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Herbst in Berlin
Teil 2 - Der rosa Winkel
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Informationen
- Story: Herbst in Berlin
- Autor: Lone_Eagle
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory, Historisch
Drei Tage waren seit jenem Sonntag vergangen, als sich Fritz und Peter das erste Mal näher gekommen waren und sich beide ihren Gefühlen dem anderen gegenüber bewusst wurden. Seitdem hatte Fritz Peter nicht mehr gesehen: Er befand sich in einer regelrechten Zwickmühle, denn einerseits konnte er an nichts anderes denken als an Peter, andererseits hatte er komischerweise sogar etwas Angst davor, ihn wiederzusehen. Angst vor dem, was alles noch passieren könnte. Selbst während der Arbeit im Geschäft seines Vaters wirkte er abgelenkt und Fritz ertappte sich öfters dabei, panisch hochzuschrecken wenn die Geschäftstür aufgeschlagen wurde, in der Meinung es könnte Peter sein, der zur Tür hereinkam.
„Keine Ahnung, wo du zurzeit mit deinen Gedanken bist. Na, wahrscheinlich bei Lena“, brummte sein Vater an diesem Morgen. Er hatte sich scheinbar noch immer nicht damit abgefunden, dass es zwischen Lena und seinem Sohn nichts wurde. „So bist du mir hier allerdings keine Hilfe. Na los, schwirr schon ab, du kannst dir den Rest des Tages freinehmen.“ Herr Lenke war ziemlich überrascht, als sein Sohn dies fast teilnahmslos zur Kenntnis nahm, seine Schürze ablegte und nach oben in seine Kammer verschwand.
Wieder hatte ihn sein Vater mit Lena in Verbindung gebracht, dachte er sich missmutig, während er sich aus dem Fenster lehnte und das Treiben auf der Straße beobachtete. Wenn er ihnen doch nur sagen könnte, wen er wirklich auf seiner Seite haben wollte. Wie sein Vater wohl reagieren würde? Zumindest seiner Mutter hatte er ja schon gebeichtet, dass er wohl nicht mit Lena zusammenkommen würde, aber ihr oder beiden die ganze Wahrheit sagen? Sein Magen krampfte sich bei diesen Gedanken stets zusammen und in seinem Kopf brodelte es – dennoch war er glücklich über diesen freien Tag, den er allein in seiner Kammer verbringen wollte. Sein Bruder Max war mit seiner Freundin Lotte unterwegs, was Fritz ganz recht war – er war so mit ihr beschäftigt, dass die lästigen Fragen der letzten Zeit weitaus weniger geworden waren.
Obwohl es wieder übermäßig heiß war, herrschte Hochbetrieb in seiner Straße. Autos fuhren vorbei, vor denen sich Leute auf ihren Fahrrädern in Schutz bringen mussten. Hier und da zogen Händler ihre Karren hinter sich her, um die beschaffene Ware in ihre Läden zu bringen. Der dicke Eisenhändler, der zwei Ecken weiter seinen Laden hatte, mühte sich dabei besonders ab. Die Hitze und der Rausch den er wieder mal hatte, machten ihm schwer zu schaffen. Das Geklapper seiner Töpfe und Pfannen rief wiederrum einige Jungpimpfe auf den Plan, die den Lärm noch verstärkten, indem sie mit kleinen Steinchen auf seine Ware zielten und dabei fröhlich kicherten, weil es der Eisenhändler in seinem Dusel gar nicht bemerkte.
Fritz ertappte sich dabei, die Szene mit einem Lächeln zu genießen, vor allem, als einer der Jungs sein Ziel verfehlte und dessen Stein den dicken Hintern des Mannes traf. Gezeter setzte ein und die vier Jungs flüchteten in ein Gässchen – verfolgt von wütenden Flüchen des Eisenhändlers. Dies schien die Jungs nicht zu stören, die nun einem scheinbar herrenlosen Spitz nachjagten – und schließlich ganz aus Fritz’ Augenfeld entschwanden. Die Szene wirkte belustigend, doch das Quietschen der Reifen eines Lastwagens, der plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt, katapultierte Fritz wieder in die Realität.
Drei Männer sprangen von der Ladefläche und Fritz – der erschreckt zurückwich – meinte, in einem der dreien Lutz erkannt zu haben. Fritz stand nun seitlich neben dem Fenster und versuchte, nicht entdeckt zu werden. Vorsichtig lugte er aus dem Fenster und sah die drei etwa fünf Minuten später wieder aus dem Haus kommen, gemeinsam mit dem Ehepaar Melzer. Frau Melzer war eine Stammkundin seines Vaters und hatte – wie sich später herausstellte – gemeinsam mit ihrem Mann einer jüdischen Familie aus der Nachbarschaft zur Flucht verholfen.
Die beiden wurden auf die Ladefläche gezerrt und jetzt konnte Fritz aus seinem Versteck heraus eindeutig Lutz als einen der dreien erkennen.
„Heil Hitler, Fritz!“, schrie dieser plötzlich. „Und pünktlich sein heute Abend!“, schrie dieser plötzlich in seine Richtung, ehe er auf die Führerkabine des Lasters trommelte und so den Fahrer veranlasste loszufahren.
Verdammt, er hatte ihn also gesehen. Fritz schämte sich auf der anderen Seite allerdings, dass er wiedermal weggesehen hatte. So wie alle – oder die Meisten. Die Melzers waren anständige Leute und Fritz hatte nichts unternommen, allerdings: Was hätte er in diesem Moment auch tun sollen? Mit dieser Frage versuchte sich Fritz selbst zu beruhigen – ganz gelang es allerdings nicht und wie von einem Keulenschlag getroffen, erinnerte er sich wieder an die Worte Peters: „Es geschieht hier bei uns – und alle sehen weg!“
Peter – an diesem Abend würde er ihn wohl wiedersehen, daran hatte ihn Lutz gerade erinnert - beim HJ-Treffen im Volksheim.
Peter schloss das Fenster seiner Kammer und legte sich auf sein Bett, wo er die wiederhergestellte Ruhe genoss und versuchte, an nichts zu denken. Außerdem wollte er noch etwas schlafen, ehe er sich zum Volksheim aufmachen wollte.
Dieses Mal kam er pünktlich und ohne Verspätung im Volksheim an. An die 40 HJler hatte die Gruppe insgesamt und gut die Hälfte war bereits anwesend. Fritz wagte nicht nach links und rechts zu blicken als er eintrat und er erkannte daher auch nicht, ob Peter schon da war. Im Vorbeigehen blickte er außerdem verschämt Richtung Toilette, wo die Woche zuvor diese ganze Sache seinen Anfang genommen hatte. Im Saal herrschte enormer Lärm vom Gequatsche der Jungs, dem schließlich Lutz mit einem Brüller ein Ende bereitete.
„Heil Hitler!“, ertönte es orkanartig durch den Saal und alle waren aufgesprungen, die rechte Hand erhoben zum Hitlergruß.
„Heil Hitler! Setzen!“, erwiderte Lutz den Gruß und an seinem roten Gesicht erkannte Fritz sofort, dass er dabei war, zu einer Wutrede anzusetzen.
„Geht es uns nicht allen gut hier in Deutschland?“, schrie er wie von Sinnen, worauf ihm sofort ein etwa 30-faches `Jawohl´ folgte.
„Ist unser Führer nicht gut zu uns? Hat er uns nicht Arbeit gegeben?“
„Jawohl!“
„Und warum gibt es dann Menschen, die das ausnutzen? Die unserem Führer, Adolf Hitler ins Gesicht spucken, indem sie unsere Feinde unterstützen?“
Fritz war wie elektrisiert – dieses Gebrüll machte ihn noch nervöser als er es ohnedies schon war, zunächst dachte er sogar, Lutz würde gerade über ihn herziehen.
„Und wer sind unsere Feinde?“, schrie Lutz weiter.
„Juden!“, antwortete ihm die Masse und jeder der Anwesenden versuchte lauter zu sein als sein Nebenmann. Fritz blickte um sich: Immer mehr verstand er, was Peter meinte. Er sah in die Gesichter von lauter Gleichaltrigen, die willig und hörig Parolen schrien – die fast noch Kinder waren, die lieber mit Mädchen ausgehen sollten, sich meinetwegen besaufen sollten – alles, nur sie selbst sein sollten. Aber das durften sie nicht. Und um nicht aufzufallen, schrie Fritz natürlich auch mit, auch wenn ihm dabei ein dicker Kloß im Hals zu stecken schien.
„Richtig!“, steigerte sich Lutz noch mehr hinein. „Juden und Kommunisten! Unsere Feinde, unsere Todfeinde! Die Deutschland zerstört haben und es wieder tun werden, wenn wir sie nicht davon abhalten. Also, ich frage euch: Was sollen wir tun mit diesem Gesindel und mit Deutschen, die diese in ihrem dreckigen Tun noch unterstützen?“
„Aufhängen!“, schrien einige.
„Erschießen!“, riefen andere.
„Genau! Männer! Abtreten und im Hof Aufstellung nehmen!“
Die Masse setzte sich in Bewegung und nicht wenige steigerten sich mit Drohungen und Hassgebärden noch mehr in diese um sich greifende Hysterie hinein.
Dennoch konnte Fritz in all dem Wirbel eine vertraute und angenehm ruhige Stimme vernehmen. „Guten Tag Fritz!“ Es war Peter, der plötzlich neben ihm ging. Er schien genauso beunruhigt zu sein wie er selbst, schaffte es aber dennoch, durch seine ruhige Art sich selbst und Fritz etwas zu beruhigen.
„Was haben die vor mit uns?“, suchte Fritz fragend nach einer Antwort, doch ehe ihm Peter antworten konnte, waren sie auch schon im Hof, wo sie wie befohlen Aufstellung nehmen mussten.
Zum Erstaunen aller waren auch etliche Männer der SS anwesend – Lutz durfte seinen Sprung also geschafft haben – die Gewehre unter den Jugendlichen verteilten. Auch Fritz und Peter bekamen eines in die Hand gedrückt.
„Vorsicht Männer! Die Gewehre sind geladen!“, rief Lutz. „Also schießt euch nicht die Eier weg!“, versuchte er komisch zu sein. Wie abgerichtet quittierten dennoch einige diesen schalen Witz mit einem Lachen.
Gegenüber dem Volksheim befand sich eine Fabrik, in welcher Getränke in Flaschen abgefüllt wurde – getrennt vom Hof des Volksheims durch eine riesige Ziegelmauer. Genau an dieser Mauer konnte Fritz nun seltsame Figuren erkennen, die wohl eine Art Puppen darstellen sollten. Und tatsächlich: Da standen auch wirklich Puppen, notdürftig zusammengenähte weiße Tücher, gefüllt mit Stroh. Köpfe aus mit Watte gefüllter Wolle, auf Stöcke gesteckt und mit Draht an der Wand festgemacht. Und am schlimmsten: An den `Oberkörpern´ der Puppen prangte entweder ein gelber Judenstern oder ein roter Stern, das Zeichen des Kommunismus.
„Also, Männer! Dann zeigt mal, was ihr draufhabt!“, gab Lutz den Befehl und jeder musste einzeln vortreten, um je einen Schuss auf jede Puppe abzugeben.
In Fritz keimte wiedermal Unbehagen auf – zwar hatte es schon öfters Schießübungen gegeben, doch da zielte man auf Holzscheiben. Klar, die Puppen sahen eigentlich ziemlich lächerlich aus, aber der Sinn der Übung war klar: Man wurde vorbereitet, nur worauf? Hatte Peter Recht, als er meinte, es würde bald einen weiteren Krieg geben?
Gerade als er an Peter dachte, war dieser auch schon an der Reihe. Hatten die meisten zuvor beide Puppen getroffen, traf Peter kein einziges Mal, worauf er mit Schimpf und Schande in die Reihe zurück getrieben wurde.
Nun war Fritz an der Reihe. Er kniff die Augen zusammen und zielte auf die Puppe mit dem roten Stern. Volltreffer. Dann setzte er erneut an – und zielte auf die Puppe mit dem gelben Stern. Es schien, als würde um ihn herum die Welt zum Stillstand gekommen sein. Er blickte rüber – und sah plötzlich David vor sich, seinen jüdischen Freund aus der Grundschule. Er zitterte, das Gewehr im Anschlag. Drehte er jetzt schon ganz durch? Er kniff die Augen zusammen – und hatte wieder die Puppe vor sich. Auch der Lärm der anderen, die ihn zum Schießen aufforderten, stieg wieder an. Er schloss die Augen und drückte ab. Nur kurz machte ihn der laute Knall taub, ehe ihm Lutz ins Ohr schrie: „Gratulation, Lenke! Genau in den Kopf!“ Fritz schlich wie benommen durch die Menge auf seinen Platz zurück, während ihm sämtliche Jungs gratulierend auf die Schulter klopften. Doch Fritz war zum Heulen zu Mute: In gewisser Weise hatte er soeben wirklich auf David geschossen, seinen Freund aus Kindestagen. Und das zerriss ihn innerlich so sehr, dass er am liebsten davon gelaufen wäre.
Als alle erfolgreich ihre Schussübung beendet hatten, musste Peter nochmals vortreten.
„Auch du sollst noch eine Chance bekommen, Kakoschke!“, schrie Lutz, während er in seiner Hosentasche kramte und zu einer der Puppen rüberging. „Für dich hab ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht!“, witzelte er und befestigte einen rosa leuchtenden Winkel an einer der Puppen. Ein Zeichen, mit denen Homosexuelle in den Konzentrationslagern gekennzeichnet wurden. „Auch diese Leute – die Homosexuellen – haben hier bei uns in Deutschland keine Daseinsberechtigung“, schrie Lutz über den Hof. Fritz merkte, wie seine Knie zu zittern anfingen. „Was muss jetzt bloß in Peter vorgehen?“, dachte er sich. Und warum musste gerade er auf eine Puppe mit einem rosa Winkel schießen? War es Zufall oder wusste Lutz mehr, als beiden von ihnen lieb war?
Fritz blickte zu Peter rüber – ihm war speiübel. Peters Gesicht hatte eine eigenartige rot-violette Farbe angenommen, zumindest schien es Fritz so. Jede Bewegung die Peter machte, jeden Atemzug den er tätigte, fühlte Fritz in diesem Moment mit. Es tat ihm leid, seinem Freund in dieser Situation nicht zur Seite stehen zu können – er fühlte sich schäbig.
Da krachte der Schuss – Peter hatte die Puppe wieder um gut einen Meter verfehlt. Gelächter brandete auf, ehe Lutz den SS-Leuten ein Zeichen gab, die Gewehre wieder einzusammeln.
„Gut! Das war es dann schon für heute! Und am Samstag findet dann die letzte Besprechung für unser Zeltlager statt! Heil Hitler!“
Die Menge lichtete sich und wenige Augenblicke später befanden sich nur mehr Fritz und Peter im Hof. Peter stand immer noch wie angewurzelt an dem Platz, von wo aus er den Schuss abgegeben hatte. Sein Kopf war leicht angewinkelt, während er mit offenem Mund auf die Puppe starrte. Es kam Fritz wie eine Ewigkeit vor, als er endlich wieder seine Beine in Bewegung setzen konnte, die ihn zu Peter führten. Etwa einen halben Meter vor ihm blieb er stehen – Peter hatte ihn immer noch nicht bemerkt und starrte weiterhin unaufhörlich in Richtung Puppe. Er schien unter Schock zu stehen, denn selbst als ihn Fritz an der Schulter berührte, blickte er ihn nur kurz an, ehe sein Blick wieder Richtung Mauer wanderte.
„Komm, lass uns gehen!“, sprach Fritz so ruhig er es konnte und da endlich wandte sich Peter zum Gehen, leise und wortlos.
Erst nach einer Weile schien er sich wieder gefangen zu haben. „Ich habe mich so gefreut dich wiederzusehen. Und dann das!“ Seine Stimme zitterte und er wagte es nicht zu Fritz hinüberzusehen, voller Panik, jemand könnte ihn beobachten.
„Ob Lutz es weiß? Aber wenn, dann woher?“, fragte er Fritz.
„Vielleicht sollte ich doch mit Lena gehen, nur so zum Schutz. Auch wenn es nicht richtig wäre.“
Das war alles, was beide an diesem Abend herausbrachten. Danach herrschte wieder Stille, ehe Peter sich von Fritz verabschiedete und in eine andere Straße einbog, die zu seinem Elternhaus führte.
Währenddessen saß Lutz mit seinen Freunden im Gasthof Brunner, wo das Bier wieder in Strömen floss. Was er an diesem Abend angerichtet hatte, wusste er nicht. Er hatte keine Ahnung von der Gefühlswelt der beiden – er wollte schlichtweg `lustig´ sein.
Die Sache vom Nachmittag ließ Fritz wieder nicht zur Ruhe kommen und da er sowieso wieder nicht einschlafen konnte, entschied er, noch eine Weile durch die Gegend zu laufen. Irgendwie musste er herausfinden ob Lutz Bescheid wusste, also beschloss er, einfach ins Gasthaus Brunner zu gehen. Bereits von außen konnte er vernehmen, dass der Großteil der Gäste wieder ziemlich betrunken war – und auch die Stimme von Lutz hörte er aus den Stimmen der Anderen heraus. Er betrat die Kneipe, bestellte ein Bier und blieb am Tresen stehen.
Nur wenig später ging sein Vorhaben auf, als sich plötzlich ein Arm um seine Schultern legte und Lutz neben ihm stand.
„Na, wenn das nicht….“
„Er weiß es!“, durchzuckte es Fritz.
„…der verdammt beste Schütze von Lichtenberg ist!“, setzte Lutz fort, während er mit seinen Fingern eine imaginäre Waffe bildete, auf eine Cognacflasche `zielte´ und mit einem pfeifenden Geräusch einen Schuss imitierte.
„Trink! Du bist eingeladen!“
„Danke, aber nicht zu viel – ich muss morgen wieder arbeiten. Außerdem..“
„Ach, ich rede einfach mit deinem Alten – einem Mann der SS kann man schließlisch nischts abschlagen. Außerdem wollte ich sowieso mit dir reden“, nuschelte er.
„Worüber denn?“, entfuhr es Fritz wie aus der Pistole geschossen.
„Lena“, brachte er in seinem Rausch nur mühsam hervor. „Sie hängt mir dauernd in den Ohren wegen dir. Sie ist noch immer sauer wegen letztem Samstag. Ich habe gemeint, dass du einfach diszipliniert bist, dass du nicht…. Also, aber warum eigentlich? Gefällt sie dir nicht?“
„Doch, doch. Nur ich kenne sie schon so lange, als Freundin, nicht als….“
„Du kannst doch hoffentlich auch mit deinem Schwanz schießen?“, unterbrach er ihn und musste über seinen ordinären Sager selbst am meisten lachen.
Fritz sah ein, dass man in diesem Zustand mit Lutz nicht reden konnte und schon gar nicht, um irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Also setzte er alles auf eine Karte: „Dieser Peter schießt vielleicht schlecht!“, meinte er, um seinen Freund irgendwie ins Gespräch zu bekommen.
„Peter wer?“, wollte Lutz wissen. Aha, er wusste nicht mal um wen es ging, also konnte er auch nichts von seiner Homosexualität wissen.
„Na, dieser Kakoschke. Der heute nichts getroffen hat!“, stammelte Fritz und war froh darüber, dass Lutz dermaßen betrunken war und somit das Beben in seiner Stimme nicht bemerkte.
„Ach, der. Miserabler Schütze – und ein bisschen zu ruhig für einen aus der HJ. Vielleicht kannst du dich ja um ihn kümmern!“, meinte Lutz, der für ihn und Fritz noch ein Bier bestellte.
„Werde ich!“, antwortete Fritz und wäre am liebsten vor Freude in die Luft gesprungen. Lutz wusste also rein gar nichts. Er spülte sein zweites Bier in Rekordtempo runter und verabschiedete sich von Lutz – er musste unbedingt noch zu Peter, um ihn zu beruhigen.
Die zwei Bier sowie die beruhigende Einsicht, dass Lutz nichts über Peter oder ihn wusste, versetzte ihn dermaßen in Euphorie, dass – zumindest für kurze Zeit – die Angst der letzten Tage wie weggeblasen schien. Ein wenig später stand er auch schon vor dem Wohnhaus, in dem die Kakoschkes wohnten.
„Ja?“, hörte er eine Stimme drei Stockwerke über ihm, nachdem er geklingelt hatte. Es war Peters Vater.
„Entschuldigen Sie die späte Störung Herr Kakoschke. Ich bin’s, Fritz. Könnte ich bitte mit Peter sprechen?“
„Moment, ich muss mal eben nachsehen, ob er noch wach ist. Falls ja, schicke ich ihn dir runter.“
Fritz war sich ziemlich sicher, dass er noch wach war, denn er selbst hätte diese Nacht sicher auch nichts geschlafen.
„Er kommt gleich“, meinte Herr Kakoschke, „gute Nacht euch beiden!“
„Guten Abend Fritz!“, hörte er Peter neben sich sagen, der einen ziemlich zerknirschten Eindruck machte und schüchtern seine Hände in den Hosentaschen vergrub.
„Guten Abend Peter. Also gleich eines vorneweg: Lutz weiß rein gar nichts! Ich war noch beim Brunner – Lutz war ziemlich betrunken. Alles was er meinte war, dass ich mich um dich kümmern solle. Schussübungen oder so…“
Fritz wollte weiterreden, doch er bemerkte, dass Peter die Freude mit ihm scheinbar nicht teilte.
„Hast du nicht zugehört? Alles ist in Ordnung!“
Peters Blick wurde noch trauriger, ehe er endlich zu sprechen begann.
„Heute hat er vielleicht nichts bemerkt – aber was ist beim nächsten Mal? Und das, was sich heute abgespielt hat – das findest du in Ordnung? Wären dort richtige Menschen gestanden, ich wüsste nicht wie viele dann trotzdem geschossen hätten. Das, das ist nicht in Ordnung“, stammelte Peter.
Fritz’ Freude schlug momentan wieder in Enttäuschung um. „Du freust dich kein bisschen? Verdammt, ich mach mir Sorgen um dich und dir ist es total egal?“
Peter seufzte. „Es ist mir nicht egal – und seit letztem Sonntag denke ich mehr an dich als je zuvor. Ich vermisse dich jeden Tag, jede Stunde. Nur: dieses Ding da heute… Es macht mich fertig.“
„Glaub nicht, dass es mir nichts ausgemacht hat. Als ich auf diese Puppe schoss, da hab ich plötzlich einen Freund aus meiner Kindheit vor mir gesehen. Ganz deutlich stand er da – und sah mich an, als wolle er mich anklagen. Er war Jude… Glaubst du es lässt mich kalt? Du hast doch gesagt, man muss in den Körper des Feindes schlüpfen um ihn zu bekämpfen…“
„Ja, aber lass nicht zu, dass der Feind die Oberhand gewinnt“, entgegnete Peter und legte – endlich – seinen Arm um Fritz’ Schulter.
„Nein, mein Gewissen arbeitet noch, sonst wäre ich nicht hier, hier bei dir“, flüsterte Fritz, blickte sich vorsichtig nach links und rechts und drückte Peter einen schüchternen Kuss auf die Backe.
„Wir machen halt einfach ein paar Schussübungen zusammen“, versprach Fritz wieder.
„Tss, Schussübungen“, gab Peter zur Antwort. „In Leipzig war ich der beste Schütze meiner Gruppe!“
Fritz blickte ihn fragend an, so in etwa, als wollte er ihn fragen, was denn dann heute mit ihm losgewesen wäre.
„Ich hab absichtlich danebengeschossen“, verstand Peter den fragenden Blick. „Ich schieße für die nicht mal auf Puppen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt nochmals hingehen werde.“
Fritz wich erschrocken einen Schritt zurück. „Nein“, wurde seine Stimme lauter, „mach das nicht. Die machen dich sonst fertig, hast du doch selbst gesagt.“
Peter wollte antworten, doch dieses Mal ließ ihn Fritz nicht zur Antwort kommen. Er trat wieder einen Schritt auf ihn zu, packte ihn mit beiden Händen am Hals und zog ihn zu sich.
„Mach das bitte nicht. Ich halte es dort nicht ohne dich aus und ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dir irgendwas antun. Bitte!“, flehte Fritz ohne Unterhalt und blickte Peter mit traurigem Blick an.
Dann küsste er ihn auf den Mund, nicht jedoch ohne sich vorher nochmals versichert zu haben, ob ja niemand in der Nähe ist.
Jetzt endlich lächelte Peter, zaghaft zwar, aber immerhin.
„Warten wir erst mal dieses Zeltlager ab. Dann sehen wir weiter, abgemacht?“, meinte Peter.
„Abgemacht. Ich muss dann mal. Vielleicht können wir uns am Samstag ja schon nachmittags treffen. Wir könnten zum Wannsee raus, wenn du magst“, schlug Fritz vor.
„Gerne! Und danke, dass du dich um mich sorgst“, sprach Peter mit so sanfter Stimme, dass er allein damit Fritz wohlige Schauer den Rücken runterlaufen ließ.
„Du bist mir eben sehr wichtig“, versicherte ihm Fritz, der vor Rührung und Liebe zu ihm kaum sprechen konnte. „Gute Nacht, bis Samstag!“
Nachdem er – wie schon traditionell fast jeden Abend – noch eine Weile seinen bereits schlafenden Bruder beobachtete, schlief Fritz an diesem Abend das erste Mal seit längerem sofort ein. Der Tag war schließlich ziemlich ereignisreich gewesen und schon jetzt konnte er gar nicht abwarten, dass es endlich Samstag wurde.
Der Schlaf hatte irgendwie etwas Reinigendes in sich, als Fritz am nächsten Morgen putzmunter im Geschäft seines Vaters seine Arbeit antrat. Er fühlte sich gut, irgendwie surreal gut, aber das reichte ihm im Moment – auch sein Vater schien das zu erkennen, indem er ihm anerkennend auf die Schulter klopfte, was er sonst eigentlich so gut wie nie tat. An diesem Tag bekam Fritz übrigens einen neuen Kollegen, einen, den er schon lange kannte: Seinen Bruder Max, der in den Ferien etwas dazu verdienen wollte, um seine Freundin Lotte auszuführen, wie Fritz zumindest vermutete. Fritz war froh darüber, mit seinem kleinen Bruder zusammen sein zu können, auch wenn er schon bald darauf wieder anfing, ihm mit Fragen auf den Geist zu gehen.
„Habe gehört, dass es zwischen dir und Lena aus ist?“, fragte er nämlich plötzlich.
„Ja, das stimmt wohl. Wobei, wenn ich ehrlich bin – so richtig war nie etwas zwischen uns“, gab er ihm eine ehrliche Antwort.
„Oh“, kam enttäuscht zurück, „ich dachte du bist verliebt in sie?“
„Hm, schwer zu sagen, aber irgendwann wirst du verstehen, dass nicht alles immer so einfach und unkompliziert abläuft.“
„Also zwischen mir und Lotte läuft’s hervorragend: Gestern waren wir Eis essen und danach haben wir gut eine halbe Stunde herumgeschmust.“
„Ach ja?“, erwiderte Fritz, indem er ihn fast wütend ansah. Irgendwie ging ihm das Gerede seines Bruders plötzlich schwer auf die Nerven – vielleicht war es aber auch nur Eifersucht auf sein `normales´ Leben.
„He, brauchst nicht gleich sauer zu sein, du findest schon wieder eine Neue. Auch wenn ich nicht verstehe, was mit Lena nicht stimmt. Übrigens: Sie hat schon wieder einen neuen Freund. Martin, aus der HJ, sie waren gestern auch Eis essen.“
Jetzt platzte Fritz der Kragen – warum musste sich jeder in seiner Familie in sein Leben einmischen? Er packte Max und drückte ihn an die Wand: „Das geht dich alles gar nichts an, verstehst du? Gar nichts!“, brüllte er ihn an, ließ ihn wieder los und lief in den Hinterhof des Hauses. Ihm war klar, dass das abendliche und morgendliche Glück nur eine Seifenblase war, die gerade wieder zerplatzt war. Er selbst war es, der in dieser Seifenblase lebte und es genügte immer nur ein kleiner Windstoß und alles darin geriet außer Kontrolle.
Er zündete sich eine Zigarette an und kämpfte gegen die Tränen an. Er wollte seinen Bruder nicht anschreien, aber was sollte er tun? Ihm die Wahrheit sagen? Ihm sagen, dass er in einen Jungen verliebt war? Irgendwie wollte er das ja, aber es ging nun mal nicht. Als er so mit seinen Gedanken haderte, kam sein Vater in den Hinterhof.
„Na toll, den ersten Arbeitstag deines Bruders hast du komplett versaut. Der Kleene sitzt am Klo und heult sich die Augen aus. Musste das sein? Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los?“, wollte sein Vater wissen, der sich ebenfalls eine Zigarette ansteckte.
„Gar nichts ist mit mir los!“, schrie Fritz. „Warum könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Aber es tut dir doch niemand etwas. Und das Lena einen Neuen hat, nun ja..“
„Lena, ich höre immer nur Lena. Sie hat mich nie interessiert. Aber davon verstehst du ja doch nichts. Du hast nie etwas verstanden“, schrie er hysterisch. Herr Lenke lief rot an und begann ebenfalls zu schreien.
„Nein, ich verstehe nichts, natürlich. Eines versteh ich echt nicht: Was dein Bruder dafür kann, dass du ihn plötzlich so anschreist. Aber ich bin wahrscheinlich zu blöd dazu. Ihr Jungen heutzutage, als ich so alt war wie du, musste ich in den Krieg, verstehst du das? Freunde, Kameraden sind im Schützengraben neben mir zerfetzt worden, andere spuckten nach Gasangriffen ihre eigenen Lungen aus – aber ich verstehe ja nichts! Du hast leicht reden, du hast alles, du lebst in einem freien Deutschland…“
„Frei?“, unterbrach ihn Fritz in fast schrillem Ton. „Wer bitte ist hier frei? Jeder hat Angst vor dem anderen, keiner traut sich seine Meinung zu sagen. Du musst doch verrückt sein…“
Klatsch. Herr Lenke war die Hand ausgerutscht, er schlug Fritz mit der flachen Hand ins Gesicht und war wohl selbst mehr schockiert darüber als Fritz.
„Ich habe dich nie geschlagen, bei Gott, das weißt du. Gut erzogen habe ich euch, geschaut, dass etwas wird aus euch. Und als Dank nennst du mich verrückt“, war er enttäuscht über seinen Sohn und wohl auch ein bisschen über sich selbst.
Fritz verzog keine Miene, er wich einen Schritt zurück und meinte trotzig: „Und du bist doch verrückt, wenn du nicht siehst, was hier passiert. Mit den Melzers zum Beispiel, die gestern verhaftet wurden. Mit keinem Wort hast du sie seitdem erwähnt, sie wurden verhaftet, weil sie anderen Menschen geholfen haben.“
„Menschen?“ unterbrach ihn sein Vater in spöttischem Ton. „Du meinst Juden, nicht Menschen. Volksschädlinge!“
„Ja, genau“, meinte Fritz zynisch und ging wieder einen Schritt auf seinen Vater zu. Er ließ seine Zigarette fallen und blickte ihm direkt in die Augen. „Volksschädlinge“, setzte er fort, „genauso, wie ich ein Volksschädling bin! Heil Hitler, Vater!“, setzte er noch einen drauf, ehe er seinen Vater wortlos stehen ließ und durch das Geschäft hinaus auf die Straße lief. Er musste einfach weg. Fritz lief durch das gesamte Viertel und wie einem Magneten gleich zog es ihn in die Straße, in der Peter wohnte und vor dessen Haus er schließlich keuchend innehielt. Eigentlich wollte er noch eine Weile abwarten, ehe er klingeln wollte, doch gerade in diesem Moment kam Herr Kakoschke aus dem Haus.
„Ja Fritz. Was ist denn mit dir los? Du bist ja vollkommen außer Atem. Du willst sicher zu Peter, geh doch rauf ich komme gleich nach“, winkte er ihn freundlich nach innen. Fritz eilte die drei Stockwerke nach oben und klopfte an die Tür der Kakoschkes, die nach wenigen Sekunden von Peters Schwester Hertha geöffnet wurde. Sie schien überrascht zu sein, Fritz vor der Türe zu sehen, bat ihn aber dennoch freundlich hinein. Peters komplette Familie – also alle außer Peters Vater – saßen um den Mittagstisch und grüßten freundlich, als Fritz in die Küche trat.
„Du kannst gerne mit uns essen“, lud ihn Frau Kakoschke freundlich ein, doch am Tisch Platz zu nehmen.
„Papa hat die Würstchen vergessen“, krähte Siegrid, Peters jüngste Schwester fröhlich.
Peter schenkte Fritz ein sanftes, von den anderen unbemerktes Lächeln – er hatte sofort erkannt, dass irgendetwas Fritz bedrückte und dass ihm da die nette Atmosphäre in seiner eigenen Familie wohl gerade sehr recht kam. Fritz erwiderte das Lächeln mit einem leichten Seufzer und nahm neben Peter Platz. Doch die Ruhe währte nicht lange, denn plötzlich drängte sich Siegrid zwischen die beiden, um Fritz ihre Puppe zu zeigen, die sie letzte Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
„Das ist Mona. Gefällt sie dir?“, fragte sie gar nicht schüchtern. „Darf ich dich heiraten, wenn ich groß bin?“, fragte sie weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. „Siegrid!“, ermahnte sie ihre Mutter gespielt streng und auch sie lächelte Fritz an, der gerade Siegrids Puppe über den Kopf streichelte.
„Falls dir niemand zuvor kommt, dann warte ich auf dich!“, meinte er mit gespieltem Ernst und blickte Siegrid treuherzig in die Augen, die ihm doch glatt einen Kuss auf die Wange drückte. Der Junge schien ihr zu gefallen, auch wenn er in diesem Moment hochrot anlief, zum Amüsement der gesamten Kakoschkes. In dem Moment kam auch Peters Vater wieder zurück, mit den Würstchen, die er zuvor vergessen hatte.
Nach dem Essen erledigten die weiblichen Kakoschkes den Abwasch, während Herr Kakoschke Peter und Fritz zu sich in sein Arbeitszimmer rief.
„Seit dem Umzug hatte ich irgendwie noch keine Zeit, meine zahlreichen Bücher ins Regal einzuordnen. Ich würde mich freuen, wenn ihr mir helfen würdet, sie alphabetisch, dem Titel nach einzuordnen“, meinte er, indem er hilfesuchend auf gut acht Kartons voller Bücher blickte.
„Natürlich, gerne“, antwortete Fritz höflich.
Herr Kakoschke lächelte, fast genau so sanft wie es sein Sohn immer tat. „Aber vorher würde ich gerne wissen, ob alles in Ordnung mit dir ist. Als du vorher ankamst, hast du ja ausgesehen, als wäre die GESTAPO hinter dir her!“
„Papa“, ermahnte ihn Peter.
„Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst“, meinte Herr Kakoschke weiter, „aber ich sehe dir deine Last auf den Schultern an, ähnlich wie dir deine – Peter“, wandte er sich wieder seinem eigenen Sohn zu. „Und ich bin auch nicht blind, wenn ihr versteht was ich meine“, fügte er leise hinzu.
Beide Jungs standen mit gesenktem Kopf da – keiner wagte es den anderen oder Peters Vater anzusehen.
„Du hattest Streit mit deinen Eltern, richtig Fritz?“, meinte er in liebevollem Ton. „Und ich kann spüren, dass das in irgendeiner Form auch etwas mit Peter zu tun hat.“
„Mit meinem Vater. Ich hab ihn angeschrien, dass er keine Ahnung von meinem Leben hat und, dass er verrückt ist. Er hat mich geschlagen und ich bin weg“, sagte Fritz traurig, immer noch auf den Boden blickend.
„Ja, wir Eltern haben auch leider wirklich nicht immer Ahnung, was in euch so vorgeht. Aber man kann über alles reden oder etwa nicht?“, wollte er wissen und legte seinen rechten Arm auf Fritz Schulter, den linken auf die Schulter seines Sohnes, der schwer nach Atem rang und seinen Vater immer noch nicht ansehen konnte. „Ich habe in meinem Leben schon sehr viele Jugendliche unterrichtet, viele verschiedene Charaktere: Intelligenzbestien, Schwachköpfe, Angeber, Träumer und größtenteils gute Menschen. Und öfters waren auch Jungs darunter, die so waren wie ihr: Die ihr Leben nicht so leben durften, wie sie es wollten, wie es ihnen in die Wiege gelegt wurde. Die mit sich haderten, weil sie dachten sie hätten niemanden, mit dem sie darüber reden könnten. Aber ich bin hier, Peter. Du bist mein Sohn und ich liebe dich – und du Fritz, du liebst meinen Sohn, also bin ich auch für dich da.“
Jetzt gab es kein Halten mehr – beide Jungs fielen diesem netten Lehrer, der seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte, in die Arme. „Passt nur um Gottes Willen auf die auf“, brachte Herr Kakoschke noch hervor, ehe er die Umarmung erwiderte.
Nach einer Weile lösten sie sich aus der Umarmung und blickten zunächst einander und dann Herr Kakoschke verdutzt an – beiden merkte man eine gewisse Erleichterung an, jemanden auf ihrer Seite zu haben. Jemanden mit dem man reden konnte, jemanden den man vertrauen konnte, jemanden, den man zu dieser Zeit nur sehr schwer finden konnte. Aber es gab sie scheinbar doch, diese `Jemande´.
„So, nun wie versprochen: die Hauptattraktion des Nachmittags, meine Bücher!“, meinte Peters Vater schließlich auf seine unnachahmlich humorvolle Weise. Und so war es dann auch: Die nächsten Stunden verbrachten die drei mit dem alphabetischen Einordnen von etwa 300 Büchern, angefangen von `Ameisengattungen in Deutschland´ bis hin zur `Zentralafrikanischen Steppe´. Nach einer Nachmittagspause beschloss Fritz, wieder nach Hause zu gehen, wogegen die kleine Siegrid entschieden protestierte.
„Komm, ich begleite dich ein Stück“, meinte Peter und kurze Zeit später befanden sich beide wieder auf der Straße. In dem Moment kam es Fritz wieder vor, als wäre er in ein Feindgebiet eingedrungen – die schützenden vier Wände der Kakoschke-Wohnung hatten für einige Stunden die Anspannung in ihm gelöst. Nun kam ihm alles vor wie immer.
„Denkst du, dass dein Vater noch böse auf dich ist?“, fragte Peter.
„Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht. Ist bei uns immer so: Wenn gestritten wird, dann tun wenige Stunden später alle so, als wäre nichts passiert. Geredet wird über so etwas bei uns nicht. Ich schäme mich nur ein wenig, meinen Bruder in die Augen zu blicken. Aber deine Familie, vor allem dein Vater: Mit denen hast du echt Glück gehabt.“
„Ja, das stimmt. Ohne sie wäre ich schon längst abgehauen.“
„Meine Familie ist ja auch nicht so schlecht, anders halt als deine – und vor allem der Fahne treu ergeben!“ Die letzten Worte betonte er übertrieben, so dass er Peter zum Lachen brachte.
„Solange wir zusammen halten, passiert uns nichts, oder?“, fragte Fritz.
„Ich denke nicht und wenn uns etwas passiert, dann passiert es uns zusammen. Keiner sollte den anderen im Stich lassen“, antwortete Peter. Danach wurde er still, so als ob er seinen letzten Satz selbst anzweifeln würde.
Schon langsam kam Fritz’ Straße in Sichtweite und Peter konnte spüren, wie sein Freund immer nervöser wurde. „Ich hoffe er spricht mich nicht darauf an, was ich zum Schluss zu ihm gesagt habe – dass ich auch ein Volksschädling sei. Ich wüsste nämlich nicht, was ich da drauf sagen sollte“, dachte sich Fritz.
„Soll ich mitkommen?“, wollte Peter wissen.
„Nö, lass mal gut sein. Wird schon halb so wild sein. Und wegen Samstag, falls das Wetter mitspielt, kann ich dich dann um Mittag herum abholen?“ Dabei blickte er ihm tief in die Augen.
„Ich freue mich bereits jetzt drauf“, gab ihm Peter zu verstehen, der den Blick erwiderte und ihn am liebsten geküsst hätte. Beide standen sich noch ein paar Momente gegenüber, ehe ein paar Leute auftauchten und sie sich voneinander verabschiedeten. Per Handschlag – auf die deutsche Art.
Fritz hatte Recht – alles war wie immer: Als er das Geschäft betrat, drückte ihm sein Vater nur kurz die Schürze in die Hand und deutete auf ein paar Kisten Tomaten, die verstaut werden mussten. Max war auch da, er würdigte Fritz keines Blickes und schmollte stumm vor sich hin. „Ich werde am Abend wohl mit ihm reden müssen“, dachte sich Fritz und widmete sich den Tomaten.
Das war dann allerdings gar nicht so einfach, denn als beide nach Einbruch der Dunkelheit in ihrer Kammer lagen, sagte Max noch immer kein Wort.
„Es tut mir leid“, sagte Fritz in die Dunkelheit hinein. Der Kleine schmollte nach wie vor. „Hör mal, ich kann nicht mehr tun, als zu sagen, dass es mir Leid tut, dass ich dich gepackt und angeschrien habe. Es wird nicht mehr vorkommen – du weißt doch wie sehr ich dich mag. Ich bin gerne dein großer Bruder und werde immer auf dich aufpassen!“
„Ich habe dich noch nie so erlebt wie heute“, antwortete Max nun endlich, wenn auch mit sehr leiser Stimme. „Und ich verstehe nicht, was in letzter Zeit mit dir los ist. Irgendwie kommst du mir so traurig vor – und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Es macht mich nämlich auch traurig.“ Fritz musste schlucken – sein Bruder meinte genau das, was er gerade sagte – das konnte er an seiner Stimme erkennen.
„Du bist kein kleines Kind mehr, das hast du gerade wieder bewiesen“, antwortete Fritz, „aber es gibt dennoch so vieles, dass du noch nicht weißt und ich denke, das ist auch besser so. Mach dir bitte nur keine Sorgen um mich – ich komme schon klar!“
„Warum glaubst du, dass du ein Volksschädling bist?“
Oh, Scheiße, Max hatte gelauscht! Fritz fühlte sich wie unter Strom gesetzt, der seinen Körper durchzuckte – er lag da, unfähig sich zu bewegen, unfähig zu sprechen. Er hörte die Frage nochmals, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob Max sie wirklich nochmals gestellt hatte. Denn in Wirklichkeit war alles ruhig – Max bestand auf eine Antwort.
„Liebst du mich. Ich meine, liebst du mich als Bruder?“, brachte Fritz nach einer Ewigkeit hervor. Sein Hals war zugeschnürt und er hatte alle Mühe zu sprechen.
„Du machst mir Angst!“, wich Max einer Antwort mit seiner vibrierenden Knabenstimme aus.
„Liebst du mich, egal was passiert?“, wiederholte Fritz seine Frage, der sich mittlerweile im Bett aufgesetzt hatte und erkennen konnte, das Max ebenfalls in seinem Bett saß.
„Ja, du bist mein Vorbild. Immer gewesen!“, flüsterte Max in die Dunkelheit hinein.
„Kannst du dich noch an den Schuhmacher erinnern, an den Böhmer?“
„Klar, bin ja nicht blöd. Wie kommst du auf den jetzt?“
„Na du weißt doch, dass sie ihn verhaftet haben. Weißt du auch warum?“ Fritz zitterte nach wie vor – er wusste, dass dies der Moment war, es seinem Bruder zu erzählen.
„Nö, weiß ich nicht, was hat er getan?“
„Gar nichts, er hat gar nichts getan! Nur jemanden geliebt, den er nicht lieben durfte!“
„Ich versteh gar nichts mehr!“
„Er liebte einen anderen Mann!“ Grabesstille – klar, ein 12-jähriger musste das erstmals verarbeiten, registrieren, dass so etwas überhaupt möglich war.
Doch dumm war Max absolut nicht und die Rädchen in seinem Kopf begannen sich zu drehen. Trotzdem fragte er zaghaft: „Und was hat das mit dir zu tun?“
„Bitte sag niemandem davon, was ich dir jetzt sage!“ Fritz war bereit. Bereit für die Wahrheit. „Mir geht´s wie dem Böhmer – ich…“ Man, war das schwer. „Ich bin verliebt, aber nicht in Lena und auch nicht in ein anderes Mädchen. Ich liebe einen Jungen. Peter…“
Abermals Totenstille – aus Max’ Ecke kam nur schweres Atmen und Fritz konnte die Unsicherheit seines Bruders regelrecht fühlen. Schließlich hörte er ihn leise weinen – er konnte sich nicht erinnern, wann sein kleiner Bruder zuletzt geweint hatte: Und an diesem Tag war Fritz gleich zweimal dafür verantwortlich.
„Sag etwas, Max!“, flehte er.
„Werden… werden sie dich jetzt auch verhaften?“, schniefte er jedes einzelne Wort hervor. Die Sorge seines Bruders war nicht unberechtigt und löste nun auch bei Fritz Tränen aus. Leise und kaum hörbar weinte er, um seinen Bruder nicht noch mehr zu verunsichern, als das zu diesem Zeitpunkt ohnedies schon der Fall war. „Das ist das, wovor ich mich am meisten fürchte“, gab er zu, als er plötzlich Max neben sich spürte, der sich unbemerkt zu ihm ins Bett gelegt hatte.
„Du bist immer noch mein großer Bruder“, flüsterte der Kleine und nahm den Großen in die Arme. Es war die Nacht zum 1. August 1939 – dem letzten Monat in Frieden.
Wie knapp sich Deutschland vor einem weiteren Krieg befand – davon war im Sommer 1939 in Berlin wirklich noch nichts zu merken. Das Land hatte sich wirtschaftlich von der Krise erholt – man war wieder wer. Es war der berühmte Tanz auf dem Vulkan, eine Leichtigkeit, die man auch als Dekadenz bezeichnen konnte. Das Nachtleben florierte, der Sucht nach Vergnügen wurde exzessiv nachgegeben. Man fühlte sich unverwundbar, fast überheblich.
Am ersten Augustsamstag ging es auch am Wannsee wieder hoch her – das Thermometer kletterte in astronomische Höhen und wer Zeit hatte, suchte Abkühlung im kühlen Nass. Unter den tausenden Badenden befanden sich auch Fritz und Peter, die vor der Hitze der Stadt kapituliert hatten und das Wasser in vollen Zügen genossen. Sie fühlten sich wohl, auch wenn die gewünschte Zweisamkeit hier wirklich nur ein frommer Wunsch war. Peter bewegte sich im Wasser wie ein Fisch und genoss die Blicke seines Freundes mit Genuss. Fritz, ebenfalls ein guter Schwimmer, hatte sogar etwas Mühe mit ihm mitzuhalten und als er schließlich doch ein Fleckchen unbevölkerte Erde an Land erspähte, markierte er den Erschöpften.
„Gnade, Gnade. Ich brauch ’ne Pause“, und ohne eine Antwort abzuwarten, schwamm er Richtung Ufer, wo er über ein paar Steine hinweg aus dem Wasser krabbelte. Peter folgte ihm und war zufrieden mit der Wahl des Ortes – ein kleines Fleckchen Wiese, das von Büschen und Bäumen umgeben war und auf dem keine Menschenseele auszumachen war.
Beide legten sich hin und starrten vorerst minutenlang in den strahlend blauen Himmel, auf dem kaum Wolken zu sehen waren. Schließlich wagte Fritz den ersten Schritt, indem er sanft Peters glatte Brust berührte, an der noch einige Wassertropfen in der Sonne glänzten wie kleine Perlen. Dieser zuckte kurz zusammen, ehe er die schüchternen Streicheleinheiten geschehen ließ und nach kurzem Zögern nach Fritz’ Hals fasste, seinen Kopf zu sich zog und ihn schließlich küsste. Das Küssen wurde leidenschaftlicher und auch Fritz konnte nun Peters Hände an seinem Körper spüren – das Plantschen der anderen Badegäste war nur mehr entfernt hörbar für beide, dennoch war es noch da. Also wich die Vernunft der Leidenschaft, verbunden mit einem tiefen Seufzer und einem ausschweifenden Blick in die Lendengegend des anderen – beide wären gerne aufs Ganze gegangen, was man anhand der Ausbuchtungen in beiden Badehosen deutlich erkennen konnte. Aber es war einfach zu gefährlich – also beschloss man einzeln und nacheinander hinter die Büsche zu gehen, um sich Erleichterung zu verschaffen, ehe man wieder entspannt nebeneinander lag.
Fritz war der erste, der nach einer geraumen Weile wieder zu sprechen begann.
„Es ist so friedlich hier – am liebsten würde ich für immer hier liegen bleiben. Glaubst du immer noch, dass es Krieg geben wird?“
„Ich denke schon, es ist gerade schon fast zu ruhig – aber wenn man die Reden Hitlers genau anhört, ich kann mir nicht vorstellen, dass er es nicht darauf anlegt, Krieg zu führen. Der Pakt mit Mussolini, dann mit Stalin, seinem Erzfeind – das kann er doch nicht einfach so gemacht haben, aus einer Laune heraus. Er sichert sich ab, vermute ich mal – witzig, dass gerade sein Erzfeind, der Kommunist Tschugaschwilli plötzlich sein Verbündeter ist“, setzte er zynisch noch einen oben drauf. „Wo wir doch alle die Kommunisten so hassen“, versuchte er zu lachen. „Das alle diesen Blödsinn schlucken ist mir ein Rätsel!“
Fritz hörte ihm aufmerksam zu und war erstaunt: Peter machte sich so viele Gedanken und alles was aus seinem Mund kam, wirkte logisch. So wie die meisten anderen hatte er den Hitler-Stalin-Pakt als eine Art List verstanden, mit dem Hitler Stalin in die Irre führen wollte – so hatte es dieser Hitler ja auch gesagt. Viel schlüssiger klang allerdings das, was Peter zu sagen hatte.
„Naja, sei es wie es sei“, setzte Peter fort, „ich werde in diesem Krieg sowieso nicht mitkämpfen.“ Er ließ einen tiefen Seufzer folgen, als er den fragenden Blick Fritz’ auf sich spürte.
„Was meinst du?“, fragte dieser ziemlich irritiert.
Peter wurde mit einem Mal ernst. „Mein Vater sieht für sich und seine Familie in diesem Deutschland keine Zukunft mehr. Er darf hier nicht mehr arbeiten, seinen Beruf ausüben den er liebt. Und er möchte uns einfach mehr Möglichkeiten bieten…“
„Was willst du mir damit sagen?“, zitterte Fritz trotz der Hitze.
„Mein Vater hat Kontakte zu ehemaligen Studienkollegen in die USA. Wenn alles klappt wandern wir noch vor dem Ende des Sommers nach Connecticut aus.“
Fritz war schockiert und konnte das nicht verstehen – er schwieg und blickte in eine andere Richtung. „Fritz, glaub nicht, dass uns das leicht fallen wird, keinem von uns, aber wir sehen keine andere Möglichkeit. Es gibt vieles hier, was ich vermissen würde – am meisten natürlich dich. Aber ich habe immer gesagt: Ich kämpfe nicht in deren Krieg. Und wird es nichts mit dem Auswandern, dann…“ Er drehte seinen Kopf von Fritz weg und blickte düster drein. Fritz wusste sofort was er meinte.
„Was, wenn es aber doch keinen Krieg gibt? Willst du dann immer noch weg?“, rutschte es aus Fritz heraus.
Peter schüttelte nur den Kopf. „Auch dann, du siehst doch was die mit anderen Leuten machen, die nicht auf ihrer Seite stehen. Ich kann dabei nicht mehr zusehen.“
Peter setzte sich auf, winkelte seine Knie an und legte sein Kinn darauf – er blickte nachdenklicher drein als je zuvor. „Was wäre dir lieber? Zu wissen, dass ich in Freiheit lebe und glücklich wäre – oder wenn ich tot wäre?“
„Natürlich ersteres“, gab Fritz kleinlaut zu, „nur: was wird aus mir? Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll!“
„Dein Leben leben“, antwortete ihm Peter und blickte ihn so liebevoll an, wie es in dieser Situation nur möglich war. „So gut es hier halt möglich ist…“
„Aber noch steht ja alles in den Sternen. So blöd ich die HJ finde – aber ich freue mich sogar auf das Zeltlager, weil ich dich dann fünf Tage rund um die Uhr um mich habe.“ Er drückte Fritz, der noch immer traurig ins Leere starrte, einen Kuss auf die Wange lief ein paar Schritte durch das seichte Wasser und sprang kopfüber in den See. Fritz schluckte, atmete tief durch – und folgte ihm nach kurzem Zögern.
Eben jenes Zeltlager war an diesem Abend Hauptgesprächspunkt beim HJ-Treffen im Volksheim. Wer mit wem im Zelt schlafen sollte wurde zuerst beschlossen und da sich Fritz ja um den miserablen Schützen Kakoschke kümmern sollte, hatte er Lutz bereits vor offiziellem Beginn des Treffens gebeten, ihn doch mit Peter in einem Zelt unterzubringen. Lutz hatte nichts dagegen und stimmte dem Antrag Fritz´ zu.
Ferner wurde penibel genau bekannt gegeben, welche Kleidungsstücke einzupacken waren, dass man auf sein Feldgeschirr aufzupassen hatte und das man nicht zum reinen Vergnügen in die Pfalz aufbrach. Disziplin, Ausdauer, Kraft- und Schusstraining standen am Ablaufplan ganz oben auf der Liste.
„Also dann, Männer“, beendete Lutz das Treffen. „Nächsten Mittwoch, 7.00 Uhr früh am Bahnhof Zoo. Wer zu spät kommt ist nicht dabei und kann damit rechnen, dass ihm nach der Rückkunft der Arsch aufgerissen wird. Wer sein Gepäck nicht ordentlich zusammen hat, schiebt die kompletten fünf Tage Küchendienst. Also dann, Heil Hitler!“
„Heil Hitler!“
Die Tage bis zu Abreise vergingen wie im Flug und am Abend davor, saßen die Lenkes wie üblich beim Abendessen beisammen. Als Fritz nach dem Essen in seine Kammer wollte, bat ihn sein Vater, noch etwas sitzenzubleiben.
Fritz war etwas erstaunt darüber, denn seit jenem Vorfall im Hinterhof hatte sein Vater kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Er öffnete ihm eine Flasche Bier und bot Fritz eine von seinen Zigaretten an, ehe er sich selbst eine ansteckte. Gekonnt blies er den Rauch aus, mit dem er kleine Ringe bildete – Fritz saß ihm gegenüber und wartete darauf, was ihm sein Vater sagen wollte.
„Sohn, ich weiß dir tut es Leid was du gesagt hast und mir tut es genauso Leid. Lass uns diesen blöden Streit vergessen und zusammen die Friedenspfeife rauchen!“, sagte er und man merkte ihm an, wie erleichtert er nach diesen Worten war. Fritz war erstaunt, denn die Worte die da aus dem Mund seines Vaters nach außen drangen klangen für seine Verhältnisse ja geradezu poetisch. Fritz musste lächeln: Sein Vater war alles in allem kein schlechter Mensch, ein Mann der seine Familie liebte, der – und auch daran dachte Fritz in diesem Moment – leider nur verblendet war von den Ideologien einer menschenverachtenden Partei, so wie Millionen andere Menschen in diesem Land. Auch dessen war sich Fritz bewusst, aber er akzeptierte das Friedensangebot seines Vaters und hielt ihm die Hand entgegen, die dieser – fast gerührt – ergriff.
Danach rauchte man und trank ein paar Bier – mehr Worte waren nicht notwendig und auch gar nicht üblich in einer deutschen Arbeiterfamilie in den 30er Jahren. Doch eines hatte ihm sein Vater an diesem Abend auch ohne viele Worte gezeigt: Dass er seinen Sohn respektierte, auch wenn er ihn gar nicht richtig kannte. Und das wusste er wahrscheinlich auch, der Veteran des 1.Weltkrieges.
Am nächsten Morgen war die komplette Familie sehr früh auf den Beinen, um mit Fritz zu frühstücken, ehe ihn sein Vater zum Bahnhof bringen sollte – auch Max wollte unbedingt mit. Seitdem er vom Geheimnis seines größeren Bruders wusste, wirkte er mit einem Schlag reifer und erwachsener als er es zuvor tat – man sah ihm an, wie sehr er sich um Fritz sorgte, auch wenn er dachte, man sähe es nicht.
Fritz konnte mit dem ganzen Rummel nichts anfangen – schließlich war er doch nur 5 Tage weg, was solle da schon großartig passieren? Auch wenn er dann doch etwas nervös war, denn so einfach und selbstverständlich war das Verreisen zu dieser Zeit auch nicht, noch dazu, da es von Berlin bis in den tiefen Südwesten des Deutschen Reiches ging und man immerhin 10 Stunden unterwegs war. Er verabschiedete sich von seinen Schwestern und seiner Mutter, ehe er neben seinem Vater im Auto Platz nahm, dass sich dieser vom dicken Ulf ausgeborgt hatte – selber hatte man ja kein Auto.
Am Bahnhof herrschte bereits reger Betrieb und dem üblichen fahrplanmäßigen Zug waren ganze 6 zusätzliche Waggons angehängt worden, einer davon war alleine für die Verpflegung für die nächsten fünf Tage bestimmt. Bevor die Gruppe in den Zug stieg, wurde noch das Deutschland-Lied gesungen, ehe es losgehen sollte. Max fiel seinem Bruder noch um den Hals, was Herr Lenke irgendwie peinlich war. Er wollte ihn wegziehen, doch Max ließ sich nicht davon abbringen. Umarmungen zwischen Jungs waren absolut unüblich, selbst wenn sie unter Brüdern stattfanden. Beim Saufen oder Wandern den Arm um die Schulter des anderen zu legen, das war gestattet – mehr allerdings nicht. Kurz zuvor war Fritz der ganze Wirbel um seinen `Abschied´ noch ziemlich auf die Nerven gegangen, doch nun, als sein Bruder in seinen Armen lag, spürte er – gerade zu ihm – eine tiefe Bindung und tiefe Anerkennung für die Akzeptanz, die ihm dieser entgegenbrachte. Sechs Jahre später sollte dieser kleine Junge in seinen Armen nicht mehr am Leben sein – Max fiel in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges im Kampf um Berlin für ein Deutschland, dass seine Kindheit verachtete, sie ihm austrieb, ihn stumpf für alles Liebens- und Lebenswerte machte.
Der Schaffner pfiff und der Zug begann bereits leicht zu rollen, als Fritz praktisch auf den letzten Drücker noch ins Innere hüpfte und sich den Weg zu seinem Abteil freidrängte. Im gesamten Gang standen seine Kameraden von der HJ herum, die entweder ihren Familien oder ihren Freundinnen zum Abschied zuwinkten. Endlich hatte er das Abteil gefunden, indem ihm Peter bereits einen Platz freihielt.
Der Zug dampfte und kroch dahin und die meisten Jungs im 6er Abteil drückten noch einmal die Augen zu, um ein wenig zu schlafen. Fritz und Peter saßen nebeneinander und da alle schliefen, drückte Peter Fritz’ Hand einige Male, um ihm seine Zuneigung auszudrücken.
Um die Mittagszeit hielt man nach einer ruhigen und ereignislosen Fahrt in Köln, wo man eine Stunde Pause hatte, die Peter und Fritz dazu nutzten, den Dom zu besuchen – anschließend gab es ein gemeinsames Mittagessen im Bahnhofsrestaurant, ehe es weiter nach Hunsrück gehen sollte. Nun wurde es laut im Abteil und da es sich größtenteils um hormongesteuerte 16-jährige handelte, drehte sich bald alles nur mehr um ein Thema: Mädchen!
„Gott sei Dank hat’s mir meine Kleine gestern noch mal ordentlich gemacht – fünf Tage sind ja ansonsten schwer auszuhalten“, meinte etwa Bernd, der am Fenster saß und bei dem Fritz ernsthaft bezweifelte, ob er schon jemals Kontakt zu einem Mädchen hatte – bei den Pickeln, die sein dickes Gesicht verunzierten.
„Meine Kleine hat Glück, dass sie so einen wie mich hat. Vor mir hatte sie so einen Schlappschwanz, der ihr es nicht machen wollte. Nicht wahr, Fritz?“, meldete sich Martin zu Wort, Lenas neuer Freund. Er blickte Fritz herablassend an und ohne eine Antwort abzuwarten setzte er fort: „Naja, ist wahrscheinlich besser, ich glaub nicht, dass du sie gebändigt hättest. Ich bin ja schon manchmal überfordert wenn sie loslegt und das mag was heißen. Hast du eine andere?“
„Nein!“, antwortete Fritz kleinlaut.
„Naja, wichsen soll ja auch recht schön sein hab ich gehört, aber bumsen ist mir da eindeutig lieber!“
„Was für ein Großmaul“, dachte sich Fritz zornig. „Wahrscheinlich reißt er nur deswegen sein Maul so groß auf, weil er sich Lutz’ Schwester geangelt hat.“
„Und, was ist mit dir Zigeuner? Schon gefickt?“, wollte er jetzt von Peter wissen, der ihn sofort wütend anblickte.
„Hey, friss mich nicht auf Zigeuner!“, machte Martin eine abwehrende Handbewegung.
„Nenn ihn nicht Zigeuner, du Arsch“, mischte sich Fritz ein und Sekunden später entstand ein Handgemenge, an dem alle sechs beteiligt waren. Da es sehr eng im Abteil war, wusste bald niemand mehr, wer eigentlich gerade gegen wen kämpfte. Das letzte Wort hatte dann aber doch Fritz, der Martin im Schwitzkasten hielt – ohne Aussicht auf Befreiung.
„Los, entschuldige dich bei ihm!“, drohte er Martin und drückte noch etwas kräftiger zusammen.
„Hey, lass gut sein. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Na gut, Entschuldigung!“, keuchte er um Hilfe, ehe ihn Fritz dann doch ausließ.
Danach kehrte wieder etwas Ruhe ein. Die zwei anderen Jungs, die sich bislang wenig eingemischt hatten, Holger und Dieter, luden Fritz und Peter zu einem Kartenspiel ein, während sich Bernd und Martin leise unterhielten und wohl irgendwelche mitgebrachten Pornobildchen begutachteten. Zumindest konnte Fritz auf einem einen Frauenbusen erspähen, als er kurz in ihre Richtung blickte.
Kurz nach fünf kamen sie dann endlich in Hunsrück in der Pfalz an, wo sie noch eine Weile marschieren mussten, ehe sie den Zeltplatz erreichten. Die Gruppe hatte Glück, dass am Vormittag erst eine Gruppe aus Hannover abgereist war und die Zelte aufgebaut zurückgelassen hatten – so mussten sie sich wenigstens nicht mit Zeltstangen und –planen abmühen und konnten gleich die jeweiligen Zelte beziehen.
Fritz und Peter waren wie gesagt im selben Zelt untergebracht und Fritz heftete sich an Peters Fersen, um ja den Schlafplatz neben ihm zu bekommen. So nahe wie in den nächsten Tagen würde er ihm sonst wahrscheinlich nie wieder sein – das wollte er ausnutzen. Neben Peter und Fritz waren acht weitere Kameraden im Zelt untergebracht. Die Betreuer – mit Lutz waren es insgesamt fünf – waren in einem Steingebäude ungefähr 200 Meter vom Zeltplatz entfernt einquartiert. „Wenn das nicht Raum für nächtliche Abenteuer geben sollte“, dachte sich Fritz amüsiert, „wenn die besoffen sind, sind sie sicher zu faul um sich zu den Zelten herüber zu schleppen.“
Nach einer kurzen Adjustierung des Schlafplatzes hieß es auch schon auf einer großen Wiese – die die Zeltreihen in zwei Teile begrenzte – Aufstellung nehmen.
„Also“, schrie Lutz, um sich auch bei allen Gehör zu verschaffen, „so sieht das Programm für den Rest des Tages aus. Wir teilen euch jetzt in zwei Gruppen ein und veranstalten einen Ringkampf im Ausscheidungsverfahren. Wer verloren hat ist draußen – alles was ihr braucht ist eine Sporthose, Hemd ist nicht erlaubt. Gegen acht werden sich dann zwei Leute um Feuerholz kümmern, es gibt ein Lagerfeuer und wir werden unser Deutsches Reich mit angebrachtem Liedgut würdigen!“
„Man, redet der geschwollen!“, meinte Peter, wohl leider eine Spur zu laut, denn zu seinem Unbehagen hatte er Lutz’ Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
„Wie war das? Kakoschke – dein erster Gegner werde ich sein. In fünf Minuten seid ihr umgezogen. Abtreten!“, brüllte er.
„Gut gemacht“, meinte Fritz zu Peter, während sich beide für den Ringkampf um- beziehungsweise auszogen.
„Ach, was soll’s. Gewonnen hätte ich sowieso nicht“, zwinkerte er Fritz zu und schlüpfte aus seinem Hemd. Eigentlich wollte ihm Fritz böse sein, doch als er seinen wohlgeformten, gebräunten Oberkörper sah, wurde ihm ganz warm ums Herz.
„Hey, verscherze es dir einfach nicht mit Lutz, einverstanden? Wer weiß, was dem sonst alles an Strafarbeiten für dich einfällt!“
„Schon gut, mach dir keine Sorgen. Oh und danke für deine Unterstützung im Zug – das hat dem Zigeuner sehr gefallen“, meinte er noch in äußerst sarkastischem Tonfall.
Fritz war etwas zu mulmig zu Mute – war es weil er von zu Hause weg war oder resignierte er vor den Nazis? Warum zum Teufel war Peter nur so locker drauf – einerseits gefiel es ihm zwar, andererseits beunruhigte es ihn. Wusste er etwa schon Bescheid über seine mögliche Auswanderung? Fritz beschloss, ihn gleich beim Abendessen zu fragen, vergaß es dann aber kurz darauf.
Wie vorhergesehen, hatte Peter gegen Lutz nicht den Funken einer Chance – Lutz warf ihn regelrecht durch den, mit den Hemden der Jungs ausgelegten Ringkreis, ehe er ihn aus diesem hinausdrückte. Peter ging krachend zu Boden und man konnte sehen, dass es ihm Schmerzen bereitete.
„Und wenn du noch einmal dein Maul aufreißt, dann kämpfen wir gleich nochmals. Verstanden, Zigeuner? Fünfmal um den Zeltplatz, aber dalli!“, brüllte er ihn an und der sichtlich eingeschüchterte Peter machte sich sofort daran, dem Befehl Folge zu leisten.
„Aha“, dachte er sich als er seine Runden antrat, „Martin hat dieses Wort also schon von Lutz übernommen. Feige Bande – aber bald, bald bin ich weg. Dann können die mich alle mal“, sinnierte er wütend. Als er die letzte Runde zu Ende brachte, sah er gerade wie Fritz siegreich aus dem Ring stieg und von allen frenetisch angefeuert wurde. Zu Peters Unbehagen schien Fritz dies zu genießen, doch als dieser in Peters Richtung blickte, ließ er seine Fäuste sinken und blickte wieder nachdenklich drein, so als ob er zu erkennen schien, was ihm Peters Miene sagen wollte: Für die gewinne ich sicher nicht!
Dennoch schaffte er es bis ins Finale, wo er – erraten – gegen Lutz antreten musste. Ein ziemlich ungleiches Duell, denn Lutz war immerhin drei Jahre älter als der, noch dazu um einen guten Kopf kleinere, Fritz.
„Na, mal sehen, ob da meiner Schwester wirklich so ein Teufelskerl entging. Los, greif mich an“, versuchte er Fritz zu provozieren. Fritz wusste nicht so recht wie er handeln sollte. Sollte er gewinnen, würde er einerseits Peter rächen, andererseits aber auf gewisse Weise zu deren Machtinstrument werden. Er entschied sich dafür, gewinnen zu wollen und lieferte Lutz in der Folge einen erbitterten Kampf, der beiden alles abverlangte. Fast hätte Fritz auch gewonnen, doch im letzten Moment konnte sich Lutz aus der Umklammerung befreien und im Gegenzug Fritz entscheidend zu Boden drücken.
„Guter Kampf!“, meinte Lutz keuchend in seine Richtung und grinste ihn an. Wieder war Fritz beunruhigt: Wusste Lutz etwas von Lena oder Martin? Warum hatte er Peter so dermaßen abmontiert und was sollte eben dieser diabolische Grinser?
„Danke, auch gut gekämpft. Bitte um Erlaubnis, mit dem Kameraden Kakoschke Feuerholz besorgen zu dürfen!“, rief er in aufrechter Haltung.
Kurz zuckte Lutz – der immer noch keuchte wie ein altes Dampfross – mit den Mundwinkeln, ehe er ihm mit einer abfälligen Handbewegung zu deuten schien, er möge doch jener Bitte verdammt nochmal nachgehen.
Wenig später waren Fritz und Peter auch schon im Wald verschwunden, wo sie nach größeren Zweigen und Ästen suchten. Endlich waren sie alleine und schon nach wenigen hundert Meter war nichts mehr vom Lärm der anderen zu hören.
„Was ist los mit dir?“, fragte Fritz schließlich vorsichtig, aber doch mit einem gewissen Nachdruck.
„Was meinst du?“
„Versteh mich nicht falsch, du hast mich überzeugt, dass es gut ist, seinen eigenen Kopf durchzusetzen. Aber wenn du es so offensichtlich machst, handelst du dir doch nur Probleme ein!“
„Ach, was können sie mir schon tun?“
„Na zum Beispiel dich zusammenschlagen. Dieser Martin, toll das der jetzt mit Lutz’ Schwester zusammen ist – die beiden geben ja ein sehr sympathisches Duo ab, vor allem wenn es darum geht, dich zu provozieren!“, wurde Fritz laut.
„Schon gut, beruhige dich. Es steht dir gar nicht, wenn dein hübsches Gesicht rot anläuft!“, versuchte ihn Peter zu beruhigen und strich ihm mit dem Handrücken über seine Wange.
In jedem anderen Moment hätte Fritz diese Liebkosung gerne in Kauf genommen, doch irgendwie war er wütend auf Peter – also griff er nach der Hand und drückte sie weg.
Peter stieß einen leisen Seufzer aus und setzte sich auf einen neben ihnen liegenden Baumstamm. Er verwinkelte seine Arme auf seinen Knien, um seinen Kopf darauf zu betten, so wie er es immer machte, wenn er über irgendetwas nachdachte.
„Entschuldigung! Ich weiß, dass du dir ja nur Sorgen um mich machst. Aber was können sie schon wirklich tun? Mich zusammenschlagen – gut, sollen sie, es wird mich nicht töten! Aber vielleicht hast du ja Recht und ich sollte deren Regeln nicht so offensichtlich ablehnen“, meinte er leise und streckte Fritz seine rechte Hand zur Entschuldigung entgegen.
Als Fritz sie ergriff, zog Peter fest daran und beide purzelten über den Baumstamm in die hinter ihnen liegende Wiese. Ganz nah lagen sie nun beieinander und jeder konnte den heißen Atem des anderen in seinem Gesicht spüren. Fritz blickte Peter tief in die Augen, während sein Herz bis zum Hals schlug. Selbst Peter musste es hören können. Peter berührte abermals Fritz’ Gesicht und dieses Mal ließ ihn Fritz gewähren. Sanft strich Peters Hand sein Gesicht auf und ab, ehe es ihm Fritz gleichtat. Langsam, ganz langsam kamen sich beide Gesichter näher und wenig später vereinigten sich ihre Lippen zu einem langen, zärtlichen Kuss. Obwohl das Gras unter ihnen leicht feucht war, erlagen beide der Hitze des Kusses und gerne wären beide weitergegangen, hätten sie da nicht entfernt die Stimmen der anderen gehört, die sie jäh aus ihrer Trunkenheit füreinander riss.
„Lass uns gehen“, seufzte Fritz. „Wir kommen schon noch dazu!“ Er half Peter auf die Beine, sie schüttelten sich den Schmutz ab, griffen nach ein paar Ästen und huschten fast unbemerkt ins Lager zurück.
Zum Abendessen wurde über einem Lagerfeuer ein riesiger Kessel Gulasch zubereitet, von dem die meisten so viel verschlangen, als hätten sie Monate nichts zu essen bekommen. Danach saß man noch bis Mitternacht am Feuer zusammen, um deutsches Liedgut zum Besten zu geben, in erster Linie aber, um den Führer zu huldigen.
Fritz liebte das flackernde Feuer und er ließ seine Blicke durch die Runde wandern. Er sah wieder den dicken Bernd, der später in Russland fallen sollte. Holger und Dieter, die netten Jungs mit denen sie im Zug Karten spielten: Beide starben in der Normandie, am Tag der Landung der Alliierten. Gunnar, der eigentlich aus Schleswig-Holstein kam: Er drehte bei der Schlacht in Stalingrad durch, blieb zurück und erfror im Schnee Russlands, 3000 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt. Er sah sich alle Gesichter an, wie sie da saßen und sangen – und eigentlich nicht mal wussten wofür. Sein Blick stoppte bei Peter, der ruhig da saß, ins Feuer blickte und die Lippen langsam auf und ab bewegte, so als würde er wirklich mitsingen. Eine unheimliche Melancholie ergriff plötzlich Besitz von Fritz und in diesem Augenblick empfand er eine mörderische Todesangst, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Er fürchtete um sein Leben und um das Leben seines Freundes – und konnte es sich nicht erklären, im Angesicht seiner fröhlich singenden Kameraden, in deren Gesichtern nicht nur das Feuer, sondern auch eine unerklärbare Euphorie glänzte.
Gegen Mitternacht wurde es dann schließlich ruhig und die Jungs verschwanden in ihren Zelten, wo sie sich in den Schlafsäcken verkrochen. Fritz lag auf dem Rücken und stierte in die Dunkelheit, die sich ins Zelt geschlichen hatte wie eine Katze: unbemerkt und leise. Er spürte genau, dass ihn Peter von der Seite anblickte, doch seine Angst war nach wie vor dermaßen groß, dass er es nicht mal wagte, sich in seine Richtung zu drehen.
„Gute Nacht, Fritz!“, wisperte er.
„Gute Nacht, Peter!“, antwortete Fritz leise, unbewegt daliegend. Peter seufzte – wohl aus Enttäuschung – drehte sich zur Seite und wenig später konnte man bereits ruhige, rhythmische Schlafgeräusche aus seiner Richtung vernehmen. Fritz hatte wieder einmal die Schlaflosigkeit gepackt – was aber auch kein Wunder war: Ständig hörte er aus irgendwelchen Ecken Gemurmel und Gekichere. Unter einigen Schlafsäcken wurden Taschenlampen angeknipst und im Schatten, die diese warfen, waren bald eindeutige Bewegungen erkennbar – Peter hatte also recht: Alle tun es. Und da er eben auch nur ein hormonell aus dem Gleichgewicht gebrachter Jugendlicher war, wich die Angst der Lust und er begann ebenfalls zu wichsen. Nur mühevoll konnte er das Stöhnen unterdrücken, als es ihm kam, ehe er dann doch einschlief.
Als Fritz erwachte, war es bereits hell. Kurz zuckte er zusammen, als er bemerkte, dass der Platz neben ihm leer war. Doch da auch andere Jungs bereits aus ihren Schlafsäcken gekrochen waren, kam ihm die Erkenntnis, dass sie sich wohl grad der Morgenpflege unterzogen, was auch in seinem Fall keine schlechte Idee war: Er wechselte seine Unterhose und kroch ebenfalls ins Freie, wo für die Jungs ein großer Bottich mit eiskaltem Wasser bereitgestellt wurde und an dem sich einige bereits – unter anderem auch Peter – gütlich taten. Lauter Jungs, nur in Unterhosen bekleidet – dieser Anblick und das kalte Wasser bewirkten den sofortigen Wachzustand Fritz’ und das, obwohl es erst kurz nach halb sechs Uhr morgens war.
Um Punkt sechs hatte man wieder Aufstellung zu nehmen, um die Instruktionen des folgenden Tages entgegenzunehmen. Nach dem Frühstück und dem Morgensport sollte es einen 20 Kilometer langen Ausdauermarsch durch den Wald geben, ausgestattet mit 25 Kilo Rückengepäck. Fritz konnte nur leise ein Kichern unterdrücken: Das Gesicht des dicken Bernds sprach Bände darüber, was er von diesem Marsch hielt.
Nach dem Mittagessen sollte ein Schusstraining folgen, ehe für den Abend eine Art Schatzsuche im Wald organisiert werden sollte. Einige konnten sich jetzt das Kichern nicht verkneifen – eine Schatzsuche, wie kindisch!
„Guten Morgen“, sagte Peter freundlich und setzte sich mit seinem Teebecher und seinem Stück Brot neben Fritz, der ebenfalls schon dabei war, sein Brot hastig runter zu würgen.
„Hey, kauen! Sonst spielt dein Magen verrückt, wäre nicht gut, angesichts der anstehenden 20 Kilometer!“
Als Fritz sah, wie fein Peter sein Brot zerteilte, dass er anschließend wie ein Sperling aß, musste er lachen und verschluckte sich an seiner Milch.
„Siehst du?“, meinte Peter mahnend ehe er ihm mit der Faust in den Rücken trommelte um Fritz’ Husten zu stoppen. Er schenkte ihm ein liebes Lächeln, war zufrieden dass sein Husten aufgehört hatte und widmete sich wieder seinem Frühstück.
Nach dem Morgensport – wo man sich gegenseitig riesige Medizinbälle zuwarf – machte man sich schließlich auf den langen Marsch durch den Wald.
„Du bist ja schnell eingepennt gestern“, meinte Fritz nach wenigen Metern.
„Ja, weil ich dachte, dass du auch schon schlafen würdest. Irgendwie hast du gestern Abend einen merkwürdigen Eindruck auf mich gemacht. War alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, alles bestens!“, log Fritz gekonnt, er wollte Peter, der an diesem Morgen so gut drauf war, nicht beunruhigen.
„Und, du wirst eines Tages den Laden deines Vaters übernehmen?“
„Ja, das wird wohl so sein. Da gibt’s keine großen Diskussionen. Und was hast du vor – ich meine, nach dem Abitur?“
„Ach, mal schauen. Vielleicht trete ich ja auch in die Fußstapfen meines Vaters und werde Lehrer. Aber es gibt sicher genügend Möglichkeiten in…“
„In Amerika“, vervollständigte ihn Fritz und lächelte, wiederum, um seinen Freund nicht zu enttäuschen.
„Vielleicht kannst du ja nachkommen, wenn du genug Geld zusammen hast“, leuchteten Peters Augen.
„Das wär’ was: Fritz Lenke go to America!“
„Goes. Es heißt `goes´“, verbesserte ihn Peter.
„Ah, ganz der Oberlehrer“, kniff ihm Fritz in den Oberarm. Beide blieben kurz stehen, blickten einander an und mussten kurz lachen, ehe sie ihren Weg hinter den anderen fortsetzten.
Plötzlich kam der gesamte Tross zum Stillstand – keiner wusste warum, doch schon bald nahte Aufklärung. Lutz stauchte einen der Betreuer lauthals zusammen.
„Sie blöder Idiot. Kann nicht mal Karten lesen, der Hundesohn.“ Dabei schlug er dem von ihm Ausgebeutelten mit der zusammen gelegten Karte ein paar Mal auf den Kopf.
„Aha, wir haben uns verirrt“, flüsterte Peter, dieses Mal leise und nur für Fritz hörbar und runzelte die Mundwinkel zu einem mitleidigen Grinsen, denn Lutz tat ihm in dem Moment fast schon wieder leid – er stand da wie der letzte Volltrottel.
„Kompanie, kehrt! Rückzug!“, brüllte Lutz durch den Wald und als man ins Lager zurückkam, hatte man nicht einmal ein Viertel der gesamten Strecke absolviert. Und darüber war nicht nur der dicke Bernd glücklich.
Die Schießübungen am Nachmittag fanden zu Peters und Lutz’ Erleichterung auf Holzscheiben statt – Peter gab sein Bestes und traf sogar einige Male. Dafür ließ sich Fritz dieses Mal ein bisschen gehen. Als ihn Lutz deswegen später anfuhr, meinte er nur, ein paar Waldameisen hätten ihn gebissen und somit irritiert.
Schließlich kam der Abend, die große Schatzsuche stand an, bei der die Jungs in zwei Gruppen getrennt wurden. Ziel war es eine alte Blechkiste mit Hilfe von Orientierungsmerkmalen zu finden – dabei war es erlaubt, die Mitglieder der anderen Gruppe `auszuschalten´ indem man sie an einen Baum binden durfte, oder ihr Gesicht mit Dreck zu beschmieren. Wurde jemand an den Baum gebunden, mussten ihn seine Kameraden befreien – was einen erheblichen Zeitverlust mit sich brachte. Bekam jemand eine Ladung Dreck ins Gesicht, musste er unverzüglich ins Lager zurück und war ausgeschieden.
Fritz kam in die blaue Mannschaft, Peter in die rote. Beide Gruppen wurden an unterschiedlichen Punkten freigelassen, um die Spannung etwas zu erhöhen. Die Schatzsuche rückte schon bald in den Hintergrund, als die wildesten Kämpfe entstanden und mit Dreck nur so um sich geworfen wurde. Fritz konnte jedes Mal gekonnt ausweichen. Da er ein gut trainierter Läufer war, entkam er immer wieder den Drecklawinen, allerdings zu dem Preis, dass er bald von seiner Gruppe getrennt wurde und sich heillos verirrte. Immer tiefer gelangte er in den Wald – keine Spur mehr von roten oder blauen Markierungen an den Bäumen. Zunächst genoss er die Ruhe und summte ein Lied vor sich hin, doch als es langsam dunkel wurde, kroch etwas die Angst in ihm hoch. Nicht, dass er sich wirklich gefürchtet hätte – wer sollte schon sonst im Wald unterwegs sein – aber so ganz ohne Orientierung kam er sich dann doch etwas hilflos vor. Er machte kehrt und stapfte kreuz und quer durch den Wald, ungefähr in die Richtung, aus der er zuvor gekommen war. Er hörte nichts, außer einem kleinen Waldkäuzchen, das sich hie und da bemerkbar machte.
„Hallo“, rief er mit lauter und klarer Stimme. Nichts regte sich – kein Hauch Wind, selbst das Waldkäuzchen hatte seine Beschwerden aufgegeben und war verstummt. Es war mittlerweile stockdunkel geworden. Hatten sie ihn vergessen?
„Hallo!“ Fast wäre er über eine Wurzel gestolpert. Da, was war das? Ein Knacksen im Gebüsch, gibt es in der Pfalz Wildsäue, gar Bären?
„Hallo!“, schrie er noch eine Spur lauter als zuvor, ohne Hoffnung auch gehört zu werden.
„Hallo?“
War es sein Echo oder war das tatsächlich eine Antwort auf sein Rufen?
Da war es wieder. „Hallo, ich bin hier!“ Fritz begann zu laufen und die Stimme kam in der Dunkelheit näher und ja, die Stimme kam ihm auch sehr vertraut vor.
Er hatte Recht. Es war Peter, angebunden an eine dicke Eiche, zurückgelassen von den anderen.
„Sie haben mich nicht befreit! Gut, dass du hier bist“, stammelte er Fritz entgegen, der bemerkte, dass Peter jämmerlich fror.
„Diese Schweine können was erleben“, grummelte Fritz und machte sich sofort daran, Peter loszubinden. Danach standen sich beide in der Dunkelheit gegenüber.
„Du frierst ja gotterbärmlich!“, flüsterte Fritz. „Komm ich wärme dich auf!“
Er nahm ihn in seine Arme und rieb ihn so fest wie möglich. Zunächst stand Peter einfach nur da – ihm wurde augenblicklich warm, als er Fritz’ Körper an seinem spürte. Dann fing auch er an, Fritz’ Körper zu reiben. Immer heftiger. Die Furcht vor der Dunkelheit und vor der Einsamkeit außer Acht lassend, wälzten sie sich augenblicklich später am Boden, sich gegenseitig mit Küssen bedeckend. Beide waren in dem Moment so wild aufeinander, dass es von einem fremden Betrachter wohl wie ein Ringkampf ausgesehen haben müsste. Aber sie waren allein und ungestört – eine Situation die keiner der beiden in diesem Moment ungenützt lassen wollte. Die Küsse wurden immer leidenschaftlicher – Fritz spürte Peters Hände überall auf seinem Oberkörper, während er mit seinen langsam unter Peters kurzer Hose seine Oberschenkel hinaufglitt. Beide schnauften wie wild und vergruben sich regelrecht in einander.
„Ich liebe dich, ich liebe dich“, keuchte Peter und presste seine Lenden gegen die von Fritz, wie ein Stromschlag durchzuckte es ihn, als er Fritz’ hartes Glied durch die Hose hindurch auf seinem ebenfalls stahlharten Penis spüren konnte.
Keiner der beiden bemerkte den Lichtkegel, der mittlerweile auf sie gerichtet wurde. Gerade als Fritz Peter in den Schritt greifen wollte, irritierte ihn dann doch etwas, dass eigentlich gar nicht da sein durfte: der Schein einer Taschenlampe!
Jemand, nicht zu erkennen wer, räusperte sich und sprach: „Na, dann kommt mal mit zurück!“
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