibt’s Probleme, Chef?“ meinte Franz verlegen, als beide wenig später wieder in Herr Steins Lexus saßen.

„Ach, die gibt’s doch immer mit diesem undankbaren Fratzen. Jetzt ist er von der Schule abgehauen. Wahrscheinlich nur deswegen, weil ich ihm heute nicht erlaubt habe, zu Hause zu bleiben. Na, der kann was erleben. Entschuldigen Sie mich …“

Das Telefon klingelte.

„Ja?“, fuhr er sein Gegenüber am Ende der Leitung immer noch wütend an.

„Herr Stein?“ meldete sich eine seltsame Stimme und Julians Vater beschlich jetzt ebenfalls ein ungutes Gefühl, denn die Stimme war eindeutig verstellt.

„Am Apparat!“, sprach er jetzt und versuchte so ruhig wie möglich zu klingen. „Wer spricht?“

„Das tut nichts zur Sache. Hören Sie gut zu: Wir haben Ihren Sohn in unserer Gewalt. Fahren Sie nach Hause und warten Sie auf weitere Anrufe. Und keine Polizei. Sonst ist Ihr Sohn tot, haben Sie das verstanden?“

Herr Stein schluckte und atmete tief durch.

„Hören Sie, ich befürchte meine Frau hat bereits … also … Tun Sie ihm bitte nichts, ich …“

Dem Pfeifen nach konnte Herr Stein erkennen, dass der mutmaßliche Entführer Julians bereits aufgelegt hatte.

„Na schöne Scheiße“, dachte er sich, als Franz vor der Schule einparkte und bereits einige Polizeiautos herumstanden.

Frau Stein warf sich sofort in die Arme ihres Mannes, der ihr auch sofort vom eben erlebten Anruf berichtete worauf sie zusammenbrach und ins Krankenzimmer der Schule gebracht werden musste.

„Herr Stein? Gestatten Sie, Inspektor Platzer. Bitte erzählen Sie mir jede Einzelheit des Telefonats, es ist sehr wichtig – oft sind es kleine Details, die zur Lösung führen!“

Herr Stein berichtete ihm, dass sich der Entführer wieder melden würde und besorgt fügte er hinzu, dass er ausdrücklich forderte, nicht die Polizei einzuschalten.

„Keine Sorge: Solange sie keine Lösegeldforderungen gestellt haben, passiert ihrem Sohn nichts. Der oder die Entführer rechnen sicher mit uns“, versuchte der Inspektor den nun ebenfalls sichtlich aufgebrachten Herrn Stein zu beruhigen, der sich darüber beschwerte, wie es denn möglich sein könne, dass jemand während des Unterrichts aus der Schule entführt wird!

Danach wandte sich Platzer kurz dem Direktor der Schule zu, den er bat, alle Lehrer und Schüler – bis auf Frau Professor Rosner und Martin, der ihn am Klo ja nicht gefunden hatte – nach Hause zu schicken. Während Herr Stein ins Krankenzimmer eilte, um seiner Frau beizustehen, unterhielt sich Inspektor Platzer mit Martin.

„Also Martin, du solltest also nach Julian sehen. Kannst du dich an irgendetwas erinnern, irgendetwas, dass dir vielleicht aufgefallen ist?“

„Naja, er war halt nicht mehr da – und es roch nach Zigarettenrauch … und Putzmittel oder so was ähnlichem!“

„Weißt du ob Julian raucht?“

„Ja, ab und zu – aber nicht sehr viel. Ich glaube seine Eltern würden es nicht mögen.“

„Weißt du auch welche Marke er bevorzugt?“

„Das wechselt bei ihm meistens – ich glaube zurzeit sind es Camel Lights. Aber so gut kenne ich ihn eigentlich nicht.“

„Ihr seid also keine Freunde?“

„Nö, ich glaube recht viele Freunde hat er auch nicht – er ist manchmal sehr verschlossen, naja, so wie die meisten hier. Etwas entrückt von der normalen Welt, wenn Sie verstehen was ich meine …“

„Ja, ich glaube ich verstehe – ihr seid sehr privilegiert …! Habt alle reiche Eltern, naja, danke jedenfalls für deine Hilfe, du kannst jetzt auch nach Hause gehen“, beendete Inspektor Platzer das Gespräch.

Nachdem er auch noch mit Professor Rosner gesprochen hatte, kam er seinen Kollegen zu Hilfe, die bereits akribisch die Toilette nach etwaigen Spuren absuchten.

„Schon etwas gefunden?“, wollte er von einem wissen.

„Nun, Herr Inspektor: Zur Folge nach dürfte sich Julian in dieser Toilette aufgehalten haben“, er deutete auf das Klo und sprach weiter, „Wir haben, nun ja …“, der Polizist wurde sichtlich verlegen, „wir haben Spermaspuren gefunden, die noch ziemlich frisch waren, wir gehen davon aus, dass sie vom Opfer stammen … Und wir haben das hier gefunden! Er muss sie aus dem Fenster geworfen haben.“ In einer kleinen Plastiktüte hielt er ihm eine Zigarette der Marke Camel Lights entgegen.

„Die Zigarette danach“, grinste er und hielt sie dem Inspektor vors Gesicht.

„Sparen Sie sich ihre blöden Bemerkungen“, meinte Platzer erbost und nahm das Beweisstück an sich. „Er hat vielleicht zwei Züge gemacht, dann muss er überrascht worden sein“, sinnierte Platzer während er die Tüte betrachtete und langsam den Toilettenraum abging.

„Hier! Fußabdrücke. Da in dieser Schule Hausschuhpflicht herrscht, können sie nicht oder eher unwahrscheinlich von einem Schüler stammen“, sagte er in den Raum hinein. Tatsächlich – und dem Regen sei Dank – waren die Abdrücke von zwei unterschiedlichen Schuhpaaren deutlich erkennbar. „Wir haben es also mit zwei Entführern zu tun“, sagte Platzer zu sich selbst.


Langsam kam Julian wieder zu sich. Etwas benommen vom Chloroform öffnete er die Augen und bemerkte im nächsten Moment, dass er eine Augenbinde umhatte – es blieb dunkel um ihn. Er saß auf einem Stuhl mit den Armen am Rücken, die Hände mit einer Plastikhandfessel gefesselt. Seine beiden Beine waren irgendwie an den vorderen Stuhlbeinen festgemacht – kurz: Er konnte sich nicht rühren.

„Verdammt, was geht hier vor?“, dachte er sich. Das letzte, woran er sich erinnern konnte war, dass er sich in der Schule seine Hände gewaschen hatte, ehe es dunkel wurde.

„Hallo?“ fragte er schließlich mit lauter Stimme.

„Na, sieh mal einer an, unser Goldjunge ist endlich wach geworden“, kam eine höhnische Antwort von rechts.

„Wo bin ich? Was willst du von mir?“

„Einige Regeln wollen wir gleich mal klarmachen, Punkt 1: Du stellst keine dämlichen Fragen, du sprichst am besten gar nicht“, kam wieder die bedrohlich wirkende Stimme von rechts. „Punkt 2: Wenn du schreist, erschieße ich dich“, kam die Stimme näher und Julian konnte den Lauf einer Pistole an seinem Hals spüren.

„Lass doch“, kam jetzt eine andere Stimme von links, die eher besorgt klang.

„Halt’s Maul!“, fuhr ihn der andere an. „Ich glaube unser Goldjunge ist nicht so dämlich das nicht zu kapieren, oder?“

Julian hatte verstanden und nickte nur – sprechen durfte er ja nicht.

„Na also, geht doch“, triumphierte einer der beiden. Seine Stimme klang kratzig, so als ob er eine Zigarette nach der anderen rauchen würde. Außerdem roch er ziemlich ekelhaft aus dem Mund – das war Julian aufgefallen, als er sich kurz zu ihm gebeugt und ihm die Mündung seiner Pistole gegen den Hals gedrückt hatte. Er war also entführt worden und komischerweise fiel ihm gerade jetzt ein, dass er sich das manchmal insgeheim sogar gewünscht hatte. Schon als Kind kamen ihm diese Gedanken, oft dann, wenn er wieder mal Blödsinn gemacht hatte und in der Folge von seinen Eltern auf sein Zimmer geschickt wurde. Oder wenn er allein in seinem Zimmer saß und nicht wusste, was er mit sich und seiner Zeit anfangen sollte. Oder einfach um zu sehen, wie seine Eltern reagieren würden. Ob sie zahlen würden, ihn vermissen würden? Dann würde er wissen, ob sie ihn wirklich liebten oder ihn nur als einen Gegenstand betrachteten. Als ihren Privatbesitz.

„Moment“, schoss es ihm da ein. „Warum `würden´?“ Die Frage die er sich stellte, musste er  jetzt umformulieren: Ob sie bezahlen werden? Auf alle Fälle realisierte er in diesem Moment noch nicht den Ernst der Lage.

„Also, ich werde dann mal bei den reichen Ärschen anrufen und zur Sicherheit mal eine Runde drehen. Mal sehen, wie es vor ihrem Haus so aussieht – und ich hoffe für dich, dass keine Bullen aufgekreuzt sind“, wandte sich der Raucher wieder bedrohlich an Julian.

„Du passt auf, dass er keinen Blödsinn macht. Erschieß ihn wenn er schreit“, wandte er sich an den scheinbar jüngeren. Und ging.

Danach wurde es ruhig. Julian konnte den Atem des Jüngeren hören, während er sich bemühte, irgendwie einen Spalt zu schaffen um etwas erkennen zu können. Doch trotz mimischer Verrenkungen bewegte sich die Augenbinde keinen Millimeter. Aus der Ferne konnte er Autos, sowie einen bellenden Hund hören. Eine Uhr tickte gleichmäßig vor sich hin und er bildete sich sogar ein, den Holzboden knarren zu hören. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war und wo sie ihn hingebracht hatten. War er noch in Wien oder haben sie ihn aufs Land gebracht? Dem Verkehr nach könnte es Wien sein, aber so sicher war er sich da nicht. Er drehte seinen Kopf auf die linke Seite, wo er den Jüngeren der beiden vermutete. Seinem Atem nach zu vernehmen kam er Julian ziemlich nervös vor.

„Kannst du mich etwa sehen“, fuhr dieser erschrocken auf, als Julian etwas länger in seine Richtung `schaute´. Er schüttelte den Kopf.

„Keine Sorge – wenn deine Alten zahlen, dann passiert dir nichts. Auch wenn mein Kumpel das sagt, vertrau mir!“

Julian sagte kein Wort und nickte nur. Einem Entführer vertrauen, der machte wohl Scherze. „Hast du mich verstanden? Du kannst mir vertrauen!“ Der Typ schien nervöser zu sein als er selbst. Das konnte Julian an seiner Stimme erkennen, die eigentlich ein schönes Timbre hatte, das tatsächlich beruhigend wirkte. Und sie klang außerdem sehr jung – der Typ dürfte höchstens 20 sein, aber vielleicht irrte sich da Julian ja auch.

„Wie soll ich dir vertrauen? Einem Entführer!“, sagte Julian schließlich.

„Ich meinte das auch nur in Bezug auf das Erschießen“, gab er zur Antwort.

„Wie viel verlangt Ihr für mich?“ wollte Julian wissen.


In der Zwischenzeit hatte sich das Haus der Steins in eine regelrechte Festung verwandelt – nach außen hin aber wirkte alles normal und ruhig. Inspektor Platzer und sein Kollege Riedl waren in Zivil unterwegs, somit fielen ihre Autos auch nicht weiter auf.

Julians Eltern saßen besorgt auf der Couch im riesigen Wohnzimmer, Platzer saß ihnen gegenüber, während ein Polizeitechniker die Handys der Steins an einen Peilsender anschloss. Herr Stein verfolgte dies interessiert – wahrscheinlich aber auch nur, um sich abzulenken. Im ersten Stock des Hauses hatte sich Inspektor Riedl verschanzt, von wo aus er die Straße beobachten konnte. Seine Aufgabe war es, die Autonummern vorbeifahrender Autos zu notieren.

„Bringt das was?“, wollte er von Platzer wissen und deutete auf den Peilsender.

„Wahrscheinlich nicht, außer die Entführer sind dämlich. Sie werden kaum vom eigenen Handy anrufen, eher von öffentlichen Telefonen. Das kann man dann zurückverfolgen – man weiß dann zumindest ob sie in Wien sind, oder außerhalb der Stadt, mehr aber auch nicht. Mehr erhoffe ich mir vom Kollegen im ersten Stock – viele Entführer wollen wissen, was im Haus des Opfers vorgeht. Vielleicht machen die Täter den Fehler und fahren ein paar Mal zu viel am Haus vorbei.“

„Dieses Warten macht mich verrückt. Er hat gesagt er ruft an!“, fuhr Herr Stein fort.

„Das wird er, seien Sie unbesorgt“, meldete sich nun Herr Valentin, der Techniker, zu Wort, während sich Frau Stein ihre Nase putze und nach wie vor zitterte – trotz des Beruhigungsmittels, das man ihr in der Schule verabreicht hatte.

„Haben wir überhaupt eine Chance, ich meine, wie denken Sie wird das ganze ausgehen?“ fragte Julius Stein.

„Nun ich will ehrlich zu Ihnen sein: Wien ist eine sichere Stadt und der letzte Fall von Entführung mit Lösegeldforderung liegt Jahrzehnte zurück. Alles was wir im Moment tun können, ist abzuwarten. Abzuwarten auf die Forderungen, abzuwa…“

Das Telefon klingelte und im selben Moment verstummte Platzer, nicht jedoch ohne dem Techniker ein Handzeichen zu geben. „Halten Sie ihn etwas hin aber übertreiben Sie es nicht“, flüsterte Platzer und reichte Herrn Stein sein Handy.

„Stein. Wer spricht?“

„Sie wissen genau wer hier spricht und näher kennenlernen wollen Sie mich sicher nicht. Also: Wir haben Ihren Sohn und den sehen Sie auch ganz bestimmt wieder, wenn Sie nach unseren Regeln spielen. Wir fordern fünf Millionen Euro – oder Julian stirbt. Sie haben bis morgen Abend Zeit, das Geld aufzutreiben – nähere Anweisungen folgen. Verstanden?“

„Fünf Millionen? Soviel hab ich nicht!“, antwortete Herr Stein entsetzt.

„Sie machen wohl Scherze?“, kam als Antwort. „Ihre Firma macht Gewinne in Milliardenhöhe und sie als Chef haben keine fünf Mille? Für wie blöd halten Sie mich?“

„Ich meinte nur, dass bis morgen Abend die Zeit sehr knapp bemessen ist. Man kommt nicht so schnell an so einen Haufen Bargeld ran.“

„Bis morgen sagte ich …“

„Wie geht es Julian“, schrie Herr Stein ins Telefon und erntete dafür einen hochgereckten Daumen von Inspektor Platzer, der gleich darauf nervös zum Techniker blickte, der ihm wiederum zu verstehen gab, dass er noch etwas Zeit benötige.

Die Zeit bekam er nicht, der Mann mit der verrauchten Stimme hatte bereits aufgelegt.

„Leider zu kurz, aber wir können zumindest die Aufnahme analysieren. Nach Nebengeräuschen oder dergleichen“, meinte der Techniker tröstend.

„Er verlangt also fünf Millionen?“, wollte Frau Stein nun wissen.

„Würden Sie die auftreiben können?“, fragte Platzer.

„Ja, natürlich. Und ich werde auch zahlen. Nur, was ist, wenn sie bluffen …? Wenn Julian bereits tot ist?“ zitterte Herr Stein. Ihm wurde bewusst, dass er das erste Mal in seinem Leben wirklich Angst um seinen Sohn hatte.

„Glauben Sie mir: Es geht ihm bestimmt gut. Vorerst fühlen sich die Entführer sicher, ich nehme an, Sie wissen noch nicht mal von uns.“ Er deutete auf sich und seinen Kollegen. „Für Sie läuft alles nach Plan, welchen Grund hätten sie also ihm irgendetwas anzutun?“

Die Steins zeigten sich tatsächlich etwas beruhigt.

„Ich brauch einen Schluck Scotch“, meinte Herr Stein und begab sich zur Hausbar. „Auch einen?“ meinte er zu Platzer, der dankend abwinkte. „Bin im Dienst, aber machen Sie ruhig.“

„Frau Stein“, wandte er sich nun wieder Julians Mutter zu, „Darf ich um Ihre Erlaubnis bitten, Julians Computer zu untersuchen? Unser Techniker, Herr Valentin kann sich darum kümmern.“

„Wozu ist das notwendig?“, wollte sie wissen.

„Nun, vielleicht haben die Entführer schon länger mit Julian Kontakt aufgenommen, in diversen Chaträumen oder so. Da könnte es vielleicht Spuren geben.“

Frau Stein nickte und gab damit ihr Einverständnis – danach führte sie Herr Valentin in Julians Zimmer, dass auch Inspektor Platzer sehen wollte.

„Blicken Sie sich ruhig etwas um“, meinte sie.

„Donnerwetter, so wäre ich auch gerne aufgewachsen“, zollte Platzer Respekt, indem er sich auf die Unterlippe biss. „Julian muss ja ein regelrechtes Glückskind sein!“

Frau Stein seufzte, was Platzer sofort bemerkte. „Oder nicht?“

„Er genießt das alles hier, natürlich“, begann Julians Mutter zu sprechen. „Aber gerade in letzter Zeit verbringt er viel zu viel Zeit in seinem Zimmer. Irgendetwas scheint ihn zu belasten, aber er spricht nie über irgendwas.“

„Vielleicht sollten Sie mal mit ihm sprechen“, meinte Platzer ohne sie anzusehen – sein Blick streifte die Wände entlang. Einige Urkunden  und Medaillen hingen in einer Ecke, aus der Zeit, als Julian einen Judo-Kurs besuchte.

„Da muss er acht oder neun gewesen sein“, warf Frau Stein ein. „Er hatte als Kind viele Interessen, die allerdings nie von langer Dauer waren.“

Über Julians Bett hingen zwei Filmplakate: eines von `Kill Bill´, eines vom Film `Inglourious Bastards´. Sonst war sein Zimmer relativ schmucklos, mal abgesehen vom teuren Krempel, der es zierte.

„Ist das ein Freund von ihm?“, wollte der Inspektor wissen, als er das Bild entdeckte, dass Julian zusammen mit Robert Pattinson zeigte.

„Nein“, lachte Frau Stein und hatte sofort Schuldgefühle deswegen. Wie konnte sie nur lachen, wo ihr Sohn gerade Gott weiß wo war. „Das ist bloß ein Filmstar, den er bei einer Filmpremiere in London getroffen hat.“

„Sie brauchen sich nicht selbst zu geißeln, nur weil Sie lachen“, hatte Platzer ihren inneren Konflikt bemerkt.

„Es wird alles gut gehen, vertrauen Sie mir“, beruhigte er sie mit tiefer Stimme.

„Haben Sie noch ein anderes Bild von Julian, das ich vielleicht mitnehmen könnte?“

„Ja warten Sie …“ Frau Stein kramte in einer Schreibtischlade Julians herum und zog schließlich ein aktuelles Schulfoto heraus, das auch Porträts ihres Sohnes beinhaltete.

„Hübscher Kerl“, meinte Platzer knapp. Julian hatte grau-grüne Augen, für seine fast 18 Jahre noch eine ziemlich kindliche Stupsnase, ein dunkelblonder Mittelscheitel hing ihm über die Stirn und ein strahlend weißes Lächeln zierte sein Gesicht. Am Kinn konnte man neben einem Grübchen ein paar vereinzelte Barthaare erkennen, zum Rasieren reichte es wohl aber noch nicht.

Platzer steckte sich das Foto in die Innentasche seines Sakkos und verließ zusammen mit Frau Stein Julians Zimmer, während Herr Valentin sämtliche Dateien und Internetverläufe auf Julians PC durchforstete.

Auch Herr Stein war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen – so hatte er mit seinem Bankberater gesprochen, der am frühen Abend vorbeischauen sollte. „Er meinte, dass es kein Problem ist an das Geld ranzukommen. Und er ist derselben Ansicht wie Sie, Inspektor: dass es nichts bringt durchzudrehen, dass es besser ist abzuwarten.“

„Ich glaub ich nehme jetzt doch einen Scotch“, lächelte Platzer und setzte sich.


Rings um Julian war es weiterhin dunkel. Nach der kurzen Unterhaltung saßen sich Täter und Opfer gegenüber, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Das Klingeln des Telefons zerriss die Stille.

Der Junge – wie ihn Julian bezeichnete – hob ab.

„Ja?“, fragte er zögernd.

„Hey, das Rennen ist so gut wie gelaufen. Ich bin mir sicher er zahlt und die Polizei dürfte auch von nichts wissen. Ich bin dreimal am Haus vorbei – dort herrscht tote Hose, die kacken sich an bis übers Kreuz sag ich dir. Morgen Abend, morgen Abend sind wir reich. Ich besorg noch etwas zu essen – bin in 20 Minuten da.“ Es war so dermaßen still, dass Julian das meiste gut mithören konnte. Aber durfte das wahr sein: Seine Eltern hatten nicht einmal die Polizei verständigt? Und noch eines bereitete ihm Probleme: Er musste seit über zwei Stunden pinkeln und länger würde er es nicht mehr zurückhalten können.

„Hey du!“, beschloss er den Jungen anzureden.

„Was gibt’s?“

„Ich weiß, dass das jetzt vielleicht ungelegen kommt, aber ich muss dringend aufs Klo. Länger als bis jetzt kann ich es nicht mehr zurückhalten“, schnaufte Julian angestrengt. Er spürte wie der Junge sofort wieder nervös wurde.

„Warte bis Lu … bis mein Kumpel wieder da ist. Er wird entscheiden, was zu tun ist!“

Lu … Fast hätte er den Namen seines Komplizen verraten.

„Verdammt, ich piss mir in die Hosen“, schrie Julian jetzt, denn schon langsam wurde es ungemütlich – seine Blase drückte, sein Arsch schmerzte und er hatte das Gefühl, als wären beide Beine eingeschlafen.

„Gut …“, zeigte sich der Junge scheinbar eingeschüchtert, „Aber wenn du schreist oder abhauen willst schieß ich dir eine Kugel in den Rücken, ok?“

„Mann, ich muss doch nur aufs Klo“, jammerte Julian, als er merkte, dass der Junge bereits dabei war, ihn an den Füssen loszumachen. Endlich – er konnte endlich aufstehen, doch da seine Beine wirklich eingeschlafen waren, kippte er kurz weg, ehe ihn der Junge auffing. Julian landete genau in seinen Armen, die kräftig zu sein schienen. Außerdem roch er nach Calvin Klein Escape, ein Parfüm das auch Julian manchmal benutzte. Der Junge richtete ihn wieder auf und schob ihn – dicht hinter ihm gehend – vor sich her. Julians Beine kribbelten vom Blut, das langsam wieder in seine Venen schoss und ihm das Gehen erschwerte.

„Achtung, jetzt kommen drei Stufen, gleich haben wir es geschafft!“, ermunterte ihn der Junge auf nicht unfreundliche Art und Weise. Der Teil des Hauses, durch den er ihn führte roch ziemlich neu verputzt und dem Hall der Stimme nach zu schließen war es auch noch nicht eingerichtet. Befand sich Julian in einem noch nicht fertigen Haus? Schließlich schob ihn der Junge vor die Klomuschel und blieb hinter ihm stehen.

„Was ist! Mach, bevor mein Kumpel zurückkommt!“ Irgendwie befanden sich beide nun in einer komischen Situation, die fast Anlass zum Lachen gegeben hätte, wären beide nicht in solch einer angespannten Lage gewesen.

„Haha und wie bitte soll ich pinkeln, mit gefesselten Händen?“, erklärte ihm Julian. „Du wirst sie mir losschneiden müssen!“

„Das geht nicht, absolut nicht, tut mir Leid!“, meinte der Kerl hinter ihm.

Julian schluckte, atmete tief durch und sagte: „Dann wirst du ihn mir verdammt nochmal rausholen müssen. Ich verlier gleich den Verstand!“

Scheinbar war es die einzige Möglichkeit, auch wenn sich Julian nicht sicher war, ob er dann auch wirklich könne. Er hatte schon Probleme zu pinkeln, wenn jemand am Pissoir neben ihm stand. Wie erst sollte er dann können, wenn ein anderer Typ seinen Schwanz hält?

Der Junge war auch sichtlich nervös geworden – auch wenn ihn der Gedanke daran verlockend vorkam. Der Goldjunge, wie ihn sein Kumpel nannte, gefiel ihm nämlich außerordentlich gut.

„Jetzt mach schon“, bettelte Julian.

„Ich hab’s. Ich zieh dir die Hose runter und du setzt dich einfach!“ Gesagt, getan. Julian spürte die zittrigen Finger des Jungen, der an seinem Gürtel herum nestelte. Eine halbe Ewigkeit später – so fühlte es sich zumindest für Julian an – hatte er den Gürtel endlich aufgebracht. Mit einem Ruck schob er seine Jeans und seine Boxershorts runter. Der Junge merkte Julian eine leichte Erregung an, während es ihm genauso ging. Dennoch stand er auf und drückte ihn sanft in eine sitzende Position.

„Ah“, zuckte Julian kurz auf, als er die kalte Muschel unter seinem Hintern spürte – die Schüssel hatte noch keine Klobrille.

„Na toll“, meinte er, „wenn ich einen Ausschlag am Arsch bekomme, verklage ich dich!“ Dann endlich konnte er seine Blase entleeren – welch wohltuendes Gefühl das doch war. „Fertig! Hilf mir wieder auf!“  Es folgte dasselbe Prozedere wie kurz zuvor – nur dass der Junge dieses Mal eine bessere Möglichkeit geboten bekam, Julians Lümmel zu betrachten. Zu lange konnte er ihn aber auch nicht bestaunen, sonst wäre der Goldjunge sicher misstrauisch geworden – also zog er ihm die Hosen wieder rauf. „Schade“, dachten in dem Moment beide.

Kurz nachdem ihn der Junge wieder am Stuhl festgebunden hatte, kam auch Lu – diesen Namen hatte sich Julian für ihn ausgedacht, obwohl er viel zu niedlich für ihn klang – schon zur Tür herein.

„Na, hat unser Goldjunge schön sein Maul gehalten?“, wollte er sofort wissen.

„Absolut kein Problem!“, log der Junge und verschwieg die Situation von vorhin. „Na, jedenfalls zahlen seine Alten“, sagte Lu nochmals, „Hier Essen vom Chinamann. Wenn du fertig bist, füttere ihn da!“ Lu öffnete seine Box, griff sich zwei Finger voll Currysauce und verschmierte sie lachend in Julians Gesicht, ehe er im Nebenzimmer verschwand, dem Hören nach war es dasselbe Zimmer, durch das man auch zum Klo gelangte.

„Arsch!“ flüsterte Julian extrem leise, denn auch Türen gab es in dem Haus noch nicht, doch Lu schmatzte und rülpste vor sich hin, dass er unmöglich gehört haben konnte.

Der Junge stand plötzlich wieder vor ihm, leise war er aufgestanden und auf ihn zugegangen – lediglich der Duft seines Parfüms hatte ihn verraten.

„Mund auf!“, sagte er mit ähnlich sanfter Stimme wie zuvor. Kaum hatte Julian seinen Mund offen, spürte er auch schon gewürztes Hühnerfleisch in seinem Mund – erst jetzt merkte er, welchen Hunger er bereits hatte. Er schluckte und schon schob ihm der Junge den nächsten Löffel in den Mund. Es war eine ähnliche Situation wie zuvor: Vollkommen der Realität widersprechend. Julian war entführt worden, doch in dem Moment war ihm das gar nicht wirklich bewusst. Im Gegenteil: Er wurde gefüttert und es fühlte sich für ihn so an, als würde sich das erste Mal im Leben ein anderer Mensch um ihn kümmern, sich mit ihm abgeben.

Und obwohl es nur billiger Chinafraß war, genoss er jeden Bissen die ihm der Junge in den Mund führte.

„Und eine Litschi zum Nachtisch“, meinte dieser schließlich, nahm die Frucht zwischen Daumen und Zeigefinger und führte sie ihm in den Mund. Verdammt, machte der das absichtlich? Kurz fühlte Julian die Finger an seinen Lippen, sie fühlten sich zart und sauber an und brachten ihn fast um den Verstand. In seinem Becken brodelte es und der Junge musste wohl sehen können, dass er mit dieser Aktion eine Mordserektion bei Julian auslöste.

„So, ruh dich mal etwas aus“, durchbrach just in diesem Moment Lu die knisternde Atmosphäre, so als hätte er den Stecker rausgezogen. Der Junge ging ins Nebenzimmer und Julian schien es, als hätte er einen Seufzer vernommen. Vor ihm saß nun wieder Lu, der nach wie vor übel roch und jegliche sexuelle Fantasie in Julians Gedanken ausschaltete.

Allein die Anwesenheit dieses Typen machte ihn nervös und er konnte förmlich spüren, wie er ihn anstarrte. Der kurzen Euphorie von vorhin war jetzt wieder die Furcht gefolgt – ihm war klar, dass er sich mit diesem Lu nicht anlegen bräuchte, also hielt er seinen Mund. Der volle Bauch bewirkte überdies hinaus, dass er kurz weg pennte. Doch als sein Kopf kurz zur Seite kippte, durchzuckte ein stechender Schmerz seine rechte Wange.

„Kannst du auch nicht schlafen?“, verhöhnte ihn Lu lachend. Er hatte ihm einfach so eine schallende Ohrfeige verpasst. Ein paar Schmerz- und Wuttränen lösten sich aus Julians Augen, fanden aber nicht ihren Weg ins Freie sondern verirrten sich irgendwo hinter der Augenbinde. Er wollte weg von ihm, weg von hier. Dieser Gangster – so schoss es ihm plötzlich ein – würde seinen Plan auf alle Fälle in die Tat umsetzen.

In der Zwischenzeit war der Bankberater von Julius Stein in dessen Haus angekommen, wo sie sich gleich in Herr Steins Arbeitszimmer zurückzogen, um über das Finanzielle zu reden. Herr Valentin hatte zu dem Zeitpunkt seine Arbeit an Julians Computer beendet und wollte kurz mit Inspektor Platzer alleine sprechen – beide flüsterten geheimnisvoll miteinander, was wiederum Frau Stein neugierig machte. Danach setzte sich Herr Valentin wieder zu seinem Laptop um mögliche Anrufe der Entführer abzufangen und um nochmals das Telefonat vom Nachmittag abzuhören. Währenddessen nahm Platzer wieder auf der Couch neben Frau Stein Platz und sah sie milde lächelnd an.

„Und, hat ihr Kollege irgendwas herausgefunden“, wollte sie wissen.

Platzer schüttelte den Kopf: „Zumindest nichts, was mit der Entführung zu tun hat. Frau Stein, wie gut kennen Sie Ihren Sohn?“

„Nun ja, so gut man als Mutter halt ihren Sohn kennt. In letzter Zeit spricht er generell wenig – weder mit mir noch mit meinem Mann. Sie kennen das ja – in dem Alter ist es Kindern peinlich, mit ihren Eltern zu sprechen. Haben Sie eigentlich Kinder?“

Inspektor Platzer nickte, nahm seine Brieftasche aus dem Sakko und fingerte ein Bild heraus, dass einen etwa 17-jährigen Jungen zeigte. Das Bild schien allerdings schon etwas älter zu sein – der Inspektor selbst dürfte ja auch bereits kurz vor der Pensionierung stehen.

„Glauben Sie mir, Sie sollten mit ihm reden. Machen Sie nicht denselben Fehler, den ich gemacht habe. Das auf dem Bild ist mein Sohn Thomas – er war ein nettes Kind und später ein Teenager der nie Probleme gemacht hat. Obwohl er selbst leider genug davon hatte“, wurde Platzer plötzlich ernst.

„Was ist passiert?“, fragte Frau Stein einfühlsam.

„Eines Tages, ich glaube er war 16, beichtete er mir und  meiner Frau, dass er schwul wäre. Es war ein Schock, verstehen Sie? Mein Sohn schwul! Wenn das rauskommt, wenn das meine Kollegen erfahren! Das war es, woran ich als erstes dachte, nicht daran, wie es ihm damit geht. Ich habe ihn angeschrien – und kaum mehr mit ihm geredet. Es muss ihn…“, Platzer unterbrach kurz seine Erzählung um tief durchzuatmen, „Es muss ihn irrsinnig verletzt haben. Er wurde immer verschlossener und ich… ich habe nichts getan, nicht mit ihm gesprochen. Er war zu uns gekommen, weil er uns vertraute und ich habe das kaputt gemacht. Ich habe ihn kaputt gemacht…“

Herr Platzer nahm sein Foto wieder an sich und betrachtete es mit einem gequälten Lächeln. „Er hat sich umgebracht als er 18 war“, sagte er schließlich und stieß einen tiefen  Seufzer aus. „Das alles ist bereits 15 Jahre her, aber es vergeht kein Tag, an dem ich mir wünsche, dass ich mit ihm gesprochen, dass ich ihn unterstützt hätte. Danach ging jedenfalls alles den Bach runter – meine Frau machte mir Vorwürfe und drei Jahre nach Thomas´ Tod hat sie mich dann verlassen.“

„Das tut mir sehr leid“, meinte Frau Stein ehrlich. „Das muss alles sehr hart gewesen sein, aber: Warum erzählen Sie mir das?“

Inspektor Platzer überlegte kurz, sprach aber dann doch weiter: „Es geht mich vielleicht ja nichts an, aber unter Umständen kann ich zumindest ein bisschen was wieder gut machen, was ich bei Thomas verabsäumt habe. Herr Valentin hat mir…“ Wieder hielt er inne. War es richtig Frau Stein zu erzählen, dass sein Kollege rausgefunden hatte, welche Seiten Julian im Internet besuchte? Würde er damit nicht Julian Unrecht tun, ihn quasi zwangsouten? Allerdings, war nicht gerade das das Problem, dass er mit seinem eigenen Sohn hatte, ein Problem, das er einfach ignorierte?

„Moment“, kam ihm Frau Stein zuvor, „Wollen Sie mir damit vielleicht sagen, mein Sohn wäre schwul?“

Platzer nickte wieder. „Die Seiten die er im Internet besucht erwecken zumindest den Anschein. Glauben Sie mir, nichts liegt mir mehr fern, als mich in Ihre Familienangelegenheiten einzumischen, aber als mir Herr Valentin davon berichtete…“

„Ich habe den Verdacht schon seit längerem“, unterbrach ihn Frau Stein abermals. „Das er manchen Jungs auf der Straße nachblickt ist mir nicht entgangen, genau so wenig, dass er rot anläuft und zusammenzuckt, wenn über Schwule gesprochen wird, sei es im Fernsehen oder wenn mein Mann Witze drüber macht. Oh Gott, Julius … Er würde es nicht verstehen, dass sein Sohn … Und jetzt gibt’s vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, mit ihm …“

Frau Stein brach in Tränen aus – da eilte auch schon ihr Mann herbei, um sie tröstend in die Arme zu nehmen.

„Wir finden Ihren Sohn“, beruhigte Herr Platzer die beiden. „Und wenn er wieder da ist, dann reden Sie mit ihm. Versprechen Sie mir das!“

Herr Stein blickte den Inspektor fragend an, doch dieser hatte sich schon zu seinem Kollegen umgedreht, der ihn hektisch zu sich winkte.

„Chef, ich glaube ich habe da was“, meinte Herr Valentin erfreut und hielt Platzer seinen Kopfhörer entgegen, den dieser augenblicklich aufsetzte. Es war nochmals das Telefonat, dass einer der beiden Entführer mit Herr Stein führte und auch dem Inspektor huschte ein Lächeln über die Lippen.

„Was?“, wollte Herr Stein sofort wissen.

„Das Telefonat wurde in Wien geführt, von einer öffentlichen Telefonzelle, die sich in der Nähe des Westbahnhofs befinden muss. Man hört ganz deutlich die Zugansage: Zug nach Innsbruck fährt ab. Nun, Züge nach Innsbruck fahren vom Westbahnhof ab! Die Entführer müssen sich also dort in der Nähe aufhalten! Wir schicken sofort jemanden hin! Wie lief übrigens die Sache mit ihrem Bankberater?“

„Kein Problem. Morgen früh ist das Geld da!“, antwortete Herr Stein. „Gut dann können wir in Ruhe abwarten, um eine Strategie zu entwickeln!“

„Chef!“, rief in dem Moment sein Kollege Riedl, der die Aufgabe hatte, die Kennzeichen der am Haus vorbeifahrenden Autos zu notieren. „Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber ein grüner Peugeot 308 mit dem Kennzeichen W-349UI ist heute dreimal am Haus vorbeigefahren, noch dazu in äußerst langsamem Tempo.“

Platzer schlug die Hände zusammen. „Und wie ich Sie kenne Herr Kollege, haben Sie auch sicher Fotos von diesem Wagen gemacht, nicht wahr?“

Riedl tippte nur triumphierend auf seine Kamera, die er um den Hals hängen hatte. „Ich kümmere mich sofort um die Entwicklung und lasse sofort das Kennzeichen überprüfen!“, meinte er und verschwand nach draußen.

„Das sind gute Nachrichten, verdammt gute Nachrichten“, meinte Platzer und strahlte die Steins an.

„Julius kann ich dich kurz sprechen, in deinem Arbeitszimmer?“, fragte ihn in dem Moment seine Frau Ingrid.

„Natürlich, was gibt´s?“

„Komm mit, ich muss dir was über Julian erzählen!“

Als Frau Stein ihren Mann dann allerdings hilflos in seinem Lederstuhl sitzen sah, beschloss sie, ihm vorerst noch nichts von ihrem Gespräch mit Platzer zu erzählen – sie wollte Julius nicht noch mehr aufregen.

„Julian schafft das, ich weiß es“, sagte sie nur und nahm ihren Mann in ihre Arme.


Julian erwachte abermals aus einem kurzen Schlaf – dieses Mal hatte ihn Lu nicht ins Gesicht geschlagen. Er wusste nicht mal, ob er gerade in der Nähe war. Er hörte zwar ein ruhiges Atmen, konnte aber nicht ausmachen, ob es sich dabei um den Jungen oder um Lu handelte. Abgesehen davon hatte er mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Um ihn herum war es stockfinster: War es noch hell draußen oder bereits Nacht? Wie sich wohl ein Blinder fühlt, der dieses Gefühl ständig hat, dachte er sich. Plötzlich wurde ihm wieder Angst und Bange: War überhaupt jemand im Raum oder hörte er nur seinen eigenen Atem? Er spürte wie die Panik in ihm hoch kroch, er begann zu zittern und fing schließlich an, sinnlose Laute zu schreien.

Sofort spürte er eine Hand, die ihm den Mund zuhielt. Es war der Junge.

„Pst! Ruhig, mein Kumpel schläft nebenan, wenn er dich hört, dreht er durch!“ versuchte er ihn zu beruhigen. Aber Julian konnte sich nicht beruhigen – sein ganzer Körper zitterte und nach wie vor verließen diese Laute seinen Mund, es schien, als habe er die Kontrolle über seinen Körper verloren.

„Bitte, beruhige dich“, flehte der Junge, dem man anmerkte, wie verzweifelt er war. Zack! Er gab ihm eine Ohrfeige – in Filmen wirkte dass ja immer und tatsächlich: Es funktionierte! Julian beruhigte sich und saß still da, die Augenbinde um die Augen, nur mehr leicht zitternd.

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht schlagen! Ehrlich, ich wollte dir nur helfen – hätte mein Kumpel dich gehört …“

„Mir helfen?“ meinte Julian traurig. „Dann lass mich doch frei, wenn du mir helfen willst! Bitte!“ Er hatte genug – nichts kam ihm mehr romantisch vor an dieser Entführungssache, wie er es sich am Nachmittag noch eingeredet hatte. Er hatte Angst und wollte einfach nur nach Hause.

„Das geht nicht, er würde mich umbringen!“, meinte der Junge in dem Moment, genau so leise sprechend wie Julian.

„Aber ich kann spüren, dass du nicht so bist wie er. Du kannst doch auch weg – ich würde dich nicht verraten, ehrlich nicht. Ich weiß ja noch nicht mal, wie du überhaupt aussiehst. Du kannst mich irgendwo hinbringen und mich einfach aussetzen – wie einen Hund, ja?“

Am heftigen Atem seines Gegenübers konnte Julian erkennen, dass der Junge ernsthaft überfordert war und vielleicht wirklich über das gerade Gehörte nachdachte.

„Glaub mir, es geht nicht“, presste er mit Mühe hervor und man konnte hören, dass er nur mühsam das Heulen unterdrückte. Im nächsten Moment spürte Julian die Hand des Jungen in seinem Gesicht, die ihn sanft streichelte.

„Aber vertraue mir, ich lasse nicht zu, dass er dir etwas antut, niemals!“, versprach er. Die Worte klangen wirklich ehrlich gemeint und lösten ein paar Tränen bei Julian aus. Der Junge schien es zu merken, denn plötzlich schob er seinen Daumen unter die Binde, um sie ihm wegzuwischen. Ganz kurz nutzte Julian diese Gelegenheit um an sich herunter zu blicken – es war tatsächlich bereits Nacht oder zumindest Abend, denn im Zimmer war es dunkel. Der Daumen des Junges fuhr ihm sanft übers Augenlid und war im nächsten Moment wieder verschwunden – danach schnürte er ihm das Augenband wieder etwas fester zusammen, trotzdem darum bemüht, Julian ja nicht weh zu tun. Julian war wieder hin und weg: Obwohl er in einer absolut beschissenen Lage war, war dies eine der zärtlichsten Gesten, die er je erlebt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, ob seine Mutter oder irgendein anderer Mensch ihm mal Tränen aus den Augen gewischt hatte.

„Danke!“, meinte er knapp – er hatte sich nun wieder ganz beruhigt.

„Wie spät ist es?“ meinte er leise.

„Kurz vor acht. Willst du schlafen?“

Julian zuckte mit den Achseln.

„Oder musst du wieder aufs Klo?“, fragte der Junge schmunzelnd, der die Stimmung wieder etwas heben wollte. Julian entfuhr tatsächlich auch ein kurzer Lacher.

„Einstweilen nicht, denke ich. Aber ich habe Durst!“

Der Junge sprang auf und Julian konnte hören, wie er etwas Wasser in ein Glas fühlte. Außerdem konnte er nun ein Schnarchen aus dem Nebenraum hören – Lu. Erleichtert atmete er auf, als er auch schon ein Glas an seinen Lippen spürte.

„Bereit?“, fragte der Junge, der seine andere Hand liebevoll unter Julians Kinn hielt. Julian trank das Glas in wenigen Zügen leer.

„Danke!“, sagte er abermals.

„Wenn du schlafen willst, dann sag es mir. Wir haben eine Matratze hier“, deutete der Junge in ein Eck, nahm den Arm aber gleich wieder runter, da es Julian ja sowieso nicht sehen konnte „Ist vielleicht nicht wie bei dir zu Hause, aber besser als im Sitzen zu schlafen ist es allemal.“

„Später vielleicht – ich habe gerade etwas geschlafen. Aber ich würde gerne ein paar Schritte gehen, mir tut alles weh. Nur ein paar Schritte hier im Zimmer – du kannst mich ja führen. Ich verspreche ich werde nicht weglaufen.“

Wie am Nachmittag spürte Julian sofort den Jungen, der seine Beine vom Sessel befreite und ihn im nächsten Moment hochhob.

„Alles klar?“, fragte er liebevoll und hielt ihn an seinen Armen fest.

„Ja, führ mich herum. Zeig mir das Zimmer“, witzelte Julian.

Er konnte ihn ganz dicht hinter ihm spüren, er schien ein muskulöser Kerl zu sein und manchmal blieb Julian abrupt stehen, um ihn noch näher zu spüren, oft so nah, dass er seinen Atem in seinem Nacken spüren konnte.

„Wie alt bist du?“ wollte er in diesem Moment wissen. „Du klingst noch sehr jung!“

Der Junge atmete wieder tief durch – dieser Julian raubte ihm den Verstand mit seiner Fragerei und doch, irgendwie wollte er es ihm sagen, da er spüren konnte, dass er ihm scheinbar wirklich vertraute.

„Ich bin 21“, verriet er ihm schließlich und Julian war überrascht darüber, eine Antwort bekommen zu haben.

„Und wie heißt du? Nur deinen Vornamen…“, ging er jetzt aufs Ganze.

„Das kann ich…“

„Bitte!!“

„Chris. Ich heiße Chris“, flüsterte er ihm ganz leise ins Ohr, „Und mehr verrate ich dir sicher nicht!“

„Hallo Chris, ich bin Julian! Ich würde mich jetzt doch ganz gerne hinlegen. Bring mich zur Matratze!“

Chris führte ihn in ein Eck und half ihm behutsam, sich hinzulegen. Danach fesselte er wieder seine Beine mit Klebeband. Er schob ein Kissen unter Julians Kopf und betrachtete ihn eine Weile – es schien ihm, als würde ihn der Goldjunge direkt ansehen.

„Unter anderen Umständen wären wir sicher gute Freunde geworden“, meinte Chris mit einem gewissen Bedauern in der Stimme.

„Das denke ich auch, du klingst sehr nett. Ich würde gerne wissen, wie du aussiehst, aber keine Sorge: Ich frag schon nichts mehr“, seufzte Julian und drehte seinen Kopf zu Seite.

Chris hockte immer noch vor der Matratze und betrachtete Julian. Er biss sich in die Faust um nicht zu heulen: Wo hatte er sich da bloß reinziehen lassen? Immer überredete ihn sein Bruder Lukas zu solchem Scheiß! Für seinen Bruder hatte er damals diesen Einbruch verübt, der ihn für drei Jahre in den Jugendknast beförderte. Da, wo auch Lukas öfters gewesen war, bevor er seine Verbrecherkarriere auch im Erwachsenenalter fortsetzte.

Chris wusste, dass er nicht gut war – er wusste aber auch genau, dass ihm diese Sache eine Nummer zu groß war, dass er nicht damit umgehen konnte. Was wäre, wenn Lukas seine Drohung wahrmachen und Julian töten würde? Würde er damit leben können? Lukas schon, aber er – er sicher nicht! Kaputt würde sich Lukas lachen, würde er ihm erzählen, dass er Julian nett fand, mehr als nett.

Er griff nach Julians Gesicht, zog aber die Hand wieder zurück.

Fünf Millionen! War es das ganze wert? Vor allem: Noch hatte man das Geld ja nicht!

„Was ist?“, unterbrach in dem Moment Julian seine Gedanken.

„Was meinst du?“

„Ich kann spüren, dass du mich anstarrst. Ist was?“

„Nein … nichts … ich …“, stammelte Chris.

„Was?“, bohrte Julian weiter.

„Ich hab nur gerade gedacht … Hast du eine Freundin“, fragte er urplötzlich aus heiterem Himmel.

„Nö“, meinte Julian nur kurz und hob leicht den Kopf.

„Bist doch ein hübscher Kerl!“, meinte Chris schüchtern. Verdammt, das klang ziemlich verräterisch.

Julian kämpfte wieder mal mit sich selbst – würde diese Sache schief gehen, hätte niemand gewusst, wer er eigentlich war, also warum sollte er nicht einfach die Wahrheit sagen. So wüsste zumindest irgendjemand, kurioserweise vielleicht sogar ein Mensch der Mitschuld an seinem Tod tragen würde, wer er eigentlich war.

„Ich bin schwul“, sagte er in einem Atemzug, senkte seinen Kopf wieder und lag angespannt da, um eine Antwort abzuwarten.

Chris war wie vom Schlag getroffen – es war so, wie er es vermutet oder zumindest erhofft hatte.

„Schockiert?“, wollte Julian wissen.

„Nein“, gab Chris zur Antwort, „Nur das meinte ich zuvor, als ich sagte, wir wären gute Freunde geworden …“

Julian zählte eins und eins sofort zusammen: „Du bist also auch …?“

„Ja“, meinte Chris nur kurz und erhob sich aus seiner Hocke um sich von ihm zu entfernen.

„Toll“, bedauerte Julian, „Da treffe ich endlich mal jemanden, dem es so geht wie mir – und dann ist das mein Entführer. Ich hab ja wirklich ein Scheiß-Glück …“

„Du hast tatsächlich Glück“, meinte Chris ernst.

„Häh?“

„Na, dein Elternhaus – du hast doch alles, du brauchst dir keine Sorgen machen, was mal wird aus dir. Übernimmst wahrscheinlich die Firma deines Vaters und lebst ein Leben in Saus und Braus!“

„Ja, leicht möglich aber so einfach ist das auch nicht immer. Eigentlich, naja, meistens fühle ich mich ziemlich allein … und einsam … naja, egal!“

„Du Armer!“, machte sich Chris etwas lustig über ihn. „Wie glaubst du, dass es mir geht? Und ich bin nicht in einem Palast aufgewachsen. Mein Vater war nie da, meine Mutter ist gestorben als ich 13 war, naja und dann brachte mich mein Bruder mehr recht als schlecht durch. Ich musste früh lernen mir eben zu nehmen, was ich zum Leben brauchte. Mir hat keiner etwas geschenkt.“

„Und dein Bruder hat dich nicht davon abgehalten?“

„Nein, auf gewisse Weise haben er und mein Vater das aus mir gemacht, was ich heute bin. Ein asoziales Subjekt …!“

Julian schoss plötzlich ein Gedanken durch den Kopf: „Wo ist dein Bruder jetzt?“

„Na, wo glaubst du dass er ist? Im Gefängnis natürlich …!“, log Chris.

Julian konnte merken, dass er ihm nicht die Wahrheit sagte, denn insgeheim vermutete er in Lu Chris’ Bruder.

„Entschuldigung, wenn ich frage aber warst du …?“

„Du willst wissen, ob ich auch schon im Gefängnis war, nicht wahr?“

„Und? Warst du?“

Stille.

Lu war aufgewacht und stand plötzlich im Zimmer.

„Verdammt! Was gibt’s denn da zu quatschen?“, brüllte er seinen Bruder an. „Und warum liegt der kleine Scheißer auf der Matratze?“ Scheinbar war er kurz davor, seinem Bruder eine zu kleben und Julian wagte nicht zu atmen.

„Aber da spricht doch nichts dagegen, oder?“, stammelte Chris, doch sein Bruder schüttelte nur den Kopf. „Ach Scheiße! Dann mach doch was du willst – du kannst von mir aus die ganze Nacht auf ihn aufpassen, aber eines sage ich dir gleich: Wenn du dich irgendwie verplapperst, dann verpasse ich dir ebenfalls eine Kugel! Ich lass mir das von dir nicht versauen, verstehst du? Also, Schluss mit dem Gequatsche!“

„Und du“, wandte er sich Julian zu, dem er noch dazu einen leichten Tritt in den Magen versetzte, „du hörst auf hier irgendwelche Fragen zu stellen, verstanden? So und jetzt bitte lieb lächeln!“, meinte er im nächsten Moment mit süßlicher Stimme.

„Was machst du da?“, wollte sein Bruder wissen.

„Na, wonach sieht’s denn aus, Blödmann? Ich schieß ein Foto von ihm – damit seine Eltern sehen, dass ihr Filius noch am Leben ist. Das werfe ich in einen Mistkübel in der Nähe ihres Hauses …“ Er drückte den Auslöser einer Polaroid-Kamera und wartete geduldig auf das Foto.

„So, ich geh dann nochmals anrufen und das Foto verschicken, hehe. Und keine Privatgespräche mehr, sonst setzt’s was!“

Polternd schlug er die Tür hinter sich zu – Julian konnte hören, wie das Tor einer Garage geöffnet und ein Motor angelassen wurde, ehe Lu davon brauste.

„Ist er dein Bruder?“, wollte Julian sofort wissen.

„Du sollst dein Maul halten“, brüllte ihn Chris an und verschwand im Nebenzimmer.


22:00 Uhr.

Mittlerweile hatten die Polizisten herausgefunden, dass es sich bei dem Peugeot der Entführer um ein gestohlenes Auto handelte.

„Das bringt uns leider auch nicht weiter – wir können lediglich fragen, ob jemand etwas aufgefallen ist, also vom Diebstahl des Autos“, meinte Platzer kryptisch. „Die Entführer werden das Auto auch nicht so mir nichts dir nichts vor dem Haus parken, aber: Wir wissen zumindest, dass es sich bei diesem Wagen tatsächlich um das Auto der Entführer handeln muss. Ich habe bereits an die Verkehrspolizei weiterleiten lassen, verstärkt nach diesem Auto Ausschau zu halten.“

„Und das Foto?“, wollte Herr Stein wissen.

„Ist leider nicht sehr viel zu erkennen. Der Typ hatte eine Kapuze übergezogen, leider!“

Da klingelte plötzlich das Telefon.

Sofort hob Herr Stein ab.

„Stein. Sind Sie es …?“

„Herr Stein, hier spricht Wallner vom Kanal Extra. Können Sie mir bestätigen, dass …“

„Verdammt“, schrie Herr Stein und legte sofort auf. „Irgendjemand dürfte die Sache ausgeplaudert haben!“

Frau Stein sah ihren Mann besorgt an. „Da war jemand vom Fernsehen dran“, schrie Herr Stein immer noch.

„Verfluchte Scheiße!“, entfuhr es jetzt auch Inspektor Platzer. „Das ist gar nicht gut …“

Wieder klingelte das Telefon.

„Hören Sie, ich kann Ihnen nicht … Hallo?“

„Sie haben wohl jemand anders erwartet? Ich hoffe das Geld ist bereits unterwegs zu Ihnen. Ich rufe Sie morgen um 9 Uhr an, dann gibt’s weitere Instruktionen, verstanden?“

„Verstanden. Bitte, darf ich mit meinem Sohn sprechen?“, fragte Herr Stein mit zittriger Stimme.

„Er ist nicht bei mir im Moment, aber vertrauen Sie mir: Dem kleinen Scheißer geht es gut. Er ist gar nicht weit weg von Ihnen“, lachte Lu, „um genauer zu sein, hat er es sich gerade in einem Mistkübel gemütlich gemacht!“

„Sie miese Sau, wenn ihm irgendetwas passiert, dann drehe ich Ihnen den Hals um, haben Sie mich verstanden: Ich bringe Sie um!“

Augenblicklich hörte Lu zu lachen auf. „Ich glaube nicht, dass Sie in der Position sind, mir zu drohen“, sagte er mit gefährlich klingender Stimme. „Krottenbachstraße 41! Morgen um 9 weitere Anweisungen“, sagte er kurz und legte auf.

Platzer hatte alles mitgehört. Sofort sprangen er und Riedl in den Wagen, um zu jener Adresse zu fahren.

„Rufen Sie mich an“, rief er Herr Stein während des Hinauslaufens zu, „falls er nochmals anruft. Herr Valentin wird alles aufzeichnen!“

Nur 15 Minuten später waren sie bereits wieder zurück.

„Und haben Sie was gefunden?“, wollte Herr Stein nervös wissen.

Platzer nickte – er hatte wieder einen ernsten Blick drauf und runzelte die Stirn, während er Herr Stein einen Umschlag überreichte.

Mit zitternden Fingern holte dieser ein Foto hervor: Es zeigte seinen Sohn, der auf einer schäbigen Matratze lag – seine Augen waren mit einer Binde verbunden.

Herr Stein ließ den Arm sinken, während das Foto seiner Hand entglitt und langsam zu Boden fiel. Frau Stein schluchzte auf und sank auf die Knie, um das Foto an sich zu nehmen.

„Er lebt zumindest noch“, meinte Herr Stein, dessen Blick ins Leere starrte.

„Ich fürchte das war noch nicht alles, das ich Ihnen zumuten muss“, sagte in dem Moment Inspektor Platzer. „Machen Sie bitte den Fernseher an!“

Herr Stein eilte ins Wohnzimmer und wenige Sekunden später konnte man bereits die Melodie hören, die die Nachrichten ankündigte.

„Wie soeben bekannt wurde, wurde Julian Stein, Sohn des Großunternehmers Julius Stein, heute Morgen entführt. Die Täter drangen unbemerkt in Julians Schule ein, wo sie Julian in ihre Gewalt brachten. Ob und wie viel Lösegeld die Täter fordern ist bislang nicht bekannt, da aus dem Hause Stein noch niemand zu einer Stellungnahme bereit war. Wir werden Sie in unseren späteren Nachrichten weiter über die Entführung am Laufenden halten.

Zur Innenpolitk …“

Alle Anwesenden hielten den Atem an – irgendjemand hatte dem Sender einen Wink gegeben und das war etwas, was man jetzt am wenigsten gebrauchen konnte.


Nur wenige Kilometer entfernt verließ Lu ungefähr zur selben Zeit eine Kneipe, in der er sich ein Bier genehmigt hatte. Wutschnaubend sprang er in sein Auto und brauste in die Nacht – auch er hatte die Nachrichten gesehen …

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